Hand. Wir rannten durch die Dunkelheit, auf einem alten Wehrgang hinter dem Aquadukt, von Panik und Verzweiflung getrieben. Der Weg wurde da und dort vom Schein der brennenden Stadt beleuchtet, Rufe, Klagelaute und Wahnsinnsschreie hallten in jedem Winkel wider, von jeder Mauer, und prasselten vom Himmel herab wie Feuerhagel. Die Stadt war voller lebloser Korper, uberall flo? Blut. Ich war erschopft, aber meine Mutter zog mich am Arm weiter. So gelangten wir an das Ufer der Lagune, wo ein mit Fluchtlingen uberladener Kahn gerade dabei war, das Weite zu suchen. Es war der letzte - alle anderen Boote waren schon weit weg und verschwanden, vom Dunkel verschluckt, hinter dem letzten Schein des Feuers.« Sie hielt einen Moment inne und blickte ihrem Gesprachspartner bis in die Seele hinein, und dabei glanzten ihre Augen im Widerschein des Lagerfeuers vor Tranen; aber sie fand nichts als Erschutterung.
»Erzahl weiter«, sagte Aurelius.
Livia schlug die Hande vor das Gesicht, als wollte sie ihre Augen vor diesen Bildern schutzen, die in ihrem Herzen brannten, vor jenen Erinnerungen, die lange in den Tiefen ihres Gedachtnisses verbannt gewesen waren. Dann fa?te sie sich wieder und fuhr fort: »Der Kahn hatte schon vom Ufer abgelegt, und meine Mutter fing an zu schreien und watete, das Wasser bereits bis zu den Knien, auf das Boot zu und beschwor die Leute, auf uns zu warten ...«
Ein Blitz angstvollen Staunens durchzuckte Aurelius' Augen, und Livia ruckte noch naher an ihn heran, bis er den salzigen Geruch wahrnahm, den ihr Sirenenkorper verstromte. Eine hei?e Woge stieg ihm ins Gesicht; es ergluhte, und er fuhlte sich, als sei er in einen Flammenwirbel eingetaucht, und erneut verspurte er ein Gefuhl der Panik, das ihm wie ein Fels auf dem Herz lastete. Erbarmungslos nahm Livia den Faden wieder auf: »Im Heck sa? ein Mann, ein junger romischer Offizier mit blutverschmierter Rustung. Als er uns sah, stieg er ins Wasser, half meiner Mutter hinein, und nahm mich in den Arm, wahrend sie sich auf den einzigen noch freien Platz setzte, dann packte er mich um die Taille und schob mich hinauf, in ihre ausgestreckten Hande. Als ich das dunkle Wasser unter mir sah, bekam ich Angst und hielt mich an seinem Hals fest, und in diesem Moment habe ich ihm das hier abgerissen.« Wahrend sie dies sagte, zeigte sie ihm die Medaille mit dem silbernen Adler, die sie am Hals trug, und fuhr dann fort: »Meine Mutter nahm mich in die Arme und druckte mich an ihre Brust, wahrend der Kahn sich langsam immer weiter vom Ufer entfernte. Das letzte Bild, das sich mir einpragte, waren seine Gestalt, die regungslos am Ufer verharrte, ihre dunklen Umrisse vor dem Flammeninferno, das meine Stadt zerstorte, und ein Trupp barbarischer Reiter, die wie Damonen herangaloppierten und brennende Fackeln schwangen. Dieser junge Offizier warst du. Da bin ich mir sicher.«
Sie druckte noch einmal den kleinen silbernen Adler zwischen ihren Fingern. »Seit jener Nacht trage ich ihn am Hals und habe nie die Hoffnung aufgegeben, dem Helden wieder zu begegnen, der uns das Leben gerettet und sich fur uns geopfert hat.«
Sie schwieg und blieb regungslos vor ihrem Gefahrten sitzen: Sie wartete auf eine Antwort, auf ein Zeichen, das ihr bestatigte, da? die Bilder jener fernen Nacht in ihm die Erinnerung an die Vergangenheit geweckt hatten. Aber Aurelius sagte nichts: Er pre?te die Lider zusammen, um die Tranen zuruckzudrangen, um den Schrecken zu bezwingen, die Angst vor der Leere, den Schraubstock der Kalte und der Finsternis.
»Deshalb fallt dein Blick instinktiv auf diese Medaille, weil du wei?t, da? sie dir gehort, da? sie dir gehort hat. Es ist die Erkennungsmarke deiner Truppe - der achten Vexillatio Pannonica, der heroischen Verteidiger von Aquileia!«
Bei diesen Worten zuckte Aurelius vor Schmerz zusammen, aber er beherrschte sich. Er offnete die Augen und blickte das Madchen zartlich an, legte ihr die Hande auf die Schultern und sagte: »Dieser junge Mann ist tot, Livia, er ist tot, verstehst du?«
Livia schuttelte den Kopf, wahrend ihr die Tranen uber das Gesicht rannen, aber er fuhr fort: »Er ist tot. Wie alle anderen. In dieser Garnison gab es keine Uberlebenden. Das ist doch allgemein bekannt. Was du erzahlst, ist der Traum eines kleinen Madchens. Uberlege doch einmal: Wie gro? ist die Wahrscheinlichkeit, da? dieser junge Mann mit dem Leben davongekommen ist, wenn er tatsachlich in der Situation war, die du geschildert hast? Und wie gro? ist die Wahrscheinlichkeit, da? du ihn nach so vielen Jahren wieder triffst?«
Wahrend er sprach, sah er im Geiste Wulfilas wutverzerrtes Gesicht wieder, und er horte ihn schreien: »Ich kenne dich, Romer, ich habe dich schon einmal gesehen!« Dennoch setzte er hinzu: »Solche Dinge kommen nur in Marchen vor. Du mu?t dich damit abfinden.«
»Wirklich? Dann sage mir, wo du in der Nacht warst, in der Aquileia fiel?«
»Das wei? ich nicht, glaube mir. Diese Zeit liegt zu weit zuruck. Weiter als meine Erinnerung reicht.«
»Aber vielleicht kann ich dir einen Beweis liefern. Hor zu, als ich zu dir getreten bin, wahrend du schliefst, wollte ich sehen, ob ...«
»Ob was?« »Ob du eine Narbe auf der Brust hast, genau am Halsansatz. Ich ... ich glaube, mich zu erinnern, da? dieser Soldat eine Wunde auf der Brust hatte, die blutete.«
»Viele Soldaten haben Narben auf der Brust. Die tapferen jedenfalls.«
»Und warum fallt dein Blick dann immer auf diese Medaille?«
»Ich schaue nicht auf die Medaille. Ich schaue ... auf deinen Busen.«
»Hor auf!« rief Livia, vor Wut und Enttauschung bebend. »Hau ab! La? mich allein!«
»Livia, ich ...«
»La? mich allein«, wiederholte sie mit leiser Stimme.
