»Sie brauchen irgendeine Ablenkung. Sonst werden Sie nicht mal funf Meter zurucklegen konnen.«

Ich uberlegte. »Ich schatze, Sie haben Recht. Was schlagen Sie vor?«

»Zunachst mal sollten wir herausfinden, ob sich da drin drei oder dreihundert Leute aufhalten.«

Er sah zu dem Fenster, durch das ich zum ersten Mal den jungen Mr. Billings uber den Rasen hatte eilen sehen. »Kommen Sie«, sagte Miller und ging zwischen den Grabsteinen vor mir her, bis wir das Fenster erreicht hatten.

Im Inneren der Kapelle zuckten so grelle Blitze, dass ich eine Hand vor meine Augen legen musste, um nicht geblendet zu werden. Der Gesang des jungen Mr. Billings war heftiger und komplizierter geworden, bis er schlie?lich nahezu schrie. Ich richtete mich so weit auf, dass ich gerade uber die murbe Steinfensterbank spahen konnte. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, dass Miller das Gleiche machte.

Keiner von uns sagte etwas, als wir ins Innere der Kapelle blickten. Miller verstand zwar nicht die Bedeutung dessen, was sich uns prasentierte, dennoch hatte er den Mund geoffnet und wirkte so, als weigere sich sein Verstand, das als wahr anzuerkennen, was seine Augen sahen.

An der linken Wand der Kapelle hatte man samtliches Efeu entfernt, wodurch nicht nur das Wandgemalde von Kezia Mason, sondern auch die Bildnisse zahlloser weiterer junger Frauen freigelegt worden waren. Nach der Mode der Kleidung auf den Malereien zu urteilen, stellten sie vermutlich samtliche Frauen dar, die uber Generationen hinweg als Wirt fur das Hexen-Wesen gedient hatten. Alle hatten den gleichen Gesichtsausdruck und die gleiche Korperhaltung wie Kezia Mason, das gleiche Spottische, Triumphierende. Und jede von ihnen hatte einen eigenen Brown Jenkin, mal auf der Schulter liegend, mal im Arm gehalten. Manche von ihnen sahen aus wie Katzen oder Echsen, andere wie eine Kreuzung aus Hund und Krote.

Dort, wo sich fruher das Mittelschiff der Kapelle befunden hatte, waren jetzt drei riesige Pfannen. Sie sahen aus, als habe man sie aus alten Chemiefassern gefertigt, grobschlachtig mit Lochern versehen und mit Kohle und trockenem Holz gefullt. Metallgitter waren uber diese Pfannen gelegt worden, auf denen gut zehn gro?e Fleischstucke gerostet wurden. Ich hielt sie zunachst fur Spanferkel, doch als sich der Rauch fur einen Moment verzog, konnte ich ein Gesicht ausmachen.

Das waren keine Spanferkel, das waren Kinder! Die abgeschlachteten Waisen des Fortyfoot House. Einigen waren Arme und Beine abgehackt worden, andere hatte man enthauptet. Einige waren mit Draht an den Gittern befestigt worden; vermuuich hatten sie noch gelebt, als man begonnen hatte, sie zu rosten.

Von den Pfannen bis zum Altar waren die zerbrochenen Ziegel mit den Knochen von Kindern ubersat. Der Altar selbst verschwand formlich unter Tausenden von Knochen, die zum Teil noch frisch waren. Einige waren aber auch schon so alt, dass sie teilweise zu Staub zerfallen waren. Es fanden sich Brustkorbe, Beckenknochen, Schenkelknochen, Schulterblatter - und mehr kleine Schadel, als ich zahlen konnte.

Auf diesem Berg lag die groteskeste Kreatur, die ich jemals gesehen hatte. Allein ihr Anblick machte mich schon fast wahnsinnig. Sag, dass das nicht wahr ist, forderte mein Verstand.

Aber es war nur allzu wahr. Es war eine Frau, eine unglaublich aufgeblahte Frau, die nackt auf einem Stapel aus Decken und blutverschmierten Matratzen lag. Ihr Bauch war eine gewaltige Kugel, und was den Anblick noch schlimmer machte, waren die unablassigen Bewegungen, als sei eine Kreatur in ihrem Bauch gefangen, die unbedingt in die Freiheit gelangen wollte. Auch ihre Bruste waren massiv angeschwollen, wahrend ihr Hals so aufgedunsen war, dass ihr Gesicht einer winzigen Puppenmaske glich.

Neben ihr kniete eine in schmutzige Lumpen gehullte Gestalt, von der Kezia Mason angeblich Brown Jenkin bekommen hatte - der Konig der Docklands-Unterwelt: Mazurewicz. Seine schmierigen blo?en Hande futterten sie mit Fleisch und Knorpel und lauwarmem Fettgewebe. Sie lie? sich alles in ihren winzigen Mund stopfen und schluckte das meiste unzerkaut, was ihren Bauch nur noch heftiger zucken lie?.

