sie den Alten, »ich habe schon geglaubt, du wurdest nicht mehr kommen.«
»Es ist nicht leicht gewesen, die Stadt zu verlassen. Sie haben ein wachsames Auge auf mich, und ich will keinen Verdacht wecken. Ich mu?te also warten, bis sich mir ein glaubhafter Vorwand bot. Ich habe wichtige Neuigkeiten, aber auch du hast mir etwas zu berichten, wenn ich mich nicht irre.«
Livia hangte sich bei ihm ein und begleitete ihn auf dem Weg zu einer verlassenen Hutte, die fast bis zur Hohe der unteren Fenster im stehenden Wasser versunken war. Sie wollte sicher sein, da? niemand sie horte.
»Der Mann, den ich neulich in der Nacht gerettet habe, ist derselbe, der versucht hat, den Kaiser aus dem Kaiserpalast zu entfuhren.«
»Bist du sicher?«
»So sicher, wie ich hier stehe. Er wurde von einer Gruppe Barbaren aus Odoakers Truppen verfolgt. Au?erdem: Als ich ihm erzahlt habe, da? man in der Stadt nach einem Deserteur fahndet, der versucht hat, den Kaiser zu entfuhren, hat er noch nicht einmal versucht zu leugnen, da? er es war.«
»Wer ist es?« fragte Antemius.
»Er behauptet, ein Legionar der Nova Invicta zu sein. Vielleicht ein Offizier, ich wei? es nicht.«
»Das ist die Truppe, die Orestes heimlich ausbilden lie?, um aus ihr den Eckpfeiler des neuen Reiches zu machen. Sie ist vernichtend geschlagen worden.«
Livia sah noch einmal im Geiste, wie Aurelius' Blick sich mit Schrecken erfullte, als er sich an das Opfer seiner Kameraden erinnerte, und schwieg. »Stimmt es, da? keiner entkommen ist?« fragte sie dann.
»Ich wei? es nicht. Vielleicht der eine oder andere, wenn sie Sklaven brauchten. Morgen mu?te das Heer unter dem Befehl von Mledo zuruckkehren, das Odoaker entsandt hatte, um sie zu vernichten. Ob es Uberlebende gegeben hat, wird man dann ja sehen. Der Uberfall dieses Soldaten war eine Katastrophe. Er hat zwar ein Dutzend Barbaren umgebracht, was mich naturlich schon mit Genugtuung erfullt, aber er hat, wenn auch unbeabsichtigt, den Tod der Mutter des Kaisers, Flavia Serena, bewirkt und im Palast gro?e Unruhe ausgelost. Die Barbaren verdachtigen alles und jeden. Vorubergehend habe ich sogar befurchtet, da? der Kaiser in Lebensgefahr ist, aber glucklicherweise hat Odoaker beschlossen, ihn nicht zu opfern.«
»Sehr gro?zugig von ihm! Aber die Sache la?t mir keine Ruhe. Soweit ich wei?, tut Odoaker nichts umsonst, und dieser kleine Junge kann fur ihn doch nur Probleme schaffen.«
»Da irrst du dich aber«, sagte Antemius zu ihr. »Odoaker hat begriffen, wie Politik funktioniert. Wurde er den Kaiser toten, dann wurde er den Ha? und die Verachtung der romischen Bevolkerung auf sich ziehen und gro?en Ansto? beim christlichen Klerus erregen, der ihn mit Herodes vergleichen wurde, und im Osten wurde deutlich werden, da? er den Purpur fur sich reklamiert. Wenn er den Knaben aber verschont, gilt er als hochherziger und milder Mensch und weckt in Konstantinopel keinen gefahrlichen Argwohn.«
»Aber glaubst du, da? in Konstantinopel sich jemand um Romulus Augustus schert? Zenon hat den fruheren Kaiser des Westens, Julius Nepos, unterstutzt und ihn wahrend seines Exils, also nach seiner Absetzung durch Flavius Orestes, in seinen dalmatinischen Besitzungen beherbergt. Soweit ich informiert bin, machen sie sich da unten uber den Knaben eher lustig. Sie nennen ihn
»Aber Zenon ist abgesetzt worden, und inzwischen regiert Basiliskos, der sich zur Zeit in Spalato aufhalt, nur eine eintagige Schiffsreise von hier entfernt. Ich habe eine kleine Delegation entsandt. Als Fischer getarnt, werden ihn meine Gesandten in spatestens zwei Tagen treffen, und wir werden bald die Antwort wissen.«
»Worum hast du ihn gebeten?«
»Dem Kaiser Zuflucht zu gewahren.«
»Und du glaubst, da? er zustimmen wird?«
»Ich habe ihm ein interessantes Angebot gemacht. Ich glaube schon.«
Uber der weiten Flache der stillen Lagune ging die Sonne unter, und vor der gro?en, rotlich gluhenden Scheibe, die in das flache, in der Dunkelheit liegende Land versank, zeichnete sich eine lange Reihe berittener Krieger ab.
»Mledos Vorhut«, sagte Antemius. »Morgen werde ich mit Sicherheit wissen, ob sich einige Kameraden deines Kriegers retten konnten.«
»Warum machst du das?« wollte Livia wissen.
