Knaben zu Hilfe kommen wollte.
»Ich hab's dir doch gesagt«, erwiderte Aurelius plotzlich, »ich bin immer Teil der Legion gewesen. Ich erinnere mich an nichts anderes.« Und der Ton in seiner Stimme verriet unmi?verstandlich, da? dieses Thema fur ihn beendet war.
So ritten sie schweigend weiter, und Livia machte ab und zu einen Abstecher und folgte einer Route, die entweder weiter oben am Berg oder weiter unten, zum Tal hin, verlief, weil sie das beharrliche Schweigen ihres Begleiters nicht ertragen konnte. Wenn sie wieder zusammentrafen, wechselte sie mit ihm nur wenige Worte uber den Weg oder uber die Schwierigkeiten des Gelandes und entfernte sich dann erneut. Aurelius war eindeutig au?erstande, sich von dem Alptraum des Massakers an seinen Kameraden, der Vernichtung seiner Truppe und der Unmoglichkeit, sie zu retten, zu befreien. An seiner Seite ritten Gespenster, bluttriefende Schatten junger Manner, die in der Blute ihrer Jahre niedergemetzelt, von Mannern, die bis zu ihrem letzten Atemzug grausam gefoltert worden waren. Er konnte ihre herzzerrei?enden Schreie horen, ihre Rufe aus der Tiefe der Unterwelt. So ritten sie mehrere Stunden im Schritt, bis es zu dammern begann und der Konvoi sich auf die Nacht vorbereitete. Livia bemerkte auf dem Gipfel eines Hugels, etwa eine Meile von Wulfilas Lager entfernt, eine Hutte und zeigte sie ihrem Begleiter. »Vielleicht konnten wir da oben ubernachten und auch die Pferde unterstellen.« Aurelius pflichtete ihr mit einem Kopfnicken bei und trieb Juba auf den Wald zu, in die Richtung des Hugels.
Er trat als erster ein und vergewisserte sich, da? niemand drinnen war. Die Hutte schien fur die Viehhuter zu sein, die die Kuhe zur Weide trieben: In einer Ecke lag etwas Stroh, und hinter dem Gebaude, unter einer Art primitivem Vordach, fand er einige Ballen Heu und Stroh. Nicht weit davon ergo? sich ein Rinnsal in eine Tranke, einen ausgehohlten Sandsteinblock, und das uberflie?ende Wasser rann zwischen gro?en, moosbedeckten Steinen nach unten, wo es sich in einem naturlichen Becken sammelte. So war ein kleiner, kristallklarer Tumpel entstanden, in dem sich der Himmel und die umstehenden Baume spiegelten. Wahrend die Sonne unterging, erstrahlte der Wald in seinen herbstlichen Farben. An den Stammen der Eichen rankten die Reben des wilden Weins empor; zwischen seinen gro?en, hochrot gefarbten Blattern sah man die kleinen Trauben mit ihren dunkelvioletten Beeren.
Aurelius kummerte sich um die Pferde, band sie unter dem Vordach fest und breitete ein wenig Heu vor ihnen aus. Livia ging unterdessen zum Tumpel, zog sich aus und tauchte hinein. Bei der Beruhrung mit dem eiskalten Wasser erschauerte sie, aber der Wunsch, sich zu waschen, war starker als die Kalte. Als Aurelius sich anschickte, den Hang hinterzusteigen, sah er ihren nackten Korper durch das glasklare Wasser gleiten, und er blieb, verzaubert von dieser markanten Schonheit, stehen, um sie ein paar Sekunden lang zu betrachten. Dann wandte er, verwirrt und beunruhigt, den Blick ab. Er ware gern naher getreten, um ihr zu sagen, wie sehr er sie begehrte, aber der Gedanke, da? sie ihn zuruckweisen konnte, war ihm unertraglich. So ging er zur Tranke und wusch sich seinerseits, zuerst den Oberkorper und die Arme und dann den Unterleib. Als Livia zuruckkam, war sie in ihre Reisedecke gehullt und hielt in der Rechten eine Harpune, auf der zwei gro?e Forellen steckten.
»Es gab nur diese beiden«, sagte sie, »und sie waren wahrscheinlich darauf gefa?t zu sterben. Geh hinunter und hol meine Kleider, sie hangen an einem Ast beim Tumpel. Ich mache derweil Feuer.«
»Du bist ja wahnsinnig! Sie werden uns bemerken und uns jemanden auf den Hals jagen!«
»Sie konnen nicht hinter jeder Rauchsaule hersein, die in der Landschaft aufsteigt«, antwortete sie. »Und au?erdem befinden wir uns in einer beherrschenden Position: Sollte irgend jemand versuchen, sich uns zu nahern, dann spie?e ich ihn auf wie diese Forellen hier und schleppe ihn in den Wald: Es dauert es nur ein paar Stunden, und von ihm existieren nicht einmal mehr die Knochen! In dieser Zeit leiden auch die wilden Tiere Hunger.«
Livia briet die Forellen, so gut sie konnte, und legte immer wieder Kiefernzweige nach, die mit einer schonen, knisternden Flamme verbrannten, aber kaum Rauch erzeugten. Als die Mahlzeit fertig war, nahm sich Aurelius den kleineren Fisch, aber Livia hielt ihm den gro?eren hin. »Du mu?t essen«, sagte sie, »du bist noch schwach, und wenn es einmal soweit ist, da? wir handgreiflich werden mussen, dann will ich einen Lowen und kein Schaf neben mir wissen. Und jetzt geh schlafen. Die erste Nachtwache ubernehme ich.«
Aurelius antwortete nicht, ging zum Rand der Lichtung und lehnte sich gegen den Stamm einer uralten Eiche. Livia sah, wie er so, regungslos und mit starren, weit aufgerissenen Augen, der Nacht entgegensah, die mit ihren Schatten und ihren Gespenstern vom Berg herunterstieg, und ware gern zu ihm gegangen, wenn er sie nur darum gebeten hatte.
