wachsender Verzweiflung, Wut und Emporung verschlungen zu haben, so schnell ich nur konnte - und was ware daran schlecht? Vor allem nachdem ich bis heute an diesen Roman denke, wenn es wieder einmal irgendeinem Politiker gelingt (wobei ich an Sarah Palin und ihre niedertrachtigen Bemerkungen uber »Todes-Ausschusse« denke), Teilen der Offentlichkeit einzureden, Wei? sei in Wirklichkeit Schwarz und umgekehrt.

Hier ist noch etwas, was ich glaube: Betritt man einen sehr dunklen Ort - wie Wilf James’ Farmhaus in Nebraska in »1922« -, sollte man eine helle Lampe mitnehmen und sie auf alles richten. Will man nichts sehen, wozu sollte man sich dann um Himmels willen uberhaupt ins Dunkel wagen? Der gro?e naturalistische Schriftsteller Frank Norris war schon immer einer meiner literarischen Idole, und ich habe seit uber vierzig Jahren beherzigt, was er zu diesem Thema gesagt hat: »Ich habe niemals gebuckelt; ich

Aber, Steve, sagen Sie, Sie haben in Ihrer Schriftstellerlaufbahn Unmengen von Pennys verdient, und was die Wahrheit betrifft … die ist variabel, nicht wahr? Ja, ich habe mit meinen Storys viel Geld verdient, aber das war ein Nebeneffekt, niemals das Ziel. Romane fur Geld zu schreiben ist Schwachsinn. Und es stimmt: Wahrheit liegt im Auge des Betrachters. Geht es jedoch um erzahlende Literatur, besteht die einzige Verpflichtung des Autors darin, die Wahrheit in seinem eigenen Herzen zu erforschen. Das wird nicht immer die Wahrheit des Lesers oder die des Kritikers sein, aber solange es die Wahrheit des Verfassers ist - solange er oder sie nicht buckelt oder den Hut vor Moden zieht -, ist alles gut. Fur Schriftsteller, die wissentlich lugen, die reales menschliches Handeln durch unglaubwurdiges Verhalten ersetzen, habe ich nichts als Verachtung ubrig. An schlechtem Schreiben sind nicht nur beschissener Satzbau und fehlende Beobachtungsgabe schuld; schlechtes Schreiben entsteht meistens aus einer hartnackigen Weigerung, davon zu erzahlen, was Leute wirklich machen - sich beispielsweise der Tatsache zu stellen, dass auch Morder manchmal alte Damen uber die Stra?e geleiten.

In Zwischen Nacht und Dunkel habe ich mein Bestes versucht, um festzuhalten, was Menschen tun und wie sie sich unter bestimmten Umstanden verhalten konnten. Die Leute in diesen Storys sind nicht ohne Hoffnung, aber sie mussen erkennen, dass selbst unsere kuhnsten Hoffnungen (und unsere innigsten Wunsche fur unsere Mitmenschen und die Gesellschaft, in der wir leben) manchmal vergeblich sein konnen. Sogar oft. Aber ich glaube, dass sie auch zeigen, dass Adel sich in erster Linie nicht im Erfolg, sondern in dem Versuch manifestiert, das Rechte zu tun … und dass

Die Anregung zu »1922« gab das Sachbuch Wisconsin Death Trip (1973) mit Texten von Michael Lesy und Fotos aus der Kleinstadt Black River Falls, Wisconsin. Ich war von der landlichen Einsamkeit dieser Aufnahmen und der Rauheit und den Entbehrungen auf den Gesichtern vieler der Abgebildeten beeindruckt. Diese Stimmung wollte ich in meine Story ubernehmen.

Als ich im Jahr 2007 auf der Interstate 84 unterwegs war, um im Westen von Massachusetts Bucher zu signieren, hielt ich bei einer Raststatte, um eine typische Gesundheitsmahlzeit a la Steve King einzunehmen: eine Limo und einen Schokoriegel. Als ich aus dem Schnellimbiss kam, sah ich eine Frau mit einem Platten, die ernsthaft mit einem neben ihr parkenden Fernfahrer sprach. Er lachelte ihr zu und kletterte aus seinem Fahrerhaus.

»Kann ich irgendwas fur Sie tun?«, fragte ich.

»Nein, nein, ich mach das schon«, sagte der Trucker.

Bestimmt hat die Lady ihren Reifen gewechselt bekommen. Ich bekam ein Three Musketiers und die Idee zu einer Story, aus der dann »Big Driver« wurde.

An meinem Wohnort Bangor gibt es eine am Flughafen vorbeifuhrende Stra?e, die Hammond Street Extension hei?t. Wenn ich zu Hause bin, wandere ich jeden Tag drei bis vier Meilen und bin oft dort drau?en unterwegs. Ungefahr auf halber Strecke liegt am Flughafenzaun eine mit Kies bestreuter kleine Flache, auf der sich im Lauf der Jahre einige Stra?enhandler etabliert haben. Mein Favorit, den die Einheimischen Golf Ball Guy nennen, kreuzt immer im Fruhjahr auf. Sobald es warm wird, fahrt Golf Ball Guy zum stadtischen Golfplatz in Bangor hinaus und sammelt Hunderte von Golfballen auf, die unter dem Schnee liegen geblieben sind. Er wirft die wirklich schlechten weg und verkauft

Die letzte Story dieses Bandes ist mir eingefallen, nachdem ich einen Artikel uber Dennis Rader, den beruchtigten FFT-Morder (fesseln, foltern und toten) gelesen hatte, der uber ungefahr sechzehn Jahre hinweg zehn Menschen - vor allem Frauen, aber auch zwei Kinder - ermordet hatte. In vielen Fallen hatte er der Polizei Stucke von Ausweisen seiner Opfer geschickt. Paula Rader war vierunddrei?ig Jahre lang mit diesem Ungeheuer verheiratet, und in Wichita und Umgebung, wo Rader seine Opfer fand, wollen viele nicht glauben, sie habe mit ihm zusammenleben und keine Ahnung von seinen Untaten haben konnen. Ich habe es geglaubt - ich glaube es immer noch - und diese Erzahlung geschrieben, um auszuloten, was in solch einem Fall passieren konnte, wenn die Ehefrau plotzlich auf das schreckliche Hobby ihres Mannes stie?e. Ich habe sie auch geschrieben, um dem Gedanken nachzugehen, dass es unmoglich ist, jemanden ganz zu kennen - auch unsere Liebsten nicht.

Nun gut, jetzt sind wir lange genug hier unten im Dunkel gewesen, finde ich. Oben existiert eine ganze weitere Welt. Nehmen Sie meine Hand, treuer Leser, dann fuhre ich Sie gern in den Sonnenschein zuruck. Ich gehe gern dorthin zuruck, weil ich glaube, dass die meisten Menschen im Grunde genommen gut sind. Ich wei?, dass ich es bin.

Was Sie betrifft, bin ich mir da nicht ganz so sicher.

Bangor, Maine

23. Dezember 2009

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