Schmerzen diesem Mann den Kopf verwirrt. Oder vielleicht wollte er sich einfach nicht erinnern. Sie fragte ihn: »Und deine Kameraden, wo sind die jetzt?«

Aurelius seufzte. »Ich wei? es nicht. Aber wahrscheinlich sind sie alle tot. Es waren au?ergewohnliche Kampfer, die besten - die Legionare der Nova Invicta.«

»Hast du Nova Invicta gesagt? Ich habe nicht geglaubt, da? es die tatsachlich gibt! Die Legionen gehoren der Vergangenheit an, jener Zeit, als die Manner noch auf offenem Feld und in geschlossener Formation aufeinandertrafen: Fu?soldat gegen Fu?soldat, Reiter gegen Reiter ... Du bist jedenfalls davongekommen. Es ist seltsam ... In der Stadt geht das Gerucht um, da? irgendein entlaufener Verbrecher versucht hat, den Kaiser zu entfuhren. Derjenige, der hilft, ihn einzufangen, wird ein hubsches Summchen bekommen.«

»Und das mochtest du dir verdienen, oder?«

»Wenn ich das gewollt hatte, hatte ich es schon gemacht, glaubst du nicht? Du warst in einem Gefangnis aufgewacht oder unter einem Galgen, oder du warst wahrend des Transports hierher gestorben. Dann hatten wir uns nicht einmal kennengelernt.«

Ihre Worte klangen leicht ironisch. Sie hatte angefangen, mit einem Fischernetz herumzuhantieren, und schien dem Blick ihres Gastes ausweichen zu wollen. Es war nicht klar, ob dies Ausdruck des ungehobelten Benehmens eines wild aufgewachsenen Madchens war oder einfach nur aus Scheu geschah. Aurelius schwieg eine Weile und tat, als lausche er den Rufen der Sumpfvogel, die sich auf ihre Wanderschaft vorbereiteten, und dem monotonen Gluckern des Wassers in dem grunen Becken. Er erinnerte sich an seine Kameraden, die so tief in einer Flut von Feinden versunken waren, da? er sie nicht hatte retten und ihnen nicht hatte helfen konnen. Er stellte sich ihre unbeerdigten, mit Wunden ubersaten Leichen vor -Beute streunender Hunde und wilder Tiere. Vatrenus, Batiatus, Antonius, der Kommandant Claudianus ... Es zog ihm das Herz zusammen, und die Tranen stiegen ihm in die Augen.

»Denk nicht daran«, sagte das Madchen, als wurde sie sein Gesicht betrachten. »Die Uberlebenden eines Massakers haben immer das Gefuhl, schuldig zu sein. Manchmal fur den Rest ihrer Tage. Schuldig, weil sie leben.«

Aurelius antwortete nicht, und als er wieder zu sprechen anhob, versuchte er, das Thema zu wechseln. »Aber wie kannst du nur an einem solchen Ort leben? Ein Madchen allein in einem solchen Sumpfgebiet?«

»Wir sind gezwungen, wie Barbaren zu leben, um als Romer weiterleben zu konnen«, erwiderte Livia mit leiser Stimme, als fuhre sie ein Selbstgesprach.

»Du kennst ja die Schriften des Salvianus!«

»Du auch, wie ich sehe.«

»Richtig ... Kleine Wissensfetzen, die aus meiner Vergangenheit stammen. Worte ... bisweilen Bilder ...«

Livia stand auf und trat naher an ihn heran. Aurelius hob den Blick, um sie zu betrachten: Ein Lichtstrahl, der den morgendlichen Nebel durchbohrt hatte, drang durch einen Spalt in der Mauer und beleuchtete ihren Kopf und ihre schlanke Gestalt wie eine durchscheinende Aura, wie ein glasartiger Widerschein. Sie war zweifellos faszinierend, vielleicht sogar schon. Seine Augen blieben an ihrer Brust, an einem Medaillon mit einem silbernen Adler mit ausgebreiteten Schwingen hangen, das sie um den Hals trug. Als sie seinen Blick bemerkte, anderte sich ihre Miene schlagartig. Sie starrte ihn fragend, fast forschend an. Aurelius sah wie in einem Blitz das gedehnte, verzerrte Bild einer brennenden Stadt. Uber dem Flammenmeer schien es ihm, als sahe er diese Kette mit dem Adler langsam wie ein Blatt, das in der Luft kreiselte, herabfallen. Livia ri? ihn aus seinen Gedanken: »Erinnert es dich an etwas?«

Aurelius wandte den Blick ab: »Was?«

»Das hier«, antwortete das Madchen und nahm das Medaillon in die Hand, beugte sich vor und hielt es ihm vor die Augen: ein kleiner Bronzering, einst eine Medaille, kaum gro?er als eine Solidusmunze, auf dem ein kleiner Adler aus Silber angebracht war.

»Nein«, erwiderte Aurelius kurz angebunden.

