heimbringen, bist du verrückt. So etwas hat in meinem ganzen Leben noch keiner zu mir gesagt.»

Die ganze Geschichte war eigentlich komisch, wenn man es sich näher überlegte, und plötzlich tat ich wieder etwas, das ich nicht hätte tun sollen. Ich lachte. Und ich habe immer ein sehr lautes, blödes Lachen. Wenn ich im Kino hinter mir selbst säße und mich lachen hörte, würde ich mir wahrscheinlich auf die Schulter klopfen und mich bitten, ruhig zu sein. Sally wurde daraufhin noch viel wütender.

Ich entschuldigte mich noch eine Weile und versuchte sie milder zu stimmen, aber sie wollte mir nicht verzeihen. Sie wiederholte nur, ich solle fortgehen und sie in Ruhe lassen. Schließlich gab ich es auf.

Ich holte mir meine Schuhe und das übrige Zeug und ging ohne sie fort. Das war nicht richtig, aber ich hatte es da schon gründlich satt.

Ehrlich gesagt, weiß ich nicht einmal, warum ich diesen ganzen Unsinn mit ihr anfing. Das Gerede über die Fahrt nach Massachusetts und Vermont und so. Vermutlich hätte ich sie gar nicht mitgenommen, falls sie dazu bereit gewesen wäre. Sie war nicht so, daß man mit ihr hätte fortgehen können. Aber das Schreckliche an der Sache ist, daß ich es wirklich meinte, als ich ihr den Vorschlag machte. Das ist das Schreckliche daran. Ich bin wahnsinnig.

18

Als ich vom Eisplatz wegging, hatte ich Hunger. Ich setzte mich also in ein Restaurant und aß ein Käsesandwich mit einem Glas Malzmilch, und dann ging ich in eine Telefonkabine. Ich wollte Jane anrufen und feststellen, ob sie schon in die Ferien gekommen war. Ich war ja den ganzen Abend frei, und ich dachte, falls sie schon zu Hause wäre, könnte ich irgendwohin mit ihr tanzen gehen. Ich hatte noch nie mit ihr getanzt. Aber ich hatte sie einmal tanzen gesehen. Sie schien sehr gut zu tanzen. Das war an dem Klubball, der immer am 4. Juli stattfindet. Ich kannte sie damals noch nicht näher und hielt es nicht für passend, sie ihrem Kavalier wegzuschnappen. Sie war mit diesem schrecklichen Al Pike aus, der in Choate war. Ihn kannte ich auch nicht näher, aber er lungerte immer am Schwimmbassin herum. Er hatte weiße Lastex-Badehosen und sprang immer vom hohen Sprungbrett herunter. Den ganzen Tag machte er den gleichen blöden Überschlag. Das war der einzige Sprung, den er konnte, aber er hielt sich für eine große Kanone. Lauter Muskeln und kein Hirn. Dieser Al Pike begleitete Jane also an dem Abend. Ich konnte das nicht verstehen. Wirklich nicht. Als wir uns später besser kannten, fragte ich sie, wie sie mit einem solchen Angeber ausgehen könne. Jane sagte, er sei kein Angeber. Sie behauptete, er habe einen Minderwertigkeitskomplex.

Sie äußerte sich so, als ob er ihr leid täte, und das war nicht geheuchelt, sondern ganz ehrlich gemeint. Mädchen sind komisch. Jedesmal, wenn man von irgendeinem Esel redet, der offensichtlich gemein oder furchtbar eingebildet oder ich weiß nicht was ist, antwortet das Mädchen, zu der man das sagt, er habe einen Minderwertigkeitskomplex. Vielleicht hat er tatsächlich einen, aber meiner Ansicht nach kann er deshalb doch ein gemeiner Hund sein. Man weiß nie, wie die Mädchen urteilen. Einmal verschaffte ich einem Freund ein Rendezvous mit dem Mädchen, das im gleichen Zimmer mit Roberta Walsh wohnte. Er hieß Bob Robinson und hatte wirklich einen Minderwertigkeitskomplex. Man merkte deutlich, daß er sich schämte, weil seine Eltern ungebildet waren und mir und mich verwechselten und so und nicht viel Geld hatten. Er war aber durchaus kein gemeiner Esel oder etwas in der Art. Er war sogar sehr nett. Aber dieses Mädchen fand ihn unsympathisch. Sie sagte zu Roberta, er sei eingebildet. Und der Grund war nur, daß er ihr zufällig erzählt hatte, er leite die Schülerdebatten. Eine solche Kleinigkeit, und schon hielt sie ihn für eingebildet! Wenn die Mädchen jemand gern haben, ganz gleich, was für ein Mensch es ist, sagen sie eben, er habe einen Minderwertigkeitskomplex, und wenn sie ihn nicht gern haben, ganz gleich wie nett er ist oder wie groß sein Minderwertigkeitskomplex ist, dann behaupten sie, er sei eingebildet. Sogar die hellsten Mädchen sind so.

