Aber warum?

Jacob konnte ihr jedenfalls keine Antwort darauf geben.

Der Mann, der sie von Hamburg bis New York und quer durch den nordamerikanischen Kontinent begleitet hatte, war hier gestorben. An Bord des Schiffes, mit dem er und Irene im vergangenen Jahr nach Amerika gefahren waren.

Eine bittere Ironie des Schicksals!

Plotzlich hielt Irene den Atem an.

Was war das?

Hatten nicht eben Jacobs Augenlider geflattert, wenn auch nur ganz wenig?

Oder gaukelten die uberreizten Sinne ihr etwas vor?

Sie mu?te Gewi?heit haben!

Vorsichtig legte sie ihren in dicke Decken gewickelten Sohn auf ein zusammengerolltes Tau und beugte sich uber den gro?en Mann. Sie hielt ihre Hand vor sein Gesicht, ganz dicht vor Mund und Nase. Ihr war, als spure sie einen schwachen warmen Hauch.

Jacobs Atem!

Ihr Herz jubelte, aber ihr Verstand konnte es noch nicht ganz glauben.

Sie ri? ihr Schultertuch herunter und tauchte es in eine Salzwasserpfutze. Reste des uber die Reling geschwappten Wassers hatten sich in einer nach unten durchgebogenen Planke gesammelt. Sie wrang das Tuch aus und tupfte damit vorsichtig Gesicht und Kopf des heimlich geliebten Mannes ab.

Wieder stie? Irenes Herz einen unhorbaren, aber gleichwohl heftigen Jubelruf aus.

Die Kugel war entgegen ihrer Annahme nicht in den Kopf gedrungen, sondern hatte nur die linke Seite des Schadels geschrammt und dort eine blutige Furche gerissen.

Die starke Blutung und Jacobs Bewu?tlosigkeit hatten Irene getauscht.

Schuld an der gro?en Wunde war das Weichbleigescho? des Derringers. Es verformte sich beim Aufprall zu zwei- bis dreifacher Gro?e.

Irene schlug ihr Tuch zu einem Verband zusammen und wollte ihn gerade um Jacobs Kopf wickeln, als sie die neuerliche Unruhe an Bord der ALBANY bemerkte.

Ausgelost wurde sie von zwei verschiedenen Gruppen, die einander gegenuberstanden. Die gro?ere Gruppe wurde von der kleineren eingeschuchtert, denn letztere war im Gegensatz zur ersten bewaffnet.

Einer Eingebung folgend, unterlie? Irene es, Jacob den Verband anzulegen. Vielleicht war es besser, wenn er einstweilen noch fur tot gehalten wurde.

Sie ging dabei von einer einfachen, aber vielleicht lebensrettenden Uberlegung aus: Wer schon tot war, den mu?te man nicht umbringen.

*

Der Nebel wurde ein wenig lichter. Vielleicht lag es an dem auffrischenden Wind, der ihn auseinandertrieb.

Piet Hansen sah seinen Ersten Steuermann an.

»Moller, die Manner sollen sich bereit halten, einen Teil der Segel einzuholen. Der Sturm konnte plotzlich starker werden.«

Anstatt den Befehl auf der Stelle zu bestatigen und auszufuhren, wie es seine Pflicht gewesen ware, blickte Moller den Mann an, der ihm mehr Geld bezahlte als Hansen.

Arnold Schelp fragte: »Ist es klug, einen Teil der Segel einzuholen, Kapten? Was ist, wenn die Yankee- Schiffe uns immer noch verfolgen?«

»Dazu mu?ten sie uns erst finden«, antwortete Hansen. »Ich habe in der Nebelbank den Kurs geandert. Au?erdem will ich die Segel jetzt noch nicht einholen lassen. Ich will nur auf alles vorbereitet sein.«

Damit mir mit der ALBANY nicht dasselbe passiert wie mit der HENRIETTA! fugte er in Gedanken hinzu.

Laut fuhr er fort: »Es ist auch in Ihrem Interesse, Schelp. Was nutzt Ihnen die Ladung, wenn sie auf dem Grund des Pazifiks liegt?«

»Also gut«, knurrte der halbwegs uberzeugte Geschaftemacher und blickte den Ersten Steuermann an. »Fuhren Sie den Befehl aus, Mol...«

Er stockte, als er bemerkte, was da aus dem Bauch der Bark kam.

