»Fast hatte sie mich erwurgt«, flusterte sie muhsam.
Das Madchen hob etwas vom Fu?boden auf und reichte es Poirot. Es war eine sehr dunne, aber starke seidene Strickleiter.
»Ein Fluchtmittel«, sagte Poirot. »Um durch das Fenster zu entkommen, wahrend wir die Tur eindruckten. Wo ist - die andere?«
Das Madchen wich ein wenig zur Seite und wies auf eine Gestalt, die mit verhulltem Antlitz auf dem Boden lag.
»Tot?«
Sie nickte.
»Ich glaube. Der Kopf scheint auf den marmornen Kaminvorsatz aufgeschlagen zu sein.«
»Aber wer ist es denn?« schrie ich.
»Die Morderin Renaulds, Hastings, und beinahe auch die Morderin von Madame Renauld.«
Besturzt und verstandnislos kniete ich nieder, luftete das Ende des Tuches und blickte in das tote, schone Antlitz von Marthe Daubreuil!
28
An die weiteren Ereignisse jener Nacht habe ich nur eine verworrene Erinnerung. Poirot blieb meinen wiederholten Fragen gegenuber taub. Er uberschuttete Francoise mit Vorwurfen, weil sie ihm verschwiegen hatte, da? Mme. Renauld nun ein anderes Schlafzimmer habe.
Fest entschlossen, mir Gehor zu verschaffen, packte ich ihn an der Schulter.
»Aber du mu?test es doch gewu?t haben«, stritt ich, »du besuchtest sie doch am heutigen Nachmittag.«
Poirot geruhte mich vorubergehend anzuhoren. »Man hatte sie auf einem Ruhebette in das mittlere Zimmer - in den Salon - geschoben.«
»Aber Monsieur«, rief Francoise, »Madame wechselte ihr Zimmer beinahe unmittelbar nach dem Verbrechen! Die Erinnerungen dort waren zu qualend fur sie!«
»Warum wurde mir das nicht gesagt«, zeterte Poirot, schlug mit der Faust auf den Tisch und geriet in hochste Erregung.
»Ich frage Sie - warum - wurde - mir - das - nicht -gesagt? Sie sind ein vollkommen verblodetes altes Weib! Und Leonie und Denise sind nicht viel besser. Alle drei seid ihr Dummkopfe! Eure Blodheit hat beinahe den Tod eurer Herrin verursacht. Und ohne dieses mutige Kind -«
Er brach ab, scho? durch das Zimmer auf das junge Madchen zu, das sich gerade uber Mme. Renauld neigte, um sie zu stutzen, und umarmte sie mit gallischem Feuer, was mich verstimmte.
Ein strenger Befehl Poirots ri? mich aus meinen dusteren Betrachtungen; er hie? mich, sofort den Arzt zu Mme. Renauld zu holen. Nachher sollte ich die Polizei verstandigen. Dann fugte er hinzu, und das machte das Ma? voll: »Es lohnt wirklich nicht, da? du zuruckkommst. Ich werde zu beschaftigt sein, um mich dir widmen zu konnen, und Mademoiselle ernenne ich zur Krankenschwester.«
Ich zog mich mit aller Wurde zuruck, die ich aufbringen konnte.
Nach der Erledigung meiner Auftrage begab ich mich ins Hotel. Von dem, was vorgefallen war, verstand ich soviel wie nichts. Die Ereignisse dieser Nacht kamen mir phantastisch, kamen mir unmoglich vor. Niemand beantwortete meine Fragen. Niemand schien sie gehort zu haben. Argerlich warf ich mich auf mein Bett, um bald erschopft in wirren Schlummer zu sinken.
Als ich erwachte, schien die Sonne durch die geoffneten Fenster ins Zimmer, und Poirot sa? lachelnd an meinem Lager.
»Endlich erwachst du! Das nenne ich einen Siebenschlafer! Hastings, wei?t du, da? es beinahe elf Uhr ist?«
Ich stohnte und griff mit der Hand nach dem Kopf. »Ich mu? schwer getraumt haben«, sagte ich. »Denk dir, mir traumte, da? wir Marthe Daubreuils Leiche in Mme. Renaulds Zimmer fanden und da? du erklartest, sie hatte Monsieur Renauld ermordet.«
»Du traumst nicht. Das alles ist richtig.«
»Bella Duveen totete doch Monsieur Renauld?«
»O nein, Hastings, sie war es nicht! Sie sagte nur, sie habe es getan - ja - um den Mann, den sie liebte, vor dem Galgen zu bewahren.«
»Was?«
»Erinnere dich an Jacks Bericht. Beide trafen im gleichen Augenblick am Schauplatz des Mordes ein, und jeder hielt den anderen fur den Morder. Das Madchen starrt ihn voll Entsetzen an, sto?t einen Schrei aus und lauft davon. Aber als sie hort, da? das Verbrechen ihm zugeschrieben wird, kann sie den Gedanken nicht ertragen, sie tritt vor, um sich selbst zu bezichtigen und ihn so vor sicherem Tod zu retten.«
Poirot lehnte sich zuruck und faltete die Hande. »Der Fall befriedigte mich nicht«, bemerkte er in dozierendem Tone. »Die ganze Zeit uber stand ich unter dem Eindruck, da? ich es mit einem kaltblutig wohluberlegten Verbrechen zu tun hatte, von jemandem verubt, der darauf ausging, Monsieur Renaulds eigene Plane auszufuhren, um die Polizei von der richtigen Spur abzulenken. Der gro?e Verbrecher (du erinnerst dich vielleicht, da? ich schon einmal die Bemerkung machte) ist immer uberaus unkompliziert.« Ich nickte.