Ich läutete also wieder bei Jane an, aber da niemand antwortete, mußte ich wieder einhängen. Dann blätterte ich in meinem Notizbuch, um jemand zu finden, der für den Abend frei wäre. Dumm war nur, daß höchstens drei Adressen darin standen. Nämlich Jane, zweitens Mr. Antolini, den ich in Elkton Hills als Lehrer gehabt hatte, und drittens die Büronummer von meinem Vater. Ich vergesse immer, mir die Namen aufzuschreiben. Deshalb rief ich schließlich Carl Luce an. Er hatte in Whooton das Abschlußexamen gemacht, nachdem ich dort ausgetreten war. Er war ungefähr drei Jahre älter als ich und nicht besonders sympathisch, aber er war schon damals ein richtiger Intellektueller - er schnitt in Whooton mit den besten Noten von allen ab, und ich dachte, vielleicht könnten wir irgendwo zu Abend essen und eine Art intellektuelle Konversation machen. Manchmal war er sehr anregend. Jetzt ging er auf die Columbia-Universität, aber er wohnte in der Fünfundsechzigsten Straße, und ich wußte, daß er zu Hause war. Als ich ihn am Telefon erwischte, sagte er, essen könne er nicht mit mir, aber er wolle mich um zehn Uhr in der Wicker Bar treffen. Er war ziemlich erstaunt, daß ich mich bei ihm meldete, glaube ich. Ich hatte ihn einmal einen dickarschigen Heuchler genannt.

Bis zehn Uhr blieb mir noch viel Zeit totzuschlagen. Deshalb ging ich ins Kino. Wahrscheinlich hätte ich kaum etwas Dümmeres tun können, aber Radio City war gerade in der Nähe, und ich hatte keinen anderen Einfall.

Ich kam hinein, als die verdammte Bühnennummer in Gang war. Die Rockettes tanzten wie besessen, alle in einer Reihe, jede mit den Armen um die Taille ihrer beiden Nachbarinnen. Die Zuschauer applaudierten begeistert, und ein Mann hinter mir sagte fortwährend zu seiner Frau: «Weißt du, was das ist? Das ist Präzision.» Zum Platzen. Nach den Rockettes kam ein Rollschuhläufer und sauste unter kleinen Tischen herum, und dabei gab er Witze zum besten. Er lief sehr gut Rollschuh, aber der Gedanke störte mich, daß er besonders üben mußte, um auf der Bühne Rollschuh zu laufen. Das fand ich so unsinnig. Vermutlich war ich nur nicht in der richtigen Stimmung.

Danach fing die Weihnachtsnummer an, die in diesem Kino jedes Jahr gegeben wird. Von überallher erscheinen Engel, Kruzifixe werden herumgetragen, und alle Darsteller singen wie toll: «Auf, gläubige Seelen!» Das soll höllisch religiös sein, ich weiß, und außerdem noch schön, aber ich kann bei Gott nichts Religiöses oder Schönes daran finden. Ich sehe nur einen Haufen Schauspieler, die Kruzifixe über die Bühne schleppen. Als sie endlich fertig waren und wieder in den Kulissen verschwanden, hatte man den Eindruck, daß sie kaum abwarten konnten, bis sie eine Zigarette rauchen durften oder was weiß ich. Ich hatte die Nummer im letzten Jahr mit Sally Hayes gesehen, und sie schwärmte davon, wie schön es sei, die Kostüme und alles. Ich sagte, der gute Jesus würde wohl das Kotzen kriegen, wenn Er das sehen könnte, diese Phantasiekostüme und das ganze Zeug.

Sally sagte, ich sei ein gottlästernder Atheist. Vermutlich bin ich das. Was Christus wirklich gefallen hätte, wäre der Paukenschläger im Orchester gewesen. Ich hatte ihm schon zugesehen, als ich erst acht Jahre alt war. Mein Bruder Allie und ich pflegten von unseren Plätzen aufzustehen und nach vorn zu laufen, wo wir ihn gut sehen konnten. Er ist der beste Paukenschläger, den ich je erlebt habe. Er kommt im ganzen Stück nur wenige Male dran, aber er sieht nie gelangweilt aus, wenn er nichts zu tun hat. Wenn er dann aber schlagen muß, macht er das so nett und liebevoll, mit einem ängstlichen Gesicht. Als wir einmal mit meinem Vater nach Washington fuhren, schickte ihm Allie eine Postkarte, aber sicher hat er sie nie bekommen. Wir wußten nicht recht, was wir als Adresse schreiben sollten.

Nach der Weihnachtsnummer fing endlich dieser verdammte Film an. Er war so ekelhaft, daß man kaum die Augen davon abwenden konnte. Ein junger Engländer, Alec Soundso, kommt aus dem Krieg und verliert im Spital das Gedächtnis. Nach seiner Entlassung hinkt er an seinem

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