ein Ober hoch haltend die Treppe heraufgekommen war. Wie er fast oben gewesen war, als er auf der vorletzten Stufe ausrutschte. Sie erzahlte sogar, wie sie beinahe selbst auf einem der verstreuten Eiswurfel ausgerutscht sei, als sie zu ihm hinunterrannte.
Officer Shrewsbury kritzelte etwas in sein Notizbuch, klappte es zu und betrachtete sie ruhig. »Okay. Ich nehme Sie jetzt mit. Holen Sie Ihren Mantel.«
»Was? Wohin?«
Naturlich ins Gefangnis. Gehe nicht uber Los, kassiere keine zweihundert Dollar, gehe direkt ins Gefangnis. Bob war mit fast einem Dutzend Morde davongekommen - und sie nicht mal mit einem einzigen (allerdings hatte er seine geplant, mit buchhalterischer Akribie geplant). Sie wusste nicht, was sie falsch gemacht hatte, aber es wurde sich zweifellos als etwas ganz Offensichtliches erweisen. Officer Shrewsbury wurde es ihr auf der Fahrt zum Polizeirevier erzahlen. Das wurde dann wie das Schlusskapitel eines Romans von Elizabeth George sein.
»Zu mir nach Hause«, sagte er. »Sie ubernachten heute bei Arlene und mir.«
Sie starrte ihn an. »Ich mochte nicht … ich kann nicht …«
»Doch, Sie konnen«, sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Arlene wurde mich umbringen, wenn ich Sie hier allein zurucklie?e. Wollen Sie an meiner Ermordung schuld sein?«
Sie wischte sich die Tranen vom Gesicht und lachelte schwach. »Nein, lieber nicht. Aber … Officer Shrewsbury …«
»Harry.«
»Ich muss erst noch telefonieren. Meine Kinder … sie wissen es noch nicht.« Dieser Gedanke brachte erneut Tranen, fur die sie das letzte Papierhandtuch verwendete. Wer hatte geahnt, dass jemand so viel weinen konnte? Bisher hatte sie ihren Kaffee nicht angeruhrt; jetzt trank sie ihn mit drei gro?en Schlucken halb aus, obwohl er noch hei? war.
»Ich denke, wir konnen uns ein paar Ferngesprache leisten«, sagte Harry Shrewsbury. »Und noch etwas. Haben Sie irgendwas, was Sie einnehmen konnen? Sie wissen schon, irgendwas Beruhigendes?«
»Nichts dergleichen«, flusterte sie. »Nur Ambien.«
»Dann hat Arlene bestimmt eine Valium fur Sie«, sagte er. »Am besten nehmen Sie mindestens eine halbe Stunde vor dem ersten stressigen Telefongesprach eine. Ich sage ihr nur kurz Bescheid, dass ich Sie mitbringe.«
Er zog erst eine Kuchenschublade, dann eine weitere, dann eine dritte auf. Darcy spurte, dass ihr das Herz bis zum Hals schlug, als er die vierte Schublade aufzog. Er nahm ein Geschirrtuch heraus und gab es ihr. »Haltbarer als Papierhandtucher.«
»Danke«, sagte sie. »Vielen Dank.«
»Wie lange waren Sie verheiratet, Mrs. Anderson?«
»Siebenundzwanzig Jahre«, sagte sie.
»Siebenundzwanzig«, wiederholte er staunend. »Gott, das tut mir so leid.«
»Mir auch«, sagte sie und vergrub das Gesicht in dem Geschirrtuch.
18
Robert Emory Anderson wurde zwei Tage spater auf dem Friedhof von Yarmouth beigesetzt. Donnie und Petra sa?en rechts und links neben ihrer Mutter, als der Geistliche uber das Thema »Ein jegliches hat seine Zeit« predigte. Das Wetter war trub und kalt; ein eisiger Wind bewegte die unbelaubten Aste der Friedhofsbaume. B, B&A hatte an diesem Tag geschlossen, und alle waren zur Beerdigung gekommen. Die Wirtschaftsprufer in ihren schwarzen Manteln drangten sich wie ein Krahenschwarm zusammen. Unter ihnen gab es keine Frauen. Das war Darcy bisher nie aufgefallen.
