Aurelius antwortete nicht. Er kaute auf einem trockenen Grashalm herum und blickte hinunter ins Tal.
»Erzahl mir blo? nicht, da? ihr euch nie zuvor begegnet seid!«
»Es ist schon moglich, aber ich erinnere mich nicht daran. Barbaren sind mir in den vielen Jahren des Krieges haufenweise uber den Weg gelaufen.« Und in diesem Augenblick sah er sich noch einmal Wulfila von Angesicht zu Angesicht gegenuberstehen, damals, im Korridor des Kaiserpalastes, als sie Schwert gegen Schwert kampften, und er horte, wie die rauhe Stimme des Gegners sagte: »Ich kenne dich, Romer, ich habe dich schon einmal gesehen!«
Livia baute sich vor ihm auf und sah ihm mit mitleidloser Eindringlichkeit in die Augen. Aurelius wandte den Blick ab.
»Du hast Angst, in dein Inneres hineinzuschauen, und mochtest auch nicht, da? andere das tun. Warum?«
Aurelius drehte sich plotzlich um. »Wurdest du dich nackt ausziehen - vor mir?« fragte er sie, und seine Augen spruhten Funken. Livia hielt seinem Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ja«, antwortete sie, »wenn ich dich lieben wurde.«
»Aber du liebst mich nicht. Und ich liebe dich auch nicht. Stimmt' s?«
»Stimmt«, erwiderte Livia mit ebenso fester Stimme.
Aurelius nahm Juba am Zaumzeug und wartete, bis das Madchen seinen Fuchs losband. Dann sagte er zu ihr: »Wir haben ein gemeinsames Ziel und eine Aufgabe zu erfullen, die uns eine Zeitlang beieinander halten wird. Wir mussen unbedingt zusammenstehen und uns mit absoluter Sicherheit aufeinander verlassen konnen. Deshalb mussen wir beide vermeiden, im anderen Unbehagen und Unzufriedenheit zu wecken. Verstehst du, was ich meine?«
»Und ob«, antwortete Livia.
Aurelius begann, den Hang zu Fu? hinabzusteigen, und hielt dabei Juba am Zugel fest. »Wenn wir einen Versuch unternehmen wollen«, sagte er, das Thema wechselnd, »dann auf jeden Fall noch wahrend der Reise, denn sobald der Konvoi sein Ziel erreicht hat, wird die Sache unmoglich.«
»Zu zweit gegen siebzig? Das scheint mir keine gute Idee zu sein. Und deine Wunde ist noch nicht einmal verheilt! Nein. Wir konnen nicht riskieren, ein zweites Mal zu scheitern.«
»Und was schlagst du dann vor? Du wirst doch auch einen Plan haben. Oder lassen wir es einfach darauf ankommen?«
»Erstens mussen wir wissen, wohin sie wollen; dann werden wir herausfinden, wie wir bei ihnen eindringen und den Jungen entfuhren konnen. Es gibt keine andere Moglichkeit: In Ravenna gab es keine Manner, die sich hatten anheuern lassen, und selbst wenn es sie gegeben hatte, so war doch die Zahl von Odoakers Spitzeln so gro?, da? das Komplott sofort aufgedeckt worden ware. Auch wenn es dir komisch vorkommt: Unser Vorteil besteht genau in der Tatsache, da? niemand von unserer Existenz wei? und niemand argwohnt, da? zwei Reisende ein solches Unternehmen wagen konnten. Es ware dir beinahe gelungen, deinen Versuch erfolgreich zu Ende zu fuhren, eben weil niemand mit einer solchen Moglichkeit gerechnet hatte. Wenn wir Manner anwerben, dann sehr weit von Ravenna entfernt, wo niemand etwas von uns wei?.«
»Und mit welchem Geld wirst du sie anwerben?«
»Das Geld wird in verschiedenen Orten Italiens fur uns verfugbar sein. Antemius hat in vielen Banken Depots, und ich habe seinen Kreditbrief bei mir. Du wei?t doch, was das ist, oder?«
»Nein. Aber das Wichtigste ist, da? du uber Geld verfugen kannst. Ich habe die Hoffnung, meine Kameraden wiederzufinden, noch nicht aufgegeben.«
»Ich auch nicht. Ich wei?, wie wichtig das fur dich ist.« Sie sagte es in einem Ton, der verriet, da? ihre Gefuhle starker waren als die Kameradschaft unter Kampfern, die sie seit einigen Tagen miteinander verband.
So ritten sie uber mehrere Etappen weiter, legten ungefahr zwanzig Meilen am Tag zuruck und hielten dabei immer einen betrachtlichen Abstand von dem Konvoi. Selbst die Wachsamkeit der Barbaren rund um die Kutsche schien teilweise nachgelassen zu haben: Die Sicherheit dieser starken Eskorte, die machtige Prasenz Wulfilas und das absolute Fehlen jeglicher Bedrohung, soweit der Blick reichte, trugen dazu bei, da? sich die Spannung und manchmal sogar die Disziplin lockerten.
Sie uberquerten den Apennin und stiegen hinab ins Tibertal.
