nicht zu sagen. Wenn du gehen willst, dann geh. Du schuldest mir nichts.«
Aurelius brachte kein Wort heraus.
»Wohin gedenkst du zu gehen?« nahm Livia den Gesprachsfaden wieder auf.
»Ich wei? es nicht«, antwortete Aurelius. »Fort. Weit weg von dieser Gegend, weg von diesem Gestank nach ihrer Barbarei und unserer Verderbnis, nur weg von diesem unaufhaltsamen Niedergang, weg von meinen Erinnerungen, weg von allem. Und du? Wirst du fur immer in diesem Sumpf bleiben?«
Livia trat naher an ihn heran. »Es ist nicht so, wie du glaubst«, sagte sie. »Aus diesem Sumpf erwachst eine Hoffnung. Und es ist auch kein Sumpf, sondern eine Lagune. Hier gibt es das Leben und den Atem des Meeres.«
Juba schnaubte leise und scharrte mit den Hufen, als wurde er diese ganze Verzogerung nicht verstehen. Livia griff nach dem Medaillon, das sie am Halse trug, und druckte es zwischen den Fingern. Aurelius schuttelte den Kopf. »Es gibt keine Hoffnung, von keiner Seite. Nur Zerstorung, Plunderung, Gewalttatigkeit.«
»Warum hast du dann versucht, dieses Kind zu entfuhren?«
»Ich wollte es nicht entfuhren. Ich wollte es befreien.«
»Schwer zu glauben.«
»Ob du mir glaubst oder nicht - sein Vater hat mich im Angesicht seines Todes gebeten, es zu tun. Ich traf nach dem Gemetzel in der Villa von Piacenza ein. Ich kam aus dem Lager meiner bereits von einer feindlichen Ubermacht umzingelten Legion, um Verstarkung anzufordern ... Er atmete noch, als ich ihn fand. Mit dem letzten Hauch seines Lebens flehte er mich an, seinen Sohn zu retten. Was hatte ich tun konnen?«
»Du Wahnsinniger! Was fur ein Gluck, da? es dir nicht gelungen ist. Was hattest du sonst gemacht?«
»Das wei? ich nicht. Ich hatte ihn irgendwohin mitgenommen. Ich hatte ihm beigebracht zu arbeiten, Bienen zu zuchten, Oliven anzubauen, Ziegen zu melken. Wie ein echter Romer in den alten Zeiten.«
»Und hattest du keine Lust, es noch einmal zu versuchen?« lie? sich eine Stimme hinter ihm vernehmen.
»Stephanus! Was machst denn du hier?« fragte Livia. »Wir hatten doch vereinbart: niemals bei Tag und niemals hier!«
»Richtig! Aber es gibt einen dringenden Anla?: Sie sind abgereist.«
»Wohin?«
»Das wei? man nicht. Sie haben die Via Romea in Richtung Fano eingeschlagen. Meiner Meinung nach werden sie auf der Via Flam-mia irgendwohin nach Suden ziehen. Wir werden versuchen, so bald wie moglich mehr in Erfahrung zu bringen.«
»Wovon redet ihr?« fragte Aurelius.
»Von der Befreiung eines Jungen«, erwiderte Stephanus. »Und wir brauchen deine Hilfe.«
Aurelius sah ihn verblufft an und schuttelte unglaubig den Kopf, wahrend er sagte: »Ein Junge ... Meinst du etwa ihn?«
Stephanus nickte: »Genau, ihn! Romulus Augustus Casar, den Kaiser der Romer!«
VII
Aurelius blickte seinen Gesprachspartner erstaunt an, dann wandte er sich seinem Pferd zu und begann, ihm die Sattelriemen so festzuzurren, als wolle er gleich losreiten. »Ich denke nicht daran«, erwiderte er.
»Warum nicht?« fragte Stephanus. »Du hast es doch selber getan und eine verzweifelte Aktion gestartet, und jetzt, da wir dir fur dasselbe Unternehmen mit viel gro?eren Erfolgsaussichten unsere Hilfe und Unterstutzung anbieten, da weigerst du dich?«
»Das war etwas anderes. Ich habe es getan, weil es mir richtig erschien und weil ich glaubte, wegen meines vollkommen uberraschenden Vorgehens auf Erfolg hoffen zu konnen, und ich hatte es ja auch beinahe geschafft. Eure Ziele kenne ich nicht, und ich kenne auch euch nicht. Jedenfalls wird man nach meinem Uberfall die Bewachung verstarkt haben. Es wird niemandem mehr gelingen, in die Nahe dieses Jungen zu gelangen, da bin ich mir sicher. Odoaker wird um ihn herum ein ganzes Heer aufgestellt haben.«
Stephanus trat naher an ihn heran: »Ich vertrete eine Gruppe von Senatoren, die direkte und wichtige Kontakte mit dem Ostreich unterhalten. Wir sind uberzeugt, da? das die einzige Moglichkeit ist zu verhindern, da? Italien und der Westen endgultig in der Barbarei versinken. Einige unserer Gesandten haben Basiliskos in Spalato, in Dalmatien, getroffen, und sind mit einer wichtigen Nachricht zuruckgekehrt: Der Kaiser ist bereit, Romulus in Konstantinopel Gastfreundschaft und Schutz zu gewahren und ihm eine seinem Rang entsprechende Pension auszusetzen.«
»Und das macht euch nicht mi?trauisch?« fragte Aurelius. »Basiliskos ist, soweit ich wei?, nichts anderes als ein Usurpator. Wie konnt ihr euch auf sein Wort verlassen? Wer sagt uns, da? er den Jungen nicht noch schlechter behandeln wird als dieser Barbar?«
»Dieser Barbar hat seine Eltern niedermetzeln lassen«, erwiderte Stephanus barsch. Aurelius wandte sich ihm zu und sah sich mit seinem festen und, wie es schien, undurchdringlichen Blick konfrontiert. Er sprach mit einem ostlichen Akzent, der ihn an die Aussprache einiger seiner Mitkampfer erinnerte, die aus Epirus stammten.
