»Unsinn!« verteidigte sich der Kapitan. »Ich bringe uns durch. Die Segel sind fast alle gesetzt.«

Tatsachlich wurde die Fahrt der ALBANY immer schneller. Sie rollte nicht mehr von einer Seite zur anderen, sondern rauschte fast ruhig und stolz durch die mehr und mehr aufgewuhlten Wellen.

Es war nur noch eine Frage von Minuten, bis ein regelrechter Sturmwind uber den Pazifik blasen wurde. Genau darauf setzte Piet Hansen.

Und dann war es soweit. Die ALBANY flog unter voller Betakelung zwischen den beiden Schrauben-Fregatten hindurch.

Die Menschen an Bord des Seglers hielten den Atem an. Die Kriegsschiffe waren so verdammt nah, da? jede Menge Einzelheiten erkennbar waren. Die Masten der US-Schiffe, die noch aus ihrer Zeit als Kauffahrer stammten. Jetzt diente die Takelage als blo?e Hilfe fur die hohen Schornsteine, die bei der Umrustung zu Schraubendampfern auf den Schiffen angebracht worden waren.

Die Flagge der Union, die in scheinbarer Siegesgewi?heit an den Schiffen flatterte.

Die Manner an Bord. Ihre blauwei?en Uniformen. Die teilweise bartigen Gesichter. Sogar die ungewohnlich weiten Aufschlage der blauen Hosen bei den Mannern, die in den Wanten hingen.

Die Namen der Schiffe. Die Bark war die U.S.S. RELIANCE, die Brigg die U.S.S. HORNET.

Und das bedrohliche Schimmern der Geschutzrohre, die uber die Schiffe hinausragten und zur ALBANY heruberblickten. Dahinter standen die Bedienungen teils mit den Abrei?leinen in den Handen, bereit, auf Kommando die Breitseiten abzufeuern. Die Menschen an Bord der ALBANY zahlten die Kanonen an den ihnen zugewandten Seiten der Kriegsschiffe: vier bei der Brigg und sechs bei der Bark.

Die Augen der Manner und Frauen auf dem Segler klebten geradezu an den Kanonenrohren. Sie warteten auf die Flammenzungen, den Rauch, den ohrenbetaubenden Donner und die todlichen Einschlage.

Aber nichts geschah. Piet Hansens Rechnung schien aufzugehen. Nur noch das Heck der ALBANY befand sich zwischen den Kriegsschiffen, glitt zwischen ihnen hindurch... Dann brach der Donner los!

Die Menschen schrien und sturzten erneut durcheinander. Letzteres wurde diesmal nicht durch ein gewagtes Manover von Hansen verursacht, sondern war eine Folge der panischen Furcht. Die Menschen suchten trugerische Deckung hinter Aufbauten, Masten und Rettungsbootsdavits.

»Es ist der Raddampfer!« rief Georg Moller und zeigte schrag nach achtern, zur Steuerbordseite.

Dort schaufelte sich das gro?te der drei Kriegsschiffe unter einer dichten Wolke grauen Rauches auf den fliehenden Segler zu. Aus den geoffneten Stuckpforten an Backbord lugten die Mundungen der gro?en Geschutze, insgesamt zehn. Das Kriegsschiff war nah genug, da? die Leute auf der ALBANY seinen Namen lesen konnten: U.S.S. GENERAL STEUBEN.

Der Kapitan der GENERAL STEUBEN wollte der ALBANY offensichtlich den Weg abschneiden. Deshalb rauschte er so dicht an der RELIANCE vorbei, da? die Schrauben-Fregatte in heftiges Schlingern geriet.

Aber die GENERAL STEUBEN hatte ihre machtigen Geschutze einige Sekunden zu fruh abgefeuert. Sie rissen nicht den Rumpf des Seglers auf, sondern nur die See vor ihm. Der Pazifik verschluckte die schweren Geschosse anstandslos. Dann rauschte der unter voller Betakelung stehende Dreimaster auch schon daruber hinweg.

Noch trauten sich die Menschen an Bord der ALBANY nur wenig aus der Deckung. Die Nahe des gro?en Seitenraddampfers, der im spitzen Winkel auf den Segler zuscho?, wirkte zu bedrohlich.

Doch endlich stellte sich heraus, da? der Kapitan der GENERAL STEUBEN einen Winkel gewahlt hatte, der nicht spitz genug war. Kapitan Hansens Bark zeigte dem Kriegsschiff ihr rasch kleiner werdendes Heck, als der Dampfer ihr Fahrwasser kreuzte.

Die GENERAL STEUBEN wollte nicht aufgeben und feuerte ihre Steuerbord-Batterie ab. Aber diesmal hatte sie zu lange gezogert. Die Geschosse flogen am Heck des davonjagenden Segelschiffes vorbei und spritzten ins Wasser.