»Wenn wir meine Gefahrten finden sollten«, sagte Aurelius plotzlich, »wurdest du mir helfen, sie zu befreien?«
»Stell dir vor: Ja! Es kommt darauf an, wie viele wir finden, falls wir sie uberhaupt finden. Mach dir nicht zu viele Illusionen, ich mu? dir das noch einmal sagen: Miseno ist eine Moglichkeit, aber eben nur eine Moglichkeit unter mehreren.«
»Es ist schon seltsam: Einerseits mochte ich sie wiederfinden, andererseits habe ich auch Angst davor ... Angst, von ihnen zu erfahren, welches Ende die ubrigen genommen haben.«
»Du hast getan, was du konntest«, sagte Livia, »quale dich nicht. Was gewesen ist, ist gewesen, und wir konnen es nicht mehr andern.«
»Fur dich ist es leicht. Aber die Legion war mein Leben. Alles, was ich hatte.«
»Hast du nie eine Familie gehabt?«
Aurelius schuttelte den Kopf.
»Eine Frau ... eine Geliebte?«
Aurelius wandte den Blick ab. »Gelegentliche Begegnungen. Keine Bindung. Es ist schwer, sich an jemanden zu binden, wenn man keine Wurzeln hat.«
Eine Zeitlang ritten sie im Gleichschritt weiter, ohne etwas zu sagen. Dann unterbrach Livia erneut das Schweigen. »Eine Legion ...«, nahm sie den Gesprachsfaden wieder auf. »Das kommt einem unwahrscheinlich vor, denn seit Kaiser Gallienus' Reform ist von den alten Legionen kaum der Name ubriggeblieben, und in den letzten vierzig Jahren ist auch der allmahlich verschwunden. Was fur einen Sinn soll es gehabt haben, eine neue Legion auf die Beine zu stellen?«
»Und trotz alledem war es ein au?ergewohnliches Unternehmen! Zunachst einmal eignet sich das italienische Terrain fast nie zum Aufmarsch gro?er Reiterkontingente. Zudem ware der Zusammenprall entsetzlich gewesen: Orestes wollte, da? die Leute einen silbernen Adler in der Sonne glitzern sahen; er wollte, da? die Romer ihren Stolz zuruckgewannen, wieder ihre Fu?soldaten marschieren sahen mit den alten Rustungen und den gro?en Schilden, die Truppen, die den Erdboden unter ihrem gleichma?igen Schritt erbeben lie?en. Er wollte die Disziplin der Barbarei, die Ordnung dem Chaos entgegensetzen. Wir alle waren stolz dazuzugehoren. Unser Kommandant war ein Mann, der die alten Tugenden und einen unglaublichen Mut besa?: Er war streng und gerecht und eifersuchtig auf seine eigene Ehre und die seiner Leute bedacht.«
Livia sah ihn an: Seine Augen funkelten, und seine Stimme bebte vor tiefer Ruhrung, wahrend er diese Worte aussprach. Sie hatte mehr uber seine Gefuhle erfahren wollen, sah aber, da? die Kolonne in der Ferne offenbar langsamer geworden war, und bedeutete ihrem Begleiter anzuhalten. »Es ist nichts«, sagte sie nach einer Weile. »Eine Schafherde uberquert die Stra?e.«
Sie ritten im Gleichschritt weiter und hielten sich am Rand eines mit Buschen bewachsenen Streifens, der sich im Abstand von dreioder vierhundert Fu? an der Stra?e entlang zog.
»Fahr bitte fort!« sagte sie.
»Die Manner wurden sorgfaltig aus anderen Truppen ausgewahlt: Offiziere und Soldaten, Hilfskrafte und Techniker, zum gro?ten Teil Italer und Bewohner der Provinzen des Romischen Reiches. Es wurden auch Barbaren aufgenommen, aber in sehr begrenzter Zahl, und nur Leute von bewahrter Treue, deren Familien seit mehreren Generationen im Dienst des Staates standen. Sie wurden an einem geheimen Ort in Noricum zusammengefuhrt und dann fast ein Jahr lang taglich viele Stunden lang trainiert. Als die Legion zum erstenmal in eine Schlacht, auf das offene Feld, zog, erwies sich ihre Effizienz als todlich: Mit der Wucht einer Kriegsmaschine drang sie in die feindliche Schlachtordnung ein und brachte den Gegnern schwere Verluste bei. Wir hatten das Beste der alten Technik beibehalten und zugleich auch von der modernen das Beste ubernommen.«
»Und du? Wo hattest du dich gemeldet?«
Aurelius ritt eine Zeitlang wie in Gedanken versunken und blickte starr vor sich hin. Sie hielten sich auf halber Hohe zwischen den Waldern, um nicht von Wulfilas Kundschaftern ertappt zu werden, die jetzt unaufhorlich die Flanken des Tales absuchten, um moglichen Uberfallen zuvorzukommen. In diesen so unwirtlichen und wilden Gegenden sorgten sie sich mehr um die Briganten als um den unwahrscheinlichen Fall, da? irgend jemand dem