»Capri? Aber das ist doch eine Insel.«
»Ja. Es ist eine Insel, aber nicht besonders weit von der Kuste entfernt. Und manche finden sie ganz angenehm, vor allem im Sommer, wenn das Wetter gut ist. Kaiser Tiberius hat dort prachtige Villen gebaut und in den letzten Jahren seiner Herrschaft in der schonsten von ihnen gewohnt, in der Villa Jovis. Nach seinem Tod ...«
»Es wird trotzdem ein Gefangnis sein«, fiel Romulus ihm ins Wort, »wo ich den Rest meiner Tage verbringen werde ohne irgendeine andere Gesellschaft als die der widerwartigsten Feinde. Ich werde nicht reisen konnen, keine anderen Menschen kennenlernen, keine Familie haben ...«
»Akzeptieren wir das, was das Leben uns Tag fur Tag bringt, mein Sohn. Die Zukunft ist in Gottes Geist und Hand. Gib nicht auf, verzage nicht, resigniere nicht. Erinnere dich an das Beispiel der Gro?en der Vergangenheit, erinnere dich an die Lehren und die Empfehlungen der gro?en Weisen - von Sokrates, Cato und Seneca. Wissen ist nichts, wenn es uns nicht ermoglicht, das Leben zu meistern. Hor zu, neulich habe ich eine Art Vorwarnung erhalten: Wie durch ein Wunder ist mir eine alte Prophezeiung aus meiner Heimat in den Sinn gekommen, und seither haben sich meine Gefuhle gewandelt. Ich spure, da? wir nicht allein sind und da? es bald weitere Zeichen geben wird. Glaube mir, ich fuhle es.«
Romulus lachelte, eher mitleidig als erleichtert. »Du traumst«, sagte er zu ihm, »aber du kannst gute Fladen zubereiten, zumindest dieser hier ist von unbestreitbarer Qualitat.« Er a? weiter, und Ambrosinus sah ihm mit gro?er Freude zu und verga? daruber, da? er selbst bis zu diesem Augenblick kaum etwas angeruhrt hatte. Aber er zog es vor, das, was ubriggeblieben war, zu Wulfila zu tragen, um sein Wort zu halten und, soweit dies moglich war, sein Wohlwollen zu gewinnen.
Am folgenden Tag wachten sie beim Morgengrauen auf und sahen zu, wie der kleine Voraustrupp nach Suden aufbrach. Dann setzte sich der Konvoi wieder in Marsch und machte erst gegen Mittag fur eine kurze Rast halt. Das Klima wurde allmahlich immer milder, je weiter sie nach Suden kamen. Die Wolken waren gro? und wei?: Sie zogen, vom Westwind getrieben, uber den Himmel, und turmten sich manchmal zu gro?en schwarzen Gebirgen auf, die plotzliche und heftige Regengusse auf die Erde schickten. Dann kam die Sonne wieder heraus und strahlte uber die na?glanzenden Felder. Die Eichen und Eschen hatten inzwischen das Terrain den Kiefern und Myrten uberlassen, und die Apfelbaume waren den Oliven und Weinstocken gewichen.
»Rom liegt bereits hinter uns«, sagte Ambrosinus. »Wir nahern uns dem Ziel.«
»Rom ...«, murmelte Romulus und dachte daran, wie er, in die kaiserlichen Gewander gehullt und von seinen Eltern begleitet, in die Kurie des Senats eingezogen war. Es kam ihm vor, als seien seitdem hundert Jahre vergangen und nicht erst wenige Monate, und jetzt schickte er sich an, seine Jugend und sein Junglingsalter zu erleben, die schonste Zeit im Leben eines Menschen - mit einem Herzen voller Trauer und dusterer Vorahnungen.
IX
Wulfila bemerkte die Wasserverkauferin, als sie noch ein Stuck weit entfernt war. Sie stand am rechten Rand der Stra?e, auf dem Erdaushub: Uber der Schulter hielt sie einen Schlauch und in der Hand eine Holzschussel und sah aus wie so viele andere Ungluckliche und Bettler, denen man unterwegs begegnete. Aber seit einiger Zeit brannte die Sonne immer hei?er herunter, und die mittagliche Stunde sowie die Tatsache, da? es beiderseits der Stra?e schon lange keine Quellen gegeben hatte, hatten sowohl die Menschen als auch die Pferde durstig gemacht.
»He, du da, komm her!« sagte er zu ihr in seiner Sprache, als sie etwas naher gekommen waren. »Ich habe Durst!«
Das Madchen verstand aus seinen Gesten und aus seiner Miene, da? er trinken wollte, und reichte ihm die gefullte Schussel. Obwohl sie in einen abgetragenen, armseligen Umhang gehullt war, trat ihre Schonheit doch zutage und ri? die barbarischen Krieger zu schlupfrigen Bemerkungen hin.
»He, la? dich ein bi?chen genauer anschauen!« rief ihr einer zu und versuchte, ihr den Umhang von den Schultern zu rei?en, aber sie wich ihm mit einer schnellen, geschickten Bewegung des Oberkorpers aus. Dennoch versuchte sie zu lacheln und streckte die Hand aus, um ein Almosen zu erhalten als Entschadigung fur das frische Wasser, das sie in die Schussel go?.