Wulfila befahl, das Nachtlager in der Nahe einer Brucke aufzuschlagen, die uber einen Nebenflu? des Tibers fuhrte. Seine Leute begannen, die Schafe und Hammel zu braten, die sie bei einem Hirten beschlagnahmt hatten, der ihnen ein paar Stunden zuvor leichtsinnigerweise in die Quere gekommen war. Ambrosinus trat mit besorgter Miene an ihn heran. »Der Kaiser verabscheut Schaffleisch«, sagte er.
Der Barbar brach in Gelachter aus. »Der Kaiser verabscheut Schaffleisch? Ach, wie schade, wie entsetzlich! Unglucklicherweise hat sich der Chef der kaiserlichen Kuche nicht aus Ravenna fortbequemen wollen, und die Auswahl an Speisen ist jetzt begrenzt. Entweder er i?t Schaffleisch, oder er geht eben hungrig ins Bett!«
Ambrosinus trat noch naher. »Im Wald habe ich Kastanien gesehen: Wenn du mir erlaubst, ein paar einzusammeln, kann ich ihm eine sehr wohlschmeckende und nahrhafte Su?speise zubereiten.«
Wulfila schuttelte den Kopf. »Du ruhrst dich nicht von der Stelle!«
»Wohin soll ich schon gehen? Du wei?t ganz genau, da? ich den Jungen unter gar keinen Umstanden allein lassen werde. La? mich gehen: Ich komme gleich zuruck und gebe dir auch davon. Ich versichere dir, da? du noch nie etwas so Gutes gegessen hast.«
Wulfila lie? ihn gehen, und Ambrosinus zundete sich eine Laterne an und ging in den Wald. Der Boden unter den gro?en knorrigen Baumstammen war mit stachelbewehrten Schalen bedeckt, von denen viele bereits aufgesprungen und halb geoffnet waren und den Blick auf die Fruchte mit ihrer schonen rotbraunen, an gegerbtes Leder erinnernden Farbe freigaben. Er las ein paar davon auf und dachte, da? diese Gegend vollig unbewohnt sein musse, wenn so kostbare Fruchte den Baren und Wildschweinen uberlassen wurden. Er kehrte mit der erloschenen Laterne ins Lager zuruck und schlich zu der Stelle, wo sich Wulfila offensichtlich gerade mit seinen Stellvertretern beriet.
»Wann soll ich aufbrechen?« fragte in diesem Augenblick einer von ihnen.
»Schon morgen, sobald wir die Ebene erreicht haben. Du nimmst ein halbes Dutzend Manner mit, und ihr reitet uns bis Neapel voraus. Dort nehmt ihr Kontakt auf mit einem Mann namens Andreas von Nola, der euch in der Unterkunft der kaiserlichen Garde erwartet, und sagt ihm, da? er die Uberfahrt nach Capri vorbereiten soll. Er mu? die gesamte Eskorte ins Kalkul ziehen und daruber hinaus an den Jungen, seinen Erzieher und das Dienstpersonal fur uns und fur sie denken. Du wirst ihm sagen, da? ich am endgultigen Zielort alles fertig vorfinden will: Unterkunfte fur die Manner, Essen, Wein, Kleider, Decken. Alles. Sie konnten uns mit Sklaven dienen, aber sorge dafur, da? sie keine aus Miseno nehmen. Dort sind namlich einige von denen, die Mledo in Dertona gefangengenommen hat:
Da? die mir blo? nicht unter die Augen kommen! Hast du verstanden? Wenn etwas schiefgeht, wird er personlich zur Verantwortung gezogen. Und mach ihm klar, da? ich mit unfahigen Leuten nicht gerade zimperlich umgehe.«
Ambrosinus entfernte sich mit leichten Schritten, denn er glaubte, schon genug gehort zu haben, und erschien wieder am gegenuberliegenden Ende des Lagers, wo die Manner der Eskorte uber dem Feuer die Spie?e mit den Hammelvierteln drehten. Er setzte sich in eine Ecke und rostete seine Kastanien, dann zerstampfte er sie in einem Morser, fugte von den Vorraten des Konvois etwas aufgekochten Most hinzu und bereitete einen Fladen zu, den er uber dem Feuer hin und her schwenkte, damit er knusprig wurde. Als er ihn mit berechtigtem Stolz seinem Herrn servierte, sah Romulus ihn erstaunt an. »Meine Lieblingsspeise. Wie hast du das nur geschafft?«
»Wulfila beginnt, mir ein Minimum an Freiheit zuzugestehen: Er wei? genau, da? er mich nicht allzu schlecht behandeln darf, wenn ihm sein Gesicht lieb ist. Ich bin in den Wald gegangen und habe Kastanien gesammelt. Das war alles.«
»Danke«, erwiderte Romulus. »Es erinnert mich an die Festtage zu Hause, wenn unsere Koche sie auf der Schieferplatte im Garten zubereiteten. Es kommt mir so vor, als wurde ich den Most noch riechen, wie er auf dem Feuer kocht. Es gibt keinen kostlicheren und starkeren Duft als den von kochendem Most.«
»I?«, sagte Ambrosinus zu ihm, »la? es nicht kalt werden.«
Romulus bi? in den Fladen, und sein Erzieher fuhr fort: »Ich habe Neuigkeiten. Ich wei?, wohin sie dich bringen. Ich habe gehort, wie Wulfila sich mit seinen fuhrenden Leuten beriet, wahrend ich aus dem Wald kam. Unser Ziel ist Capri.«