Stock durch ganz London und weiß nicht, wer zum Teufel er ist. In Wirklichkeit ist er ein Herzog, aber er weiß es nicht. Dann trifft er im Omnibus ein nettes, häusliches, aufrichtiges Mädchen. Der Hut fliegt ihr davon, er langt ihn auf, und dann klettern sie in den oberen Stock hinauf und vertiefen sich in ein Gespräch über Charles Dickens. Beide haben eine besondere Vorliebe für Dickens. Alec hat das Buch
Oliver Twist
bei sich, und das Mädchen ebenfalls. Ich hätte kotzen können. Beide verlieben sich sofort ineinander, weil sie dermaßen in Dickens vernarrt sind, und Alec hilft dem Mädchen in ihrem Verlag. Das Mädchen ist nämlich Verlegerin. Nur macht sie keine glänzenden Geschäfte, weil ihr Bruder die gesamten Einnahmen vertrinkt. Dieser Bruder ist verbittert, weil er im Krieg Chirurg war und jetzt nicht mehr operieren kann, weil seine Nerven kaputt sind. Deshalb trinkt er die ganze Zeit, aber er ist wenigstens recht geistreich. Dann schreibt Alec ein Buch, und das Mädchen veröffentlicht es in ihrem Verlag, und beide verdienen einen Haufen Geld. Sie wollen gerade heiraten, als Marcia auftaucht. Marcia war mit Alec verlobt, bevor er das Gedächtnis verlor, und sie erkennt ihn, als er in einer Buchhandlung seine Bücher signiert. Sie teilt Alec mit, daß er ein Herzog ist, aber er glaubt ihr nicht und weigert sich, mit ihr seine alte Mutter zu besuchen. Seine Mutter ist blind wie eine Fledermaus. Aber das andere, häusliche Mädchen bewegt ihn zu guter Letzt dazu. Sie ist äußerst edel. Er geht also dorthin, aber sein Gedächtnis rührt sich auch dann noch nicht, als seine dänische Dogge an ihm heraufspringt und die Mutter sein ganzes Gesicht befingert und ihm den Teddybär bringt, mit dem er als Kind gespielt hatte. Eines Tages aber spielen ein paar Kinder Kricket auf einer Wiese und treffen ihn mit dem Kricketball am Kopf. In diesem Augenblick erinnert er sich wieder an alles und läuft nach Hause und küßt seine Mutter auf die Stirn und so weiter. Von da an ist er wieder ein regelrechter Herzog und vergißt das häusliche Mädchen mit dem Verlag. Ich würde gern weitererzählen, wenn ich mich dann nicht höchstwahrscheinlich übergeben müßte. Ich würde die Geschichte nicht so erzählen, daß ich sie jemandem verderbe. Man kann nichts daran verderben, Herr im Himmel. Kurzum, am Schluß heiraten Alec und das häusliche Mädchen, und der Alkoholikerbruder wird wieder gesund und operiert Alecs Mutter, so daß sie wieder sehen kann, und dann kriegen sich der betrunkene Bruder und die gute Marcia. Zuletzt sitzen alle an einer langen Tafel und bersten vor Lachen, weil die dänische Dogge mit einem Haufen Junge hereinkommt.

Offenbar hatte jedermann diese Dogge für ein Männchen gehalten oder sonst einen verdammten Blödsinn gedacht. Ich kann nur jeden vor diesem Film warnen, der sich nicht danach sehnt, sich von oben bis unten zu bekotzen.

Was mich vollends erledigte, war eine Dame neben mir, die vom Anfang bis zum Schluß Tränen vergoß. Je unechter es zuging, um so mehr heulte sie. Man hätte meinen können, daß sie furchtbar gutherzig sei, aber das war sie durchaus nicht. Neben ihr saß ein kleiner Junge, der sich tödlich langweilte und auf die Toilette mußte, aber sie wollte nicht mit ihm hinausgehen. Sie sagte immer nur, er solle sich still halten und sich anständig benehmen. Sie war ungefähr so gutherzig wie ein Wolf.

Von den Leuten, die sich über verlogenes Kinozeug ihre verdammten Augen aus dem Kopf heulen, sind neunzig Prozent im Grund herzlose Klötze. Ganz im Ernst.

Nach dem Film machte ich mich auf den Weg zur Wicker Bar, wo ich Carl Luce treffen sollte, und im Gehen dachte ich über den Krieg nach. Die Kriegsfilme haben immer diese Wirkung auf mich. Ich könnte es wohl nicht aushaken, wenn ich in den Krieg müßte. Wenn man nur eingezogen und erschossen würde, fände ich es nicht so schlimm, aber daß man so eine verdammte Ewigkeit beim Militär sein muß!