Manner, Frauen und Kinder verlie?en das Zwischendeck. Sie hatten gewartet und keinen Kanonendonner mehr gehort. Das und die ruhigere Fahrt, die das Schiff jetzt machte, lockte sie aufs Deck.

Sie waren verstort und verangstigt. Viele hatten sich bei Piet Hansens riskanten Manovern an scharfen Kanten oder durchs Zwischendeck rutschenden Hausrat verletzt.

Den meisten war speiubel, wie ihre grunlichbleichen Gesichter verrieten.

Aber fast alle schienen ziemlich wutend zu sein. Sie bildeten eine kompakte Masse, die langsam nach achtern marschierte, auf die Brucke zu.

»Warten Sie, Moller!« zischte Schelp. »Holen Sie lieber unsere Manner zusammen, bewaffnet!«

»Ja, Herr Schelp«, nickte der Steuermann eifrig und lief los.

Unsere Manner!

Damit meinte Schelp den Teil der Besatzung, der in seinem Sold stand, ein gutes Dutzend rauher, kraftiger Burschen mit gro?kalibrigen Revolvern, deren Mundungen sich auf die anruckenden Passagiere richteten.

Dazu gesellten sich Captain Abel McCord von der Armee der Konfoderierten, der mexikanische Sonderbeauftragte Don Emiliano Maria Hidalgo de Tardonza und deren standige Begleiterin - die Frau in Schwarz.

Sie hatte den Hut wieder aufgesetzt und den Schleier vor ihr Gesicht gelegt. Nur das Haarnetz fehlte. Flammend rote Locken fielen in einem herrlichen Kontrast auf das schwarze Kleid.

In der Rechten hielt sie ihren Sharps Derringer. McCord und Don Emiliano waren ebenfalls bewaffnet. Schelp schwenkte seinen versilberten Remington Derringer herum, um auch auf die Zwischendeckspassagiere anzulegen.

Auch wenn Schelps Waffe nicht mehr auf Piet Hansen zeigte, fuhlte sich der Kapitan kein bi?chen erleichtert. Mit Sorge beobachtete er die grimmigen Gesichter der langsam vorruckenden Passagiere und genauso die entschlossenen Mienen der Bewaffneten.

Gerade den drei Kriegsschiffen entkommen, hatte sich die ALBANY erneut in ein Pulverfa? verwandelt. Der kleinste Funke konnte es explodieren lassen.

Und Funken spruhten genugend uber Deck, bildlich gesprochen. Sie kamen aus den Augen der sich gegenuberstehenden Menschen.

»Schelp, stecken Sie doch die Waffen weg!« sagte Hansen beschworend. »Das macht alles nur noch schlimmer!«

»Fuhren Sie das Schiff, Kapten, ich fuhre meine Leute!« wies der Geschaftemacher den Kapitan in seine Schranken.

Laut rief Schelp uber das Deck: »Stehenbleiben, Leute! Ihr seid nah genug an der Brucke.«

Niemand horte auf ihn. Die dichte Welle aus menschlichen Leibern, die von einer Reling zur anderen uber die ganze Breite des Schiffes reichte, wogte scheinbar unaufhaltsam vorwarts.

Schelp druckte ab.

Der obere Lauf seines Remington spuckte, begleitet von einem Feuerstrahl, sein Gescho? aus. Ein kleine Rauchwolke stieg uber den rothaarigen Kopf und ging langsam im Nebel auf.

Ein vollbartiger, untersetzter Mann schrie auf und knickte ein. Mit einem dumpfen Laut schlug er auf die Planken. Schelps Kugel hatte eine bose Wunde in seinen Oberschenkel gerissen.

Eine verharmte Frau loste sich aus der Gruppe, ging neben ihrem Mann in die Knie und schluchzte laut seinen Namen: »Andrew!«

Was Schelps Worte nicht geschafft hatten, bewirkte der Schu?: Die Passagiere blieben wenige Schritte vor der Brucke stehen.

»Gut so, Leute, seid vernunftig!« sagte Schelp laut. »Wenn ihr gehorcht, wird euch nichts geschehen. Aber wenn nicht.« Schelp grinste gemein. »Nun, seht euch Andrew an!«

Erst schwiegen die etwa hundert Menschen.

Dann hob ein leises Gemurmel an.

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