schwierigen Situation tun?«

»Was wurden Sie tun, Holt?«

»Das wei? ich nicht. Meine Situation liegt etwas anders. Ich bin vielleicht nur ein alter Klepper - das alteste Pferd im Feuerwehrstall -, aber ich trage eine Verantwortung gegenuber den Angehorigen der ermordeten Frauen. Sie haben ein Recht darauf, dass diese Falle abgeschlossen werden.«

»Das verdienen sie, gewiss … aber brauchen sie’s auch?«

»Robert Shaverstones Penis war abgebissen, wussten Sie das?«

Das wusste sie nicht. Naturlich nicht. Sie schloss die Augen und spurte hei?e Tranen durch die Wimpern quellen. Er musste nicht »leiden«, von wegen!, dachte sie, und ware Bob jetzt mit bittend erhobenen Handen vor ihr erschienen, hatte sie ihn wieder umgebracht.

»Sein Vater wei? es«, sagte Ramsey. Er sprach leise. »Und er muss tagaus, tagein mit diesem Wissen uber sein geliebtes Kind leben.«

»Das tut mir leid«, flusterte sie. »Das tut mir schrecklich leid.«

Sie spurte, wie er uber den Tisch hinweg ihre Hand ergriff. »Wollte Sie nicht aufregen.«

Darcy schuttelte die Hand ab. »Naturlich wollten Sie das! Aber glauben Sie, dass ich das nicht war? Glauben Sie, dass ich das nicht langst war, Sie … Sie neugieriger alter Schnuffler?«

Er lachte glucksend und lie? dabei seine glanzenden falschen Zahne sehen. »O nein, das glaube ich keineswegs. Ich hab’s gleich gesehen, als Sie die Tur geoffnet haben.« Er machte eine Pause, dann fugte er bedachtig hinzu: »Ich habe alles gesehen.«

»Und was sehen Sie jetzt?«

Er stand auf, schwankte leicht, fand sein Gleichgewicht wieder. »Ich sehe eine tapfere Frau, die in Ruhe gelassen werden sollte, damit sie ihre Hausarbeit erledigen kann. Und fur den Rest ihres Lebens sowieso.«

Sie stand ebenfalls auf. »Und die Familien der Opfer? Die ein Recht darauf haben, dass die Falle abgeschlossen werden?« Sie zogerte, weil sie den Rest nicht sagen wollte. Aber das musste sie. Dieser Mann war trotz starker Schmerzen - vielleicht fast unertraglicher Schmerzen - hergekommen,

»Der Junge ist tot, und sein Vater ist’s praktisch auch.« Ramsey sprach in einem ruhigen, nuchtern urteilenden Ton, den Darcy wiedererkannte. So hatte Bob gesprochen, wenn klar gewesen war, dass ein Mandant seiner Firma vom Finanzamt vorgeladen werden wurde und sich auf unangenehme Fragen gefasst machen musste. »Hangt von morgens bis abends an der Whiskeyflasche. Wurde sich daran etwas andern, wenn er wusste, dass der Morder seines Sohns - der Verstummler seines Sohns - tot ist? Das glaube ich nicht. Wurde auch nur eines der Opfer dadurch wieder lebendig? Nein. Brennt der Morder jetzt wegen seiner Schandtaten im Fegefeuer und leidet selbst unter Verstummelungen, die bis in alle Ewigkeit bluten werden? Das sagt die Bibel. Zumindest im Alten Testament, und nachdem unsere Gesetze von dort stammen, genugt mir das. Danke fur den Kaffee. Auf der Ruckfahrt werde ich an jedem Rastplatz zwischen hier und Augusta anhalten mussen, aber das ist’s mir wert. Sie kochen guten Kaffee.«

Als Darcy ihn zur Tur begleitete, wurde ihr klar, dass sie zum ersten Mal, seit sie in der Garage gegen den Karton gesto?en war, wieder das Gefuhl hatte, auf der richtigen Seite des Spiegels zu sein. Es war gut zu wissen, dass er gefasst worden ware. Dass er nicht so uberragend clever gewesen war, wie er geglaubt hatte.

»Danke fur Ihren Besuch«, sagte sie, wahrend er seinen Homburg penibel gerade aufsetzte. Sie offnete die Tur, und ein Schwall kalter Luft wehte herein. Aber das storte sie nicht. Die Kalte auf ihrer Haut fuhlte sich gut an. »Sehen wir uns wieder?«

»Nein. Nachste Woche ist fur mich Schluss. Voll im Ruhestand. Ziehe nach Florida. Allerdings nicht fur lange, sagt mein Arzt.«

»Tut mir leid, das zu …«

Er zog sie plotzlich in die Arme. Sie waren dunn, aber sehnig und uberraschend stark. Darcy war uberrascht, aber nicht erschrocken. Die Krempe seines Homburgs druckte gegen ihre Schlafe, als er ihr ins Ohr flusterte. »Sie haben das Rechte getan.«

Und sie auf die Wange kusste.

