»Ist dies das einzige Gedicht, das Sie auswendig konnen? Holt?«
»Nun, fruher habe ich ›Der Tod des Taglohners‹ aufsagen konnen«, sagte er bescheiden, »aber jetzt erinnere ich mich nur noch an den Teil, in dem es hei?t, dass die Heimat der Ort ist, an dem sie einen aufnehmen mussen, wenn man dorthin zuruckkehrt. Das ist wahr, finden Sie nicht auch?«
»Unbedingt.«
Seine hellen haselnussbraunen Augen sahen forschend in ihre. Die Intimitat dieses Blicks war unanstandig, als musterte er sie unbekleidet. Und angenehm, vielleicht aus demselben Grund.
»Was wollten Sie meinen Mann fragen, Holt?«
»Nun, ich hatte schon mal mit ihm gesprochen, wissen Sie, obwohl ich mir nicht sicher bin, dass er sich daran erinnern wurde, wenn er noch lebte. Das liegt schon lange zuruck. Wir waren beide erheblich junger, und Sie mussen fast noch ein Kind gewesen sein, wenn man bedenkt, wie jung und hubsch Sie heute sind.«
Sie bedachte ihn mit einem eisigen Ersparen-Sie-mir-das-Lacheln, dann stand sie auf und goss sich noch einen Kaffee ein. Ihre erste Tasse war schon ausgetrunken.
»Sie wissen wahrscheinlich von den Beadie-Morden«, sagte er.
»Sie meinen den Mann, der Frauen ermordet und ihre Ausweise der Polizei schickt?« Sie hielt die Tasse vollig ruhig in der Hand und kam an den Tisch zuruck. »Davon konnen die Zeitungen gar nicht genug bekommen.«
Er zeigte auf sie - Bobs Fingerpistolen-Geste - und blinzelte ihr zu. »Da haben Sie recht. Ja, Sir. Ich war zufallig ein bisschen mit dem Fall befasst. Damals noch nicht im Ruhestand, aber kurz davor. Ich stand in einem gewissen Ruf, jemand zu sein, der beim Herumschnuffeln gelegentlich Erfolg hat … wenn er sich auf seinen Dingsbums verlie? …«
»Instinkt?«
Wieder die Fingerpistole. Wieder ein Blinzeln. »Jedenfalls schickt man mich los, damit ich allein arbeite, wissen Sie - der alte hinkende Holt zeigt seine Bilder vor, stellt seine Fragen und … na ja, er
»Ich glaube nicht«, sagte Darcy.
»Sie wurden sich an ihn erinnern, wenn Sie die Fotos vom Tatort gesehen hatten. Ein grausiger Mord … wie die arme Frau gelitten haben muss. Aber dieser Kerl, der sich Beadie nennt, hatte eine lange Pause gemacht, uber funfzehn Jahre, und muss im Kessel viel Druck aufgebaut haben, der nur darauf wartete, explodieren zu konnen. Und dabei ist sie verbruht worden.
Jedenfalls hat der damalige GSA mich auf diesen Fall angesetzt. ›Der alte Holt soll sich mal daran versuchen‹, hat er gesagt, ›er tut ohnehin nicht viel und ist dann wenigstens beschaftigt.‹ Schon damals war ich fur jedermann der alte Holt. Wegen des Hinkens, wurde ich vermuten. Ich habe mit ihren Freunden, ihren Nachbarn drau?en an der Route 106 und ihren Arbeitskolleginnen in Waterville geredet. Oh, ich habe viel mit ihnen gesprochen. Sie war Serviererin im Restaurant Sunnyside in dieser Kleinstadt. Viele der Gaste da sind nur auf der Durchreise, weil der Turnpike ganz in der Nahe vorbeifuhrt, aber mich haben mehr die Stammgaste interessiert. Die
»Ja, naturlich«, murmelte sie.
»Einer davon war ein passabel aussehender, gut gekleideter Kerl Anfang bis Mitte vierzig. Ist alle drei bis vier
»Sie haben sich ganz verheddert«, sagte Darcy unwillkurlich amusiert. »Tun Sie sich einen Gefallen, und sagen Sie’s einfach, ich bin schon erwachsen. Sie hat mit ihm geflirtet? Lauft es darauf hinaus? Sie ware nicht die erste Serviererin gewesen, die mit einem Mann auf Reisen flirtet, auch wenn dieser Mann einen Ehering am Finger hat.«
»Nein, so war’s nicht ganz. Nach allem, was ihre Kolleginnen mir erzahlt haben - und das ist naturlich nicht ganz wortlich zu nehmen, weil alle sie gern gemocht haben -, hat
»Das klingt nicht nach meinem Mann.« Und es passte ubrigens nicht zu dem, was Bob ihr erzahlt hatte.
