Sie gingen durch den Palast in Richtung Sudflugel bis zu den nunmehr verlassenen Unterkunften der Palastwachen. Hier stiegen sie die Treppen hinunter, und Ambrosinus begriff, da? sie sich auf dem Weg zur kaiserlichen Basilika befanden, an der er kurz zuvor uber die Emporen gehend vorbeigekommen war. Sie durchquerten das Schiff und stiegen in eine Krypta hinunter, die zum Teil vom sumpfigen Wasser der Lagune uberschwemmt war. Der Hauptaltar und der kleine Chorraum ragten aus dem Wasser wie eine kleine Insel, die uber einen aus Ziegeln erbauten Laufsteg mit dem Pflaster drau?en verbunden war. Wer ihn benutzte, uberquerte die Oberflache des Wassers, unter der ein altes Mosaik glanzte, welches den Tanz der Jahreszeiten darstellte. Auf dem Marmor des Altars lag Flavia Serenas Leichnam. Er war wei? wie Wachs, gehullt in eine Decke aus wei?er Wolle, die auf beiden Seiten herabfiel. Ihre Haare waren wohlgeordnet und ihr Gesicht sauber gewaschen und leicht geschminkt. Irgendeine Magd aus dem Palast mu?te sich der Leiche angenommen und sie so gut hergerichtet haben, wie dies moglich war.
Romulus trat vorsichtig an sie heran und betrachtete sie eingehend - so, als konnte sich diese kalte sterbliche Hulle wie durch ein Wunder unter der Warme seines Blicks wiederbeleben. Dann fullten sich seine Augen mit Tranen; er legte die Stirn auf den eiskalten Marmor und begann heftig zu schluchzen. Ambrosinus, der sich ihm genahert hatte, aber nicht wagte, ihn zu beruhren, lie? ihm Zeit, seinen Gefuhlen freien Lauf zu lassen. Endlich sah er, wie er sich das Gesicht trocknete, und horte, da? er leise etwas vor sich hin murmelte, was er aber nicht verstehen konnte. Da hob Romulus den Kopf und wandte sich zu den Umstehenden, den barbarischen Soldaten in Wulfilas Diensten, und sein Erzieher war beeindruckt von der Festigkeit seines Blickes, als er sagte: »Dafur werdet ihr bezahlen. Ihr werdet alle bezahlen. Gott verfluche euch, ihr Rudel tollwutiger Hunde.«
Keiner von ihnen verstand diese letzten Worte des Knaben, die er in einem ebenso feierlichen und altertumlichen Latein hervorgebracht hatte wie zuvor seine Verwunschung, und sein Erzieher war erleichtert. Doch oben, von einem kleinen Vorsprung der Apsis aus, die mit den Emporen verbunden war, hatte Odoaker, von seinen Wachen und einem seiner Diener flankiert, die Szene beobachtet. »Was hat er gesagt?« fragte er den letzteren.
»Er hat euch alle verflucht«, antwortete der Diener kurz und bundig. Odoaker verzog das Gesicht zu einer Grimasse verachtlichen Mitleids, aber Wulfila, der halb versteckt im Schatten hinter ihm stand, schien der lebendige Beweis fur diesen Fluch zu sein. Der breite Schmi?, den ihm Aurelius' Schwert beigebracht hatte, entstellte sein Antlitz, und die Stiche der Naht, die dem Chirurg des Palastes zu verdanken war, lie?en das aufgedunsene Gesicht mit den geschwollenen, zu einer grotesken Fratze verzerrten Lippen noch absto?ender wirken.
Odoaker wandte sich an die neben ihm stehenden Wachen: »Fuhrt den Jungen zuruck in sein Zimmer und bringt mir den Alten! Er mu? uber den Uberfall heute nacht Bescheid wissen.« Er warf einen letzten Blick auf Flavia Serenas Leichnam, und niemand konnte in dieser Dunkelheit den Ausdruck tiefen Schmerzes sehen, der einen Moment lang in seinem Blick lag. Dann drehte er sich um und ging, gefolgt von Wulfila, in Richtung der kaiserlichen Gemacher davon. Einer der Wachter stieg in die Krypta hinunter und murmelte dem Kommandanten etwas zu; gleich darauf wurde Romulus von seinem Lehrer getrennt, der von dem Hinzugekommenen abgefuhrt wurde. Der Knabe rief ihm nach:
»Keine Angst. Wir werden uns bald wiedersehen. Verzage nicht, niemand darf dich mehr weinen sehen, niemand, unter gar keinen Umstanden. Du warst Zeuge, wie deine beiden Eltern umgebracht wurden, im ganzen Leben kann es keinen gro?eren Schmerz geben als diesen. Jetzt kannst du nur noch aus dem tiefen Abgrund herausklettern, in den du gesturzt bist, und ich werde ich dir dabei helfen.« Und damit ging er hinter seinen Wachtern her.
Odoaker erwartete ihn im Gemach des Kaisers, in dem Raum, der das Arbeitszimmer des vorhergehenden Kaisers, Julius Nepos, und von Flavius Orestes gewesen war.