Der junge Mr. Billings stand nicht weit davon entfernt, trug aber nicht Schwarz, wie sonst ublich, sondern hatte sich ein schlichtes wei?es Laken ubergeworfen, das ihn wie Marcus Antonius aus Julius Casar wirken lie?. Er hielt seine Augen geschlossen und seine Arme erhoben und schrie noch immer diese Gesange in den Himmel, wieder und wieder.

»Tekeli-li! Tekeli-li!«

»Schei? Holle«, sagte Miller.

»Wo ist Danny?«, fragte ich. »Konnen Sie ihn sehen?«

Er schob seinen Kopf etwas hoher uber die Fensterbank.

»Dort«, sagte er. »In der Ecke, in der Nahe der Wand. Brown Jenkin hat ihn in seiner Gewalt, aber er scheint unverletzt zu sein.«

»Vielleicht warten sie, bis alle diese armen Kinder gar sind«, erwiderte ich.

Ich war so verstort von dem, was ich gesehen hatte, dass ich zu Boden blicken und eine Hand gegen meine Stirn pressen musste. Ich wusste nicht, ob ich Angst oder Verbitterung oder Hoffnung oder vielleicht nichts dergleichen spurte.

Miller senkte den Kopf und kam zu mir heruber. »Horen Sie«, sagte er. »Je schneller wir handeln, umso besser. So wie bei Drogenrazzien. Wir platzen beide herein und schreien wie die Verruckten. Das hilft, um sie zu verwirren. Ich renne nach rechts, als wurde ich versuchen, den Kerl in dem wei?en Nachthemd auszuschalten, wahrend Sie nach links rennen und sich Danny schnappen. Dann gehen Sie durch die Tur wieder raus, wahrend ich aus dem Fenster springe. Und dann rennen Sie so, als hatte Ihnen jemand Feuer unter dem Hintern gemacht.«

»Und Brown Jenkin?«, fragte ich.

»Verpassen Sie ihm einen Tritt in die Eier, sofern er welche hat. Zogern Sie nie, und schreien Sie weiter. Und warten Sie nicht auf mich, denn ich werde nicht auf Sie warten.«

»Also gut.« Ich schluckte. Wieder zuckten Lichter nach drau?en, der Boden zitterte heftig. Ich horte das entsetzliche Gerausch der Schadel, die ihren Halt verloren und aus dem Knochenberg rutschten.

Schulter an Schulter standen wir vor dem Vordereingang der Kapelle. Ich hatte solche Angst, dass ich kaum atmen konnte, was mir bei der brennenden Luft ohnehin schwer fiel. Ich musste mich alle Augenblicke rauspern, um den hartnackigen Hustenreiz zu bekampfen.

»Bereit?«, fragte Miller.

Ich sah ihn an. Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass ich nicht die leiseste Ahnung hatte, wer er eigentlich war. Und doch befand er sich jetzt an meiner Seite, in einem unvorstellbaren Abenteuer, riskierte sein Leben, um gegen das obszonste Geschopf zu kampfen, das ich jemals gesehen hatte.

»Bereit«, sagte ich. »Und ... danke.«

»Unfug. Das ist mein Job.«

Gemeinsam sturmten wir in die Kapelle und schrien aus Leibeskraften. Im gleichen Moment erschutterte ein ohrenbetaubender Donner die Ruine. Der kurz danach in den Boden der Kapelle einschlagende Blitz blendete uns, wahrend Knochen und Dachziegel wie Schrapnellgeschosse in alle Richtungen flogen.

Ich zogerte eine Sekunde lang, war verwirrt, lief dann aber brullend weiter, sprang uber die Dachziegel und eilte auf Danny und Brown Jenkin zu. Der hatte Danny bereits das T-Shirt ausgezogen, wahrend er mit einem langen Eisenstuck das Feuer in der nachstbesten Pfanne weiter schurte. Ich sah, dass Tranen uber Dannys Wangen liefen.

»Pretty fire, oui? You like the pretty fire?«

Ich glaube nicht, dass Brown Jenkin mich kommen sah, ganz im Gegensatz zu Danny. Der machte abrupt einen Satz nach hinten. Wahrend Brown Jenkin nach ihm greifen wollte, rannte Danny auf mich zu, als konne er ein Sportabzeichen gewinnen, wenn er schnell genug bei mir war.

»Ahhhhhhhh!«, kreischte Brown Jenkin und eilte ihm mit wehendem schwarzen Umhang hinterher.

Danny kam buchstablich in meine Arme geflogen, ich fing ihn auf und rannte los, um die Pfannen, zwischen dem widerwartigen Rauch verschmorter Kinder hindurch, wahrend meine Schuhe Knochen und Dachziegel zertraten. Ich verga?, weiter zu schreien, doch da ich jetzt Danny im Arm hielt, hatte ich ohnehin nicht genug Atem dazu.

»Bastardbastard, I cut out your lunchpipes!«, jaulte Brown Jenkin, der hinter mir herhupfte.

Ich blieb stehen und setzte kurz Danny ab, um gegen die letzte der Pfannen zu treten und Brown Jenkin mit gluhender Kohle und brennendem Holz und den gerosteten Korpern seiner unschuldigen Opfer zu

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