«Was?«
»Warum versuchst du, den Jungen zu retten? Nicht einmal du kannst irgendeinen Vorteil davon haben, denke ich.«
»Nicht ich personlich. Aber ich bin der Familie Flavia Serenas immer treu ergeben gewesen. Die Treue ist eine Tugend, die typisch ist fur die Alten: Man ist zu mude, um seine Einstellung und seine Ideale zu andern ...« Er seufzte. »Ich habe ihrem Vater uber Jahre gedient, und ich hatte alles Menschenmogliche getan, um ihr zu helfen, wenn ich die Zeit dazu gehabt hatte, wenn dieser Soldat sich nicht eingemischt hatte.«
»Vielleicht hatte auch er seine guten Grunde.«
»Ich will es hoffen, und es wurde mich freuen, ihn kennenzulernen, wenn es dir gelingt, ihn zum Sprechen zu bringen.«
»Und wenn Basiliskos sich geneigt zeigt, dem Knaben Asyl zu gewahren, was wirst du dann tun?«
»Ich werde ihn befreien.«
Livia, die in diesem Augenblick einen Schritt vor ihm herging, drehte sich mit einem Ruck zu ihm um: »Wie bitte, was wirst du tun?«
»Ich habe es dir gesagt: Ich werde ihn befreien.«
Livia schuttelte den Kopf und sah ihn mit spottischer Miene an. »Bist du nicht zu alt fur derartige Abenteuer? Und wo wirst du die Leute fur ein solches Unterfangen finden? Du hast gesagt, da? Odoaker sein Leben schonen wird. Das ist doch schon viel, glaubst du nicht? Es ist besser, die Dinge so zu lassen, wie sie sind.«
»Ich wei?, da? du mir helfen wirst«, fuhr Antemius fort, als habe sie nichts gesagt.
»Ich? Ich denke nicht daran! Ich habe bereits Kopf und Kragen riskiert, um diesen Unglucklichen zu retten. Es geht mir gegen den Strich, in einem hoffnungslosen Spiel das Schicksal herauszufordern.«
Antemius ergriff ihren Arm. »Auch du hast einen Traum, Livia Prisca, und ich kann dir helfen, da? er Wirklichkeit wird. Ich werde dir eine riesige Summe geben: Du wirst genug haben, um jeden zu bezahlen, den du brauchst, um das Unternehmen zu einem guten Ende zu bringen, und es wird dir davon noch so viel bleiben, da? du die Verwirklichung deiner Plane in die Wege leiten kannst. Sicher, im Moment ist alles noch zu fruh: Zuerst mussen wir Basiliskos' Antwort abwarten. Jetzt komm, wir kehren um. Man konnte meine Abwesenheit bemerken.«
Sie naherten sich Antemius' Boot. Sein Begleiter sa? am Ufer und wartete auf ihn.
»Stephanus ist mein Sekretar und mein Leibwachter, mein Schatten, konnte ich sagen. Er ist in alles eingeweiht. Kunftig konnte er derjenige sein, der die Verbindung aufrechterhalt.«
»Wie du willst«, antwortete Livia, »aber ich glaube, da? du zu zuversichtlich bist: Basiliskos wird fur Romulus' Leben keinen Pfifferling geben.«
Antemius erwiderte nur: »Das werden wir ja sehen.« Er stieg in das Boot, und Stephanus nahm die Ruder in die Hand. Livia blieb regungslos am Ufer stehen und sah ihnen nach, bis sie in der Dunkelheit der Abenddammerung verschwanden.
VI
Die Kolonne bewegte sich uber einen Damm, der die Lagune von Norden nach Suden durchzog; er fuhrte auf dem Rucken einer ganzen Kette von Kustendunen entlang zum Festland. Hier nahm eine Stra?e aus gestampfter Erde ihren Anfang, die nach einigen Meilen in die gepflasterte Stra?e mundete, die Via Romea genannt wurde. Sie stellte seit vielen Jahren die bevorzugte Route jener Pilger dar, die aus ganz Europa nach Rom stromten, um dort an den Grabern der Apostel Petrus und Paulus zu beten. An der Spitze ritt Wulfila, im Sattel seines Schlachtrosses sitzend, mit Axt und Schwert bewaffnet, den Oberkorper bedeckt mit einem Panzerhemd, das an den Schultern und auf der Brust mit Metallplatten verstarkt war. Er ritt schweigend, scheinbar in seine Gedanken versunken, in Wirklichkeit aber entging seinem grimmigen Blick nichts von dem, was sich in den Feldern und am Stra?enrand entlang regte. Rechts und links gaben ihm zwei Wachen Flankenschutz und suchten mit den Augen jeden Quadratmeter des weiten Gelandes ab, das sich vor ihnen ausbreitete.
Zwei Trupps, die je aus einem Dutzend Krieger bestanden, durchstreiften zu beiden Seiten der Stra?e in einem Abstand von vielleicht einer halben Meile von der Hauptkolonne die Gegend, um jeden moglichen Uberfall zu