»Wer war der Mann, der heute nacht versucht hat, die Gefangenen zu befreien?« fragte er ihn ohne Umschweife. Ambrosinus lie? seinen Blick an den langen Regalen voller Rollen und Buchern entlang wandern, die ihn daran erinnerten, da? er selbst in den wenigen Monaten, die er als Mitglied der kaiserlichen Familie in dieser prachtvollen Residenz verbracht hatte, in so manchen von ihnen gelesen hatte, und dies irritierte seinen Gesprachspartner so sehr, da? er losbrullte: »Schau mich an, wenn ich mit dir rede! Und antworte auf die Fragen, die ich dir stelle!«
»Ich wei? nicht, wer es war«, lautete die ruhige Antwort. »Ich habe ihn nie zuvor gesehen.«
»Mach dich ja nicht uber mich lustig! Niemand wurde sich auf ein solches Unternehmen einlassen ohne eine vorherige Ubereinkunft. Du hast gewu?t, da? er handeln wurde, und vielleicht wei?t du auch, wo er sich jetzt befindet. Du wirst es mir sagen! Ich habe die Mittel, dich zum Sprechen zu bringen, wenn ich will.«
»Das bezweifele ich nicht«, antwortete Ambrosinus, »aber nicht einmal du kannst mich dazu bringen, etwas zu sagen, was ich nicht wei?. Du brauchst doch nur die Manner der Eskorte zu fragen: Von dem Augenblick an, da wir die Villa verlie?en, ist niemand mit uns in Kontakt gekommen au?er deinen Barbaren. In dem ganzen Haufen, den du mit dem Massaker beauftragt hast, befand sich kein einziger Romer, und keiner von Orestes' Leuten ist dem Gemetzel entkommen, das wei?t du ganz genau. Au?erdem habe ich selbst verhindert, da? dieser Mann den letzten Versuch, den Jungen fortzubringen, zu Ende fuhrt.«
»Weil du ihn keinen weiteren Gefahren aussetzen wolltest.«
»Sehr richtig! Und weil ich bei einem derartigen Manover niemals mitgemacht hatte! Ein verzweifeltes Unterfangen, eine von vornherein verlorene Schlacht. Und der Preis war in der Tat furchterlich. Gewi?, es war nicht seine Absicht, aber leider ist dies der Preis gewesen: Meine Herrin, die Mutter des Kaisers, ware ohne diese unbesonnene Tat noch am Leben. Ich hatte einen solchen Wahnsinn niemals gebilligt, und zwar aus einem ganz einfachen Grund ...«
»Und dieser Grund ware ... ?«
»Ich verabscheue Mi?erfolge. Sicher, er ist ein sehr mutiger Mann, und dein Wachhund hier wird sich noch eine Zeitlang an ihn erinnern: Er hat ihm ja das Gesicht von einer Seite zu anderen aufgeschlitzt. Ich verstehe, da? er sich rachen will, aber ich kann euch nicht helfen, und wenn du mich auch in Stucke schneidest - aus mir bekommst du nicht mehr heraus als das, was ich schon gesagt habe.«
Er sprach mit einer solchen Ruhe und Sicherheit, da? Odoaker beeindruckt war. Ein Mann von diesem Kaliber konnte ihm nutzlich sein, ein Mann mit Verstand und gro?er Weisheit, der ihn in den Wirrungen der Politik und der Hofintrigen, in die er schon bald hineingezogen werden wurde, beraten konnte. Aber der Ton, in dem er die Worte »meine Herrin, die Mutter des Kaisers« ausgesprochen hatte, lie? keinen Zweifel an seinen Uberzeugungen und daran, wem seine Treue galt.
»Was hast du mit dem Knaben vor?« fragte ihn jetzt Ambrosinus.
»Das geht dich nichts an«, entgegnete Odoaker.
»Verschone ihn! Er kann dir in keiner Weise schaden. Ich wei? nicht, warum dieser Mann versucht hat, ihn zu befreien, aber fur dich kann das kein Grund zur Beunruhigung sein. Er war allein. Wenn es sich um ein Komplott gehandelt hatte, waren ein anderer Zeitpunkt und ein anderer Ort gewahlt worden, glaubst du nicht auch? Wenn es mehrere Leute gewesen waren, hatten sie am Weg entlang Helfer postiert und den Fluchtweg abgesichert. Ich dagegen mu?te ihm noch erklaren, von wo aus wir hatten fliehen konnen.«
Odoaker uberraschte dieses freiwillige Gestandnis und zugleich auch die zwingende Logik seiner Worte. »Aber wie hat er es dann geschafft, bis zu euren Gemachern vorzudringen?«
»Das wei? ich nicht, aber ich kann es mir vorstellen.«
»Sprich!«
»Dieser Mann kennt eure Sprache.«
»Wie kannst du da so sicher sein?«
»Weil ich gehort habe, wie er mit deinen Kriegern sprach«, erwiderte Ambrosinus.
»Und von wo aus sind sie hinausgegangen?« beharrte Odoaker.
Tatsachlich hatte sich keiner seiner Leute erklaren konnen, wie es moglich war, Romulus und Aurelius au?erhalb des Palastes anzutreffen, da doch samtliche Fluchtwege abgeriegelt waren.
»Das wei? ich nicht, weil wir durch den Angriff deiner Wachen getrennt worden sind. Aber der Junge war ganz na? und verstromte einen entsetzlichen Geruch. Ein Abwasserkanal, wurde ich sagen. Aber was hat es fur einen Zweck nachzuforschen? Du wirst dich doch nicht vor einem Knaben furchten, der kaum dreizehn Jahre alt ist! Zudem war dieser Mann allein, allein, sage ich dir, und er ist schwer verwundet worden. In dieser Stunde konnte er schon tot sein. Verschone den Jungen, ich beschwore dich. Er ist fast noch ein Kind: Was konnte er dir schon