»Bist du sicher?«

»Warum sollte es?«

»Weil es mir so vorkam, als hattest du es wiedererkannt.«

Aurelius drehte sich auf seinem Lager um und legte sich auf die Seite. »Ich bin mude«, sagte er, »erschopft.«

Livia fugte dem nichts mehr hinzu. Sie wandte sich um und verschwand hinter einem Torbogen in einem Seitenraum. Kurz darauf horte man ein Meckern, und dann erschien das Madchen wieder mit einem Eimer Milch und schenkte ihm eine Tasse davon ein. »Trink«, sagte sie, »sie ist frisch gemolken, und du hast seit Tagen nichts gegessen.«

Aurelius trank, und die Warme der Milch drang ihm mit einem unertraglichen Gefuhl von Mattigkeit durch Korper und Geist: Er machte es sich auf seiner Strohmatte bequem und schlummerte ein. Livia setzte sich neben ihn und verweilte eine Zeitlang, um ihn zu betrachten. Sie suchte etwas in seinen Gesichtszugen, hatte aber nicht sagen konnen, was es war, und diese Unsicherheit verursachte ihr tiefes Unbehagen: das Unbehagen, das man empfindet, wenn man von einer plotzlichen Hoffnung durchdrungen wird und gleichzeitig von dem Bewu?tsein, da? diese Hoffnung unsinnig ist, da? sie sich nicht erfullen kann. Sie schuttelte den Kopf, wie um einen lastigen Gedanken zu vertreiben, ging zu ihrem Boot, schob es ins Wasser und ruderte durch die Lagune bis zu einem Rohricht, wo sie es sich bequem machte, um zu warten. Sie legte sich auf ihr Fischernetz, streckte sich aus und betrachtete den Himmel, der langsam dunkel wurde. Schwarme von Wildenten und -gansen zogen hoch oben in langen Reihen vor den gro?en, bauschigen Wolken dahin, die von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne rot gefarbt wurden. Bisweilen konnte man sogar deren Rufe horen. Von den Feldern, den kleinen Bachen und den Kanalen ringsum drang das eintonige Gequake der Frosche heruber, und langsam und feierlich schwebte ein Graureiher uber die Wasseroberflache.

Die herbstliche Natur und der Anblick der Vogel, die sich auf ihren Zug nach Suden vorbereiteten, stimmten sie melancholisch, obwohl sie diesem Schauspiel schon so oft beigewohnt hatte. In Augenblicken wie diesem ware auch sie gern in die Ferne geflogen, in eine andere Welt, jenseits des Meeres, um diese sumpfige Gegend zu vergessen, die vertraute und doch stets beunruhigende Silhouette der Mauern von Ravenna, die dann fur so viele Monate des Jahres im Nebel versank, die Feuchtigkeit, den lastigen Regen und den kalten Ostwind, der einem die Glieder erstarren lie? und in die Knochen kroch. Doch jedesmal, wenn der Fruhling wiederkehrte und die Schwalben zwischen den Ruinen in ihr Nest zuruckkamen, wenn die Sonne unter dem Wasserspiegel unzahlige kleine, silberglanzende Fische aufschimmern lie?, dann fuhlte sie, wie auch in ihr die Hoffnung neu aufkeimte, da? die Welt noch einmal von vorn anfangen, da? alles irgendwie wiedergeboren werden konnte.

Sie hatte immer wie ein Mann gelebt, hatte sich daran gewohnt, in einer rauhen, beschwerlichen und oft feindseligen Umwelt zu uberleben, sich zu verteidigen und ohne Rucksicht auf Verluste anzugreifen und Korper und Geist abzuharten, doch sie hatte niemals ihre Wurzeln vergessen, die wenigen unbeschwerten Jahre, die sie im Scho?e ihrer Familie, in der Stadt ihrer Geburt, verbracht hatte. Sie erinnerte sich an das lebhafte Treiben dort, an die Markte, die Schiffe im Hafen, die Tage des Jahrmarkts, die Zeremonien der vielen verschiedenen Religionen. Sie erinnerte sich an die Richter, die auf dem Forum Recht sprachen, auf ihren Stuhlen sitzend, in wei?e Gewander gehullt, feierlich wie Statuen; an die christlichen Priester, die in der von Mosaiken glitzernden Kirche die Messe feierten, und sie erinnerte sich an die Schauspiele im Theater und den Unterricht der Lehrer in den Schulen. Sie erinnerte sich, was Kultur gewesen war. Bis eines Tages aus dem Osten eine Horde Barbaren gekommen war, kleine und wilde Leute mit schmalen Augen, die Haare zu Schwanzen zusammengebunden, die denen ihrer struppigen Pferde ahnelten. Es kam ihr vor, als horte sie noch immer den langgezogenen Klagelaut der Horner, der von den Mauern widerhallte und Alarm ausloste; und noch einmal sah sie vor ihrem geistigen Auge, wie die Soldaten zu den Schie?scharten liefen, Stellung bezogen und sich auf einen langen, au?erst harten Widerstand gefa?t machten. Der Kommandant der Garnison weilte in der Ferne, um einen Auftrag zu erfullen. Das Kommando wurde von einem blutjungen Offizier ubernommen. Wenig mehr als ein Junge. Viel mehr als ein Held.

Das Gerausch eines Ruders ri? sie aus ihren Gedanken, sie setzte sich auf und spitzte die Ohren. Ein Boot naherte sich, fuhr am Ufer entlang, landete zwei Manner an: Der eine war schon im vorgeruckten Alter, gut gekleidet und mit wurdevoller Korperhaltung; der andere - Livia hatte ihn schon ofter gesehen - war ungefahr funfzig Jahre alt, nicht sehr gro?, schlank, hatte feine Gesichtszuge und stellte eine Art Leibwachter fur den Alten dar. Sie glitt mit dem Boot aus dem Rohricht heraus, naherte sich ihm und sprang an Land. »Antemius«, begru?te

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