In ihren Augen standen Tranen, die sie in regelma?igen Abstanden mit dem Taschentuch in ihrer schwarz behandschuhten
Bald wurde alles voruber sein. Donnie wurde nur ein paar Tage bleiben - langer konne er die Werbeagentur in der Aufbauphase nicht allein lassen, wie er sagte. Er hoffte, das werde sie verstehen, und sie sagte, das verstehe sie naturlich. Petra wollte eine Woche bleiben und sagte, sie konne auch langer bleiben, wenn Darcy sie brauche. Darcy versicherte ihr, das sei lieb von ihr, und hoffte insgeheim, dass es bei hochstens funf Tagen bleiben wurde. Sie musste allein sein. Sie musste … nein, eigentlich nicht nachdenken, sondern wieder zu sich finden. Wieder ihren Platz auf der richtigen Seite des Spiegels einnehmen.
Nicht dass irgendwas schiefgegangen ware, ganz im Gegenteil. Sie bezweifelte, dass die Sache besser hatte klappen konnen, wenn sie die Ermordung ihres Mannes monatelang geplant hatte. Hatte sie das getan, hatte sie wahrscheinlich alles vermasselt, indem sie das Ganze zu kompliziert geplant hatte. Im Gegensatz zu Bob war Planung nicht ihre Starke.
Es hatte keine Autopsie, keine bohrenden Fragen gegeben. Ihre Story war unkompliziert, glaubhaft und beinahe ja auch wahr. Ihr wichtigstes Plus war das felsenfeste Fundament, auf dem sie ruhte: Sie hatten fast drei Jahrzehnte lang eine gute Ehe gefuhrt, die nie durch ernsthafte Auseinandersetzungen getrubt worden war. Was gab es da eigentlich noch zu fragen?
Der Geistliche bat die Angehorigen vorzutreten. Das taten sie.
»Ruhe in Frieden, Paps«, sagte Donnie und warf einen Klumpen Erde ins Grab. Der Brocken landete auf dem glanzend polierten Sargdeckel. Darcy fand, dass er wie ein Hundehaufchen aussah.
»Daddy, du fehlst mir so sehr«, sagte Petra und warf ihrerseits eine Handvoll Erde auf den Sarg.
Darcy kam als Letzte dran. Sie buckte sich, nahm eine lose Handvoll in ihren schwarzen Handschuh und lie? sie aus den Fingern rieseln. Sie sagte nichts.
Der Geistliche rief zu einem kurzen stillen Gebet auf. Die Trauergaste senkten den Kopf. Der Wind lie? die Aste der Friedhofsbaume knarren. In nicht allzu weiter Entfernung brauste der Verkehr auf der I-295. Darcy dachte:
19
Das war es nicht.
Ungefahr sieben Wochen nach der Beerdigung - inzwischen hatte das neue Jahr begonnen, und das Wetter war blau und hart und kalt - wurde an der Tur des Hauses in der Sugar Mill Lane geklingelt. Als Darcy aufmachte, stand drau?en ein alterer Gentleman, der zu einem schwarzen Mantel einen roten Schal trug. Mit behandschuhten Handen hielt er einen altmodischen Homburg vor sich. Das Gesicht war von tiefen Falten durchzogen (auch von Schmerzfalten, dachte Darcy), und was er noch an grauem Haar hatte, war zu flaumigen Stoppeln geschoren worden.
»Ja?«, sagte sie.
Er fummelte in der Manteltasche herum und lie? dabei seinen Hut fallen. Darcy buckte sich und hob ihn
»Holt Ramsey«, sagte er in einem Ton, als wollte er sich dafur entschuldigen. »Von der Generalstaatsanwaltschaft. Tut mir schrecklich leid, Sie belastigen zu mussen, Mrs. Anderson. Darf ich reinkommen? In Ihrem Kleid erfrieren Sie sonst noch hier drau?en.«
»Bitte«, sagte sie und trat zur Seite.
Wahrend sie beobachtete, dass er leicht hinkte und die rechte Hand unbewusst an die rechte Hufte legte - als wollte er sie zusammenhalten -, erschien vor ihrem inneren Auge ein deutliches Bild: Bob, der neben ihr auf der Bettkante sa? und ihre kalten Finger in seinen warmen gefangen hielt. Bob, der redete. Der sogar hamisch prahlte.
»Was kann ich fur Sie tun, Mr. Ramsey?«