Aurelius entfernte sich, und sie sank neben der letzten Glut auf die Knie. Das Gesicht mit den Handen bedeckt, weinte sie leise vor sich hin.
So blieb sie lange, bis sie fuhlte, wie die Kalte ihr in die Knochen kroch. Dann hob sie den Kopf und sah Aurelius reglos gegen den Stamm einer Eiche gelehnt sitzen - ein Schatten zwischen den Gespenstern der Nacht.
X
Aurelius ging zum Bach, legte seinen Brustpanzer und das Hemd ab und begann, seinen Oberkorper zu waschen; dabei verweilte er mit den Fingern auf der Narbe, dort, wo sich seine Haut direkt unterhalb der Schlusselbeine krauselte. Die Beruhrung mit dem eiskalten Wasser lie? ihn zunachst zusammenzucken, doch dann gab sie ihm nach einer unruhigen, teilweise schlaflosen Nacht ein Gefuhl von neuer Kraft und Energie. Plotzlich spurte er einen Schmerz, der ihn veranla?te, die Augen zu schlie?en und die Zahne zusammenzubei?en. Aber der Schmerz kam nicht von dieser Narbe, sondern von einem Knochenkallus, der im Bereich seines Hinterkopfes aus dem Schadel ragte, vielleicht als Folge eines Sturzes oder eines Schlages, den er, wer wei?, wann und wo, erlitten hatte. Im Laufe der Zeit trat dieser heftige, anhaltende und pulsierende Schmerz immer haufiger und immer starker auf. »Sie brechen auf!« rief Livia. »Wir mussen los!« Aurelius trocknete sich ab, bevor er sich umdrehte, dann schlupfte er in das Hemd und legte den Brustpanzer an, hangte das Schwert an den Schulterriemen und stieg den kurzen Weg hinauf zu Juba, der ruhig das taufeuchte Gras abweidete. Er sprang auf und sprengte im Galopp los, gefolgt von Livia. Als sie wieder in Gleichschritt fielen, sagte Aurelius: »Das Wetter wird schlechter, meine Schmerzen tauschen sich nie.« Livia lachelte. »Auch mein Gro?vater hat das immer behauptet. Ich erinnere mich an ihn, wie wenn er vor mir stunde: hager, wortkarg und fast zahnlos, aber er war ein Veteran und hatte mit Eugenius in der Schlacht am Frigidus gekampft und war nur durch ein Wunder mit dem Leben davongekommen. Er hatte wie du Schmerzen, wenn das Wetter umschlug, auch wenn er nicht wu?te, woher sie kamen, so viele Narben und Knochenbruche schleppte er mit sich herum. Aber er irrte sich nie: Sechs oder sieben Stunden spater regnete es, oder es passierte noch Schlimmeres.«
Unten schlangelte sich die lange Reihe der herulischen und skirischen Krieger, die den Wagen des jungen Kaisers und seines Mentors eskortierten, durch die letzten Auslaufer der Sumpfe. Bei ihrem Vorbeimarsch tauchten ganze Gruppen von na?glanzenden Buffeln aus dem Morast auf, um ein paar Schritte zuruckzuweichen. Andere, die auf der Stra?e lagen, um sich in der Morgensonne zu trocknen, erhoben sich, sobald sich die Pferde naherten, und dann trotteten diese tragen, schlammbedeckten Kolosse hinuber zu der Wiese, die mit violett bluhenden Disteln und goldgelben Lowenzahnbluten ubersat war.
Vor Aurelius und Livia breitete sich die fruchtbarste Ebene Italiens aus mit Feldern, die gelb waren von Stoppeln oder braun von den erst kurz zuvor umgepflugten Schollen. Ein kleines verfallenes Heiligtum bezeichnete die Stelle, an der das Gebiet irgendeines alten Oskerstammes anfing, und an einer Weggabelung befand sich eine kleine Adikula mit dem christlichen Bild, das vor einiger Zeit das der Hekate Trivia abgelost hatte - eine Darstellung der Maria, die das gottliche Kind in den Armen halt.
Livia und Aurelius zogen weiter bis zum Abend, als der Konvoi nicht weit vom Ufer eines Wildbaches anhielt und die Manner begannen, die Zelte fur die Fuhrer aufzustellen und auch fur sich selbst das Nachtlager