»Zum Gluck sind die Kanoniere der GENERAL STEUBEN nicht besser als der Kapitan des Dampfers«, atmete Piet Hansen mit einem Blick uber die Schulter erleichtert auf. »Ich schatze, das Schlimmste haben wir hinter uns.«

»Woher die Zuversicht?« fragte ein skeptischer Arnold Schelp. »Wir haben nur unsere Segel, die anderen Segel und den Dampfantrieb!«

»Der Nachteil dieser Kombination ist, da? sich die meisten Kapitane zu sehr auf ihre Schrauben und Schaufelrader verlassen. Sie konnen mit der Takelage nicht mehr richtig umgehen. Au?erdem macht die ALBANY eine Hollengeschwindigkeit, und der Wind wird immer sturmischer.«

»Vielleicht zu sturmisch fur unsere volle Betakelung«, wandte Moller ein.

»Wir mussen es riskieren«, brummte Hansen. »Es ist unsere einzige Moglichkeit, den Kriegsschiffen zu entkommen.«

Aber er war weit weniger zuversichtlich, als er tat. Seine Gedanken kreisten um die Katastrophe vor mehr als zwanzig Jahren, an der er seitdem schwer zu tragen hatte. Hoffentlich lag die ALBANY besser im Sturm als die HENRIETTA!

»Die ALBANY mu? da hinein«, sagte der bartige Seebar und zeigte nach vorn. »Dann finden uns die Yankees nicht, selbst wenn sie uns einholen sollten.«

Dichter Nebel lag vor dem Segler, soweit das Auge reichte. Behabig walzte sich die undurchdringliche Masse uber den Pazifik. Wie ein urzeitliches Ungetum auf der Nahrungssuche.

»Woher kommt der Nebel?« fragte Schelp.

»Von der Kuste«, antwortete Hansen. »Wir mussen ziemlich nah dran sein.«

Dann leckten die ersten graugelben Dunstfinger auch schon nach dem Rumpf der ALBANY, krallten sich an ihm fest und krochen langsam zum Deck empor. Das Schiff tauchte in die Nebelbank ein und verschmolz mit ihr.

*

Nur langsam kam Irene Sommer wieder zu sich. Sie war noch am Leben, genauso Jamie. Das mu?te ihr erst bewu?t werden.

Aber dieses Bewu?tsein war mit dem Wissen um das Schreckliche verbunden, das mit Jacob Adler geschehen war. Trotz der Geschutzsalven, die von den US-Kriegsschiffen abgefeuert worden waren, war es allein der Schu? des Derringers, der in den Ohren der jungen Frau widerhallte.

Muhsam zog sie sich mit einer Hand an dem Pfosten hoch, den sie wahrend der sturmischen Fahrt umklammert hatte. Mit der anderen Hand druckte sie Jamie an sich. Er weinte nicht mehr, sondern schluchzte leise, was seine Mutter um so schlimmer fand. Es war fast, als trauere das kleine Kind um seinen ermordeten Paten.

Wer wei?, dachte Irene. Vielleicht bekommt der kleine Jamie mehr mit, als wir Erwachsene denken.

Als sie langsam uber das Deck ging, achtete sie nicht auf die Schmerzen in ihrem Kopf und uberall in ihrem Korper. Sie hatte sich mehrere Prellungen zugezogen. Aber das empfand sie nicht als wichtig, Vielen anderen an Bord der ALBANY mochte es ahnlich oder schlimmer gehen.

Am schlimmsten aber hatte es Jacob getroffen!

Die junge Deutsche ging aus einem anderen Grund sehr vorsichtig: um nicht mit Jamie zu sturzen.

Zum einen waren die Planken sehr glitschig von den Brechern, die sich uber die Reling ergossen hatten. Zum anderen war die graugelbe Suppe, durch die Kapitan Hansen sein Schiff steuerte, so dick, da? man hochstens zwei, drei Schritte weit sehen konnte.

Endlich fand sie Jacob, der unverandert neben der Reling lag. Das sonst sandfarbene Haar schimmerte rotlich. Es war das Blut, das auch seine Stirn, einen Teil des Gesichts und die Planken um seinen Kopf bedeckte. Das Blut aus der todlichen Wunde, die die Frau in Schwarz mit ihrer Kugel gerissen hatte.

Aber wo war das geheimnisvolle Wesen, das wahrend der ganzen Reise durch das Schiff und die Kopfe der Menschen gespukt war? Der Nebel schien es verschluckt zu haben.

Die Frau war rothaarig. Soviel hatte Irene erkannt, als sie ihren Hut verlor. Aber sie hatte nicht das sonst verhullte Gesicht gesehen, da die Frau ihr den Rucken zugewandt hatte.

Nur Jacob hatte das Gesicht gesehen.

Ein Anblick, der ihn aus fur Irene unerfindlichen Grunden erschreckt hatte.

Nein, vielleicht war erschreckt nicht das richtige Wort. Eher entsetzt!

Nicht Angst hatte beim Anblick der Frau in seinen Augen gestanden, sondern Verwirrung und auch Mitleid.

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