»Nein, aber er scheint’s gewesen zu sein. Ihr Mann, meine ich. Und eine Ehefrau wei? nicht immer, was ihr Mann auf Reisen macht, auch wenn sie’s zu wissen glaubt. Jedenfalls hat mir eine der Serviererinnen erzahlt, der Kerl habe einen Toyota 4Runner gefahren. Das wusste sie, weil sie selbst einen hatte. Und wissen Sie was? In den Tagen vor dem Mord an Stacey Moore haben Nachbarn einen 4Runner wie diesen mehrmals in der Umgebung des Verkaufsstands der Familie Moore gesehen. Zuletzt nur einen Tag vor dem Mord.«
»Aber nicht am Tag der Tat.«
»Nein, aber ein umsichtiger Mann wie dieser Beadie wurde auf so etwas achten, nicht wahr?«
»Vermutlich.«
»Nun, ich hatte eine Personenbeschreibung und habe damit die Umgebung des Restaurants abgegrast. Ich hatte nichts Besseres zu tun. Eine Woche lang habe ich mir nur Blasen gelaufen und ein paar Tassen Mitleidskaffee bekommen - allerdings keinen so guten wie Ihren! -, so dass ich schon aufgeben wollte. Dann bin ich in ein Geschaft in der Innenstadt geraten. Mickleson’s Coins. Kommt Ihnen der Name bekannt vor?«
»Naturlich. Mein Mann war Numismatiker, und Mickleson’s war einer der drei bis vier besten Munzhandler in Maine … obwohl er jetzt nicht mehr existiert, glaube ich. Soviel ich wei?, ist der alte Mr. Mickleson gestorben, und sein Sohn hat das Geschaft aufgegeben.«
»Richtig. Na ja, Sie wissen, wie es in dem Song hei?t: Zuletzt raubt die Zeit einem alles - das Sehvermogen, den elastischen Schritt, sogar das beschissene Sprungvermogen, entschuldigen Sie den Ausdruck. Aber damals hat George Mickleson noch gelebt …«
»Aufrecht und die Luft schnuffelnd«, murmelte Darcy.
Holt Ramsey lachelte. »Genau wie Sie sagen. Jedenfalls hat er die Personenbeschreibung erkannt. ›He, das klingt wie Bob Anderson‹, hat er gesagt. Und wissen Sie was? Er hat einen Toyota 4Runner gefahren.«
»Oh, aber den hat er vor langer Zeit in Zahlung gegeben«, sagte Darcy. »Fur einen …«
»Chevrolet Suburban, nicht wahr?« Ramsey sprach den Hersteller als
»Ja.« Darcy faltete die Hande und betrachtete Ramsey gelassen. Nun waren sie fast zum Kern der Sache vorgedrungen. Die Frage war nur, fur welchen Partner der nicht mehr existierenden Ehe der Andersons dieser alte Mann mit dem scharfen Blick sich mehr interessierte.
»Den Suburban haben Sie wohl nicht mehr?«
»Nein. Ich habe ihn etwa einen Monat nach dem Tod meines Mannes verkauft. Ich habe eine Anzeige in
Und zwei Tage vor der Abholung durch den Kaufer hatte sie den Suburban sorgfaltig von vorn bis hinten abgesucht - sogar unter dem Teppichboden im Laderaum. Sie hatte nichts gefunden, aber trotzdem funfzig Dollar dafur gezahlt, ihn au?en waschen (was ihr egal war) und innen mit Dampf reinigen (worauf sie gro?en Wert legte) zu lassen.
»Ah. Der gute alte
»Mr. Ramsey …«
»Holt.«
»Holt, haben Sie Bob eindeutig als den Mann identifizieren konnen, der mit Stacey Moore geflirtet hat?«
»Nun, als ich mit Mr. Anderson gesprochen habe, hat er zugegeben - bereitwillig zugegeben -, gelegentlich im Sunnyside gewesen zu sein, aber behauptet, nie besonders auf die Serviererinnen geachtet zu haben. Seiner Darstellung nach ist er immer mit irgendwelchem Papierkram beschaftigt gewesen. Aber ich habe naturlich sein Bild herumgezeigt - aus seinem Fuhrerschein, verstehen Sie -, und das Personal hat ihn wiedererkannt.«
»Hat mein Mann gewusst, dass Sie … speziell an ihm interessiert waren?«
»Nein. Fur ihn war ich nur ein altes Hinkebein auf der Suche nach Zeugen, die irgendwas gesehen haben konnten. Vor einem alten Knaben wie mir hat niemand Angst, wissen Sie.«