»Seit wann mu? man denn hier fur das Wasser bezahlen?« schrie ein anderer Soldat. »Wenn ich eine Frau bezahle, mu? ich schon etwas mehr bekommen!« Und er ging auf sie zu, packte sie und zog sie an sich. Er fuhlte die schlanke Taille und die Krummung der Schenkel, die unter der Haut gespannten Muskeln, und wahrend er sie mit uberraschtem Ausdruck ansah, sagte er: »So ein pralles Fleisch! Du bist keine, die wenig und schlecht i?t.« Doch in diesem Augenblick horte man eine Stimme sagen: »Ich habe Durst.«
Das Madchen begriff, da? sie aus der nur wenige Schritte entfernten Kutsche kam, trat naher und schob den Vorhang, der das Fenster bedeckte, etwas zur Seite. Sie sah sich einem Jungen von ungefahr zwolf, dreizehn Jahren gegenuber, mit hellbraunen Haaren, gro?en, dunklen Augen, in einer wei?en Tunika mit langen Armeln, die am Saum mit Silber bestickt waren. Ihm gegenuber sa? ein Mann von etwa sechzig Jahren mit grauem Bart und kahlem Oberkopf, der ein schlichtes Gewand aus grauer Wolle trug und ein kleines silbernes Schmuckstuck um den Hals hangen hatte.
Sofort zog Wulfila den Vorhang wieder zu, stie? das Madchen grob zur Seite und rief: »Weg von hier!« Doch der Mann, der im Wagen sa?, schob erneut den Vorhang beiseite und sagte mit fester Stimme: »Der Junge hat Durst.« In diesem Moment begegneten seine Augen denen des Madchens, und er begriff sofort, da? sie nicht das war, was sie zu sein schien: Er versuchte, ihr etwas begreiflich zu machen oder sie auf etwas vorzubereiten, und druckte Romulus' Arm, als wolle er ihm mitteilen, da? etwas Unerwartetes bevorstehe. Die Wasserverkauferin trat naher heran, und als sie gerade Wulfilas Blicken verborgen war, reichte sie dem Jungling die mit Wasser gefullte Holzschussel und dem Mann einen Metallbecher, und wahrend ersterer trank, flusterte sie ihm auf griechisch zu:
»Eine Freundin«, erwiderte das Madchen. »Ich hei?e Livia. Wo bringt man euch hin?«
Doch im selben Augenblick trat Wulfila erneut dazwischen, zog sie weg und beendete so das Gesprach.
In der Kutsche 'wandte sich Romulus an seinen Erzieher, weil er nicht wu?te, was er von dieser seltsamen Begegnung halten sollte: »Wer kann das gewesen sein, Ambrosinus? Woher wu?te sie, wer ich bin?«
Doch die Aufmerksamkeit des Mannes wurde jetzt auf den Becher gelenkt, den er in der Hand hielt. Er drehte ihn um und entdeckte unten ein Siegel in der Gestalt eines Adlers und die Aufschrift
LEG NOVA INV.
»Legio Nova Invicta«, las er leise. »Wei?t du, was das bedeutet, Casar? Da? dieser Soldat es noch einmal versucht und dieses Mal nicht allein ist. Ich wei? nicht, ob ich mich daruber freuen oder mir Sorgen machen soll, doch mein Herz sagt mir, da? es sich um ein gunstiges Zeichen handelt, um eine gluckliche Begebenheit. Wir sind nicht unserem Schicksal uberlassen worden, und ich habe das Gefuhl, da? die Vorwarnung, die ich vor einigen Tagen erhielt, sich bestatigt hat ...«
Unterdessen schob Wulfila Livia an den Rand der Stra?e, aber diese wandte sich mit flehendem Blick an ihn: »Aber, mein Herr, meine Schussel! Ich brauche sie doch!«
»In Ordnung«, sagte Wulfila, »komm schon mit!« Er begleitete sie zuruck zum Wagen, und nachdem sie ihre Schussel zuruckerhalten hatte, fuhrte er sie wieder zum Stra?enrand, ohne sie eine Sekunde allein zu lassen. Livia blieb nur ein Moment, um noch einen Blick mit den beiden Gefangenen auszutauschen, konnte aber kein Wort sagen. Sie sah der Kutsche so lange nach, bis sie hinter einer kleinen Anhohe verschwand, und ruhrte sich erst von der Stelle, als das Hufgetrappel und das Gerausch der Rader endgultig verklungen waren. Dann drehte sie sich um und erblickte einen Reiter, der regungslos auf dem Gipfel eines Hugels verharrte und sie beobachtete: Aurelius. Sie machte sich auf den Weg und ging durch das Unterholz auf einem gewundenen Pfad, der sie nach einiger Zeit an den Fu? des Hugels fuhrte. Aurelius kam ihr entgegen, ein zweites Pferd an den Zugeln haltend. Livia sprang auf.
»Und?« fragte er. »Ich habe wie auf gluhendhei?en Kohlen gesessen.«
»Ich habe es nicht geschafft. Er war gerade im Begriff, es mir zu sagen, als Wulfila mich weggezogen hat. Wenn ich versucht hatte, noch etwas zu fragen, hatte er Verdacht geschopft und mich mit Sicherheit festgehalten. Doch wissen sie jetzt wenigstens, da? wir ihnen folgen. Jedenfalls glaube ich das. Der Mann, der mit dem Kaiser reist, hat einen scharfen, durchdringenden Blick; er ist bestimmt ein Mann von gro?er Intelligenz.«
»Er ist ein verdammter Quertreiber«, antwortete Aurelius, »aber er ist der Erzieher des Jungen, und wir