Mein Bruder D.B. war vier verdammte Jahre lang im Militärdienst. Er war auch im Krieg und machte die ganze Invasion und so weiter mit, aber das Militär fand er viel schlimmer als den Krieg, glaube ich. Ich war damals eigentlich noch ein Kind, aber ich erinnere mich gut daran, wie er manchmal auf Urlaub kam und dann sozusagen den ganzen Tag auf seinem Bett lag. Sogar im Wohnzimmer zeigte er sich fast nie. Als er später nach Europa und an die Front kam, wurde er nicht verwundet und brauchte auch auf niemand zu schießen, sondern er mußte nur den ganzen Tag irgendeinen General herumfahren. Einmal sagte er zu Allie und mir, wenn er auf jemand hätte schießen sollen, so hätte er nicht gewußt, in welcher Richtung er anlegen müßte, denn in der Armee gebe es praktisch ebenso viele Schurken wie bei den Nazis. Allie fragte ihn, ob es nicht wertvoll für ihn gewesen sei, den Krieg mitzumachen, weil er doch Schriftsteller sei und da sicher viel Stoff gefunden habe. Er sagte, Allie solle seinen Baseball-

Handschuh holen, und dann fragte er ihn, wer bessere Kriegsgedichte gemacht habe, Rupert Brooke oder Emily Dickinson. Allie antwortete: Emily Dickinson. Ich selber verstehe nicht viel davon, weil ich selten Gedichte lese, aber ich weiß ganz sicher, daß ich wahnsinnig würde, wenn ich im Militär die ganze Zeit mit Leuten wie Ackley und Stradlater und Maurice Zusammensein und mit ihnen marschieren müßte und so. Einmal war ich ungefähr eine Woche lang bei den Pfadfindern, und es war mir schon zuviel, daß ich den Nacken von meinem Vordermann anschauen sollte. Es hieß immer, man müsse auf den Nacken des Vordermannes schauen. Ich schwöre, wenn es noch einmal Krieg gibt, dann stellen sie mich am besten sofort an die Wand; ich hätte nichts dagegen. Aber etwas verstehe ich nicht an D.B. Der Krieg war ihm so verhaßt, und trotzdem gab er mir im letzten Sommer Hemingways In einem andern Land zu lesen, weil er es fabelhaft fand. Der Held war ein Leutnant Henry, der angeblich sehr sympathisch sein sollte. Ich begreife nicht, wie D.B. das Militär und den Krieg hassen kann und dann noch so ein verlogenes Buch schön findet. Ich meine, ich verstehe zum Beispiel nicht, daß er ein so verlogenes Buch gern hat und dann aber auch das von Ring Lardner oder
The Great Gatsby.

D.B. ärgerte sich, als ich das sagte, und er behauptete, ich sei eben zu jung für das Buch, aber das glaube ich nicht. Ich antwortete, Ring Lardner und
The Great Gatsby
gefalle mir ja sehr gut. Das stimmt auch. Von
The Great Gatsby
war ich ganz besessen. Dieser Gatsby. Davon war ich erschlagen. Jedenfalls bin ich nur froh, daß sie jetzt die Atombombe erfunden haben. Wenn es wieder Krieg gibt, setze ich mich gleich oben auf die Bombe. Ich melde mich als Freiwilliger dafür, das schwöre ich.

19

Falls einer nicht in New York lebt, die Wicker Bar befindet sich in diesem piekfeinen Hotel Seton. Ich ging früher oft hin, aber jetzt nicht mehr. Ich gewöhne es mir allmählich ab. Denn es ist ein Treffpunkt für lauter affektiertes Pack. Damals traten dort zwei Französinnen auf, Tina und Janine. Ungefähr dreimal an jedem Abend spielte die eine Klavier - absolut unmöglich -, die andere sang Chansons, die entweder reichlich anzüglich oder französisch waren. Bevor Janine die singende Dame - anfing, flüsterte sie immer zuerst in das verdammte Mikrophon: «Und jetzt möschten wirr Ihnen unsere Impresion geben von <Vulez-Vu Fransä?> Es ist die Geschichte von eine kleine Französin, die kommt in eine große Stadt so wie New York und verliebt sich in eine kleine Junge von Brokklyn. Hoffentlisch gefällt es Ihnen.» Dann sang sie höllisch kokett ein blödes Lied, halb englisch und halb französisch, und versetzte damit sämtliche affektierte Esel in helles Entzücken. Wenn man lang genug dabei saß und sich den Applaus anhörte, bekam man nur einen Haß gegen alle Menschen auf der Welt. Auch der Mixer an der Bar war ekelhaft. Er war ein fürchterlicher Snob und redete kaum mit jemand, der nicht berühmt oder ein großes Tier oder etwas Ähnliches war. Mit jemand, der berühmt oder ein großes Tier war, benahm er sich aber noch viel schlimmer. Zu diesen Leuten sagte er mit dem breitesten, charmantesten Lächeln: «So, wie steht's in Connecticut?» oder «Wie steht's in Florida?», es ist eine gräßliche Bar. Wirklich. Ich gehe allmählich überhaupt nicht mehr dorthin.

Da ich ziemlich früh dort ankam, setzte ich mich an die Bar -es war ziemlich voll - und bestellte zwei Whisky mit Soda, bevor Luce erschien. Ich stand zum Bestellen auf, damit sie meine Größe sehen konnten und mich nicht für einen verdammten Minderjährigen hielten. Dann betrachtete ich mir eine Weile lang den ganzen Kitschladen. Einer neben mir kohlte seiner Dame mächtig

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