»Nun, zur Aufrechterhaltung dieser Theorie mu?te der Verbrecher mit den Planen Monsieur Renaulds vollkommen vertraut gewesen sein. Dies bringt uns auf Mme. Renauld. Aber, es fehlen alle Beweise, die den Schuldverdacht gegen sie rechtfertigen wurden. Kommt noch jemand in Betracht, der von seinen Planen Kenntnis haben konnte? Ja. Aus Marthe Daubreuils eigenem Munde erfuhren wir, da? sie den Auftritt Renaulds mit dem Landstreicher belauscht hatte. Wenn sie einmal lauschte, liegt kein Grund zur Annahme vor, da? sie nicht alles andere auch gehort hat, falls Monsieur und Madame Renauld unvorsichtig genug waren, ihre Plane auf jener Bank zu erortern. Erinnere dich, wie deutlich du von jenem Platz aus Marthes Gesprach mit Jack Renauld hortest.«
»Aber welchen Grund konnte Marthe fur die Ermordung Monsieur Renaulds haben?« argumentierte ich.
»Welchen Grund? Das Geld! Renauld war vielfacher Millionar, und nach seinem Tode sollte die Halfte dieses gewaltigen Vermogens Jack zufallen (so nahmen wenigstens Jack und sie an). Rekonstruieren wir die Szene vom Standpunkt Marthe Daubreuils.
Marthe Daubreuil belauscht das Gesprach zwischen Renauld und seiner Gattin. Bis dahin war er den Daubreuils, der Mutter und der Tochter, eine nette Einnahmequelle gewesen, aber nun beabsichtigte er, ihren Netzen zu entkommen. Vielleicht erwagt sie zuerst den Gedanken, diese Flucht zu vereiteln. Aber bald verdrangt ein kuhnerer Plan diesen Gedanken, ein Plan, vor dem die Tochter der Jeanne Beroldy nicht zuruckschreckt! Nun steht Renauld ihrer Vereinigung mit Jack unerbittlich im Wege. Wenn letzterer seinen Vater herausfordert, wird er verarmen - was durchaus nicht nach Marthes Geschmack ist. Ich bezweifle sogar, da? sie wirklich an ihm hing. Sie konnte Gemutsbewegung vortauschen, war aber tatsachlich der gleiche kaltberechnende Typ wie ihre Mutter. Ich begreife auch, da? sie von ihrer Macht uber Jack uberzeugt war. Sie hatte ihn geblendet und bestrickt, aber von ihm getrennt, was sein Vater so leicht bewerkstelligen konnte, lief sie Gefahr, ihn zu verlieren. Ware aber Renauld tot und Jack der Erbe seines halben Vermogens, so konnten sie gleich heiraten und es fiele ihr mit einem Schlage Reichtum zu - nicht bettelhafte Summen, wie man sie bisher aus ihm herausgezogen hatte. Und ihrem klugen Kopf leuchtet die Einfachheit dieser Folgerung ein. Es ist ja alles so leicht. Renauld entwirft alle Einzelheiten fur sein Ableben - an ihr liegt es nur, im richtigen Augenblick einzugreifen, und dies Possenspiel in grausige Wahrheit zu verwandeln. Und nun komme ich zu dem zweiten Anhaltspunkt, der mich unfehlbar auf Marthe Daubreuil wies - dem Dolch! Jack Renauld hatte drei Andenken anfertigen lassen. Eines schenkte er seiner Mutter, eines Bella Duveen - war es daher nicht hochstwahrscheinlich, da? er das dritte gerade an Marthe Daubreuil weitergab?
Zusammenfassend ergeben sich vier belastende Momente gegen Marthe Daubreuil:
1. Marthe Daubreuil konnte Renaulds Plane erlauscht haben.
2. Marthe Daubreuil hatte ein direktes Interesse an Renaulds Tod.
3. Marthe Daubreuil war die Tochter der verruchten Madame Beroldy, die meiner Ansicht nach die moralische und eigentliche Morderin ihres Gatten war, wenn auch der entscheidende Schlag wahrscheinlich von Georges Conneau gefuhrt worden war.