20

Er ging langsam und vorsichtig den Weg entlang und achtete auf die Eisplatten. So bewegte sich ein alter Mann. Er sollte wirklich einen Stock benutzen, dachte Darcy. Er ging vorn um den Wagen herum, weiter mit gesenktem Kopf, um aufs Eis zu achten, als sie seinen Namen rief. Er drehte sich halb nach ihr um und zog die Augenbrauen hoch.

»Als Junge hatte mein Mann einen Freund, der dann todlich verungluckt ist.«

»Tatsachlich?« Das Wort wurde mit einer dampfenden Atemwolke ausgesto?en.

»Ja«, sagte Darcy. »Sie konnten nachlesen, was damals passiert ist. Ein tragischer Unfall, obwohl er nach Aussage meines Mannes kein sehr netter Junge war.«

»Nein?«

»Nein. Er war einer dieser Jungen, die gefahrlichen Phantasien nachhangen. Sein Name war Brian Delahanty, aber Bob hat ihn immer nur BD - Beadie - genannt.«

Ramsey blieb einige Sekunden lang neben seinem Wagen stehen und schien zu uberlegen. Dann nickte er. »Das ist sehr interessant. Vielleicht sehe ich mir die Berichte daruber auf dem Computer an. Oder vielleicht auch nicht; schlie?lich liegt alles lange zuruck. Danke fur den Kaffee.«

»Danke fur das Gesprach.«

Sie beobachtete, wie er die Stra?e entlang davonfuhr (er fuhr mit dem Selbstbewusstsein eines weit jungeren Mannes, fiel ihr auf - vielleicht weil er noch so scharfe Augen hatte), dann ging sie wieder hinein. Sie fuhlte sich junger, leichter. Als sie vor den Spiegel in der Diele trat, sah sie nur ihr eigenes Spiegelbild, und das war gut. 

NACHWORT

Die Storys in diesem Band sind hart. Vielleicht ist es Ihnen teilweise schwergefallen, sie zu lesen. Dann seien Sie versichert, dass es mir stellenweise ebenso schwergefallen ist, sie zu schreiben. Wenn Leute mich nach meiner Arbeit fragen, habe ich mir angewohnt, dieses Thema mit Scherzen und humorvollen personlichen Anekdoten (die Sie nicht unbedingt glauben durfen; glauben Sie nie, was ein Romanautor uber seine Vergangenheit erzahlt) zu umgehen. Das ist eine Form der Ablenkung und etwas hoflicher als die Antwort, die meine Yankee-Vorfahren vermutlich auf solche Fragen gegeben hatten: Das geht dich nichts an, Freundchen. Aber unterhalb der Scherze nehme ich meine Arbeit sehr ernst - wie schon immer, seit ich mit achtzehn Jahren als Erstsemester an der University of Maine mit The Long Walk meinen ersten Roman geschrieben habe.

Ich habe wenig Geduld mit Schriftstellern, die ihre Arbeit nicht ernst nehmen, und gar keine mit denen, die die Kunst der erzahlenden Literatur im Prinzip fur ausgepowert halten. Sie ist nicht abgenutzt, und sie ist auch kein literarisches Spiel. Sie gehort zu den entscheidend wichtigen Methoden, mit denen wir versuchen, unser Leben - und die oft schreckliche Welt, die wir um uns herum wahrnehmen - zu begreifen. Sie ist unsere Antwort auf die Frage: Wie konnen solche Dinge passieren? Storys suggerieren, dass es manchmal - nicht immer, aber manchmal - einen Grund dafur geben konnte.

Von Anfang an - noch bevor ein junger Mann, den ich heute kaum mehr verstehe, in einem Schlafsaal The Long Walk zu schreiben begann - war ich der Meinung, die beste Literatur sei mobilisierend und bedrohlich. Sie springt einem ins Gesicht. Manchmal schreit sie einem ins Gesicht. Ich habe nichts gegen literarische Prosa, die sich meist mit au?ergewohnlichen Menschen in gewohnlichen Situationen befasst, aber als Leser und Autor interessieren mich gewohnliche Menschen in au?ergewohnlichen Situationen weit mehr. Ich mochte bei meinen Lesern eine emotionale, sogar instinktive Reaktion hervorrufen. Sie zum Nachdenken zu bringen, wahrend sie lesen, ist nicht mein Ding. Das setze ich kursiv hierher, denn ist die Erzahlung gut genug und sind die Figuren lebendig genug, lost Denken die Gefuhle ab, wenn die Story gelesen und das Buch zugeklappt ist (manchmal mit Erleichterung). Ich erinnere mich, George Orwells 1984 mit etwa dreizehn Jahren mit

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