»Au?erdem«, fuhr der andere fort, »ist Romulus zu ewiger Gefangenschaft in einem isolierten und unzuganglichen Ort verurteilt, dazu verdammt, fur den Rest seiner Tage den Alptraum und die Greuel aufs neue zu durchleben und auf den Augenblick zu warten, in dem irgendein Stimmungsumschwung seiner Bewacher sein Ende herbeifuhrt. Hast du eine Vorstellung von den Beleidigungen, den Grausamkeiten und den Abscheulichkeiten, denen ein Kind ausgesetzt sein kann, das sich in der Gewalt dieser Bestien befindet?«
Vor Aurelius' geistigem Auge erschien noch einmal Romulus und der Blick, den er ihm zuwarf, als er ihn, die Schulter von einem Pfeil durchbohrt, allein zurucklassen mu?te - ein Blick der Verzweiflung, der ohnmachtigen Wut, der unendlichen Bitterkeit. Stephanus mu?te spuren, da? etwas in Aurelius vorging, denn er fuhr fort: »Auch in Konstantinopel haben wir Freunde, von denen einige sehr einflu?reich sind, und wir haben deshalb auch die Moglichkeit, ihn wirksam zu schutzen.«
»Und Julius Nepos?« beharrte Aurelius. »Er ist immer der Kandidat des Ostreiches fur den Thron des Westens gewesen. Warum sollten sie jetzt ihre Meinung andern und ihn fallenlassen?«
Livia versuchte einzugreifen, aber Stephanus gebot ihr mit einem Blick Einhalt. »Nepos interessiert niemanden mehr, und deshalb la?t man ihn in seiner Villa in Dalmatien versauern, wo er von der Welt abgeschnitten ist. Wir haben einen viel ehrgeizigeren Plan mit diesem Jungen, doch um ihn durchfuhren zu konnen, mu? er vor den Gefahren geschutzt werden, mu? er eine angemessene Erziehung und Ausbildung erhalten, im Kaiserhaus in eine ruhige und sichere Position hineinwachsen, und er darf nicht den geringsten Verdacht erregen, bis der Augenblick gekommen ist, da er sein Erbe fur sich einfordern wird.«
Livia beschlo?, an dieser Stelle auf ihre Weise zu intervenieren. »La? es gut sein«, sagte sie, an Stephanus gewandt, »Angst ist Angst. Er hat es einmal versucht und dabei sein Leben aufs Spiel gesetzt, und er beabsichtigt nicht, es ein zweites Mal zu tun. Das ist doch nur normal.«
»So ist es«, bestatigte Aurelius, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Genau«, erwiderte Livia. »Wir konnen sehr gut allein zurechtkommen. Schlie?lich bin ich es, die ihn gerettet hat - nicht umgekehrt! In welche Richtung ist der Konvoi denn gezogen?«
»Nach Suden«, antwortete Stephanus. »Sie befinden sich auf dem Weg nach Fano.«
»Dann wollen sie also den Apennin uberqueren.«
»Wahrscheinlich, aber das ist nicht sicher. Jedenfalls werden wir das bald wissen.«
Aurelius fing wieder an, die Sattelriemen des Pferdes festzuzurren, als wurde ihn diese Unterhaltung nichts mehr angehen. Livia tat, als bemerke sie es nicht, und wandte sich wieder an Stephanus: »Stimmt es, da? Mledo zuruck ist?«
»Ja.«
»Hast du Gefangene bemerkt?«
Aurelius drehte sich mit einem Ruck um, und in seinem Blick lagen Hoffen, Bangen und Angst. Ein Satz hatte genugt, um ihn aus seinem vorgespiegelten Gleichgewicht zu bringen.
»Ungefahr funfzig, wurde ich sagen. Hochstens. Aber kann sein, da? ich mich irre - es war ja fast dunkel.«
Aurelius trat naher: » Hast du ... jemanden erkannt ?«
»Wie sollte ich das?« antwortete Stephanus. »Der einzige, der mir aufgefallen ist, war ein schwarzer Riese, ein athiopischer Herkules, ein fast sechs Fu? hoher Kolo?, in starken Ketten, der ...«