gefallen, ohne Rom je gesehen oder uber irgend etwas mit dem Senat gestritten zu haben. Die Attacken waren manchmal vielfaltiger Art und kamen in Wellen, aus verschiedenen Richtungen und von verschiedenen Volkern gleichzeitig. Deshalb wurde zu einem sehr hohen Preis ein machtiger Grenzwall errichtet, der sich uber dreitausend Meilen, von den Hugeln Britanniens bis zu den Wusten Syriens, erstreckte. Hunderttausende Soldaten lie?en sich anwerben: Bis zu funfunddrei?ig Legionen standen unter Waffen, fast eine halbe Million Manner! Keine Ausgabe, kein Opfer schien den Casaren zu gro?, um das Reich und mit ihm die Zivilisation zu retten. Aber dabei bemerkten sie nicht, da? die gewaltigen Belastungen unertraglich wurden und ihre Steuern die Bauern, Viehzuchter und Handwerker in die Armut trieben, Handel und Verkehr zerstorten und sogar die Geburtenrate schrumpfen lie?en. Warum Kinder auf die Welt setzen, fragten sich die Leute, und ihnen nur Elend und Entbehrungen zumuten? Dann war es zu einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr moglich, die Invasoren zuruckzudrangen, und deshalb kam man auf die Idee, die Barbaren innerhalb unserer Grenzen anzusiedeln und sie in die Armee aufzunehmen, um sie gegen andere Barbaren kampfen zu lassen ... Das war ein verhangnisvoller Fehler, aber vielleicht gab es keine Alternative: Not und Bedruckung hatten in den Burgern die Vaterlandsliebe erstickt, und so mu?te man sich an die Soldner wenden, die jetzt unsere Herren sind.«
Ambrosinus schwieg und wurde sich bewu?t, da? er seinem Schuler nicht nur eine Geschichtsstunde erteilte, sondern an Ereignisse erinnerte, die noch ziemlich frisch und real waren, Begebenheiten, die ihn direkt und auf recht schmerzliche Weise betroffen hatten. Dieses traurige Kind, das ihm gegenubersa?, war immerhin der letzte Kaiser des Westens. Nicht aus freien Stucken ein Protagonist dieser ungeheuren Tragodie und kein Zuschauer.
»Und das ist es, was du - wie ich sehe - bisweilen aufschreibst? Das ist Geschichte?« fragte ihn Romulus.
»Ich habe keinen Ehrgeiz, die Geschichte aufzuschreiben: Das konnen andere besser als ich, und zwar in einer schoneren und eleganteren Sprache. Ich will nur eine Erinnerung an meine personlichen Erlebnisse und an jene Ereignisse hinterlassen, deren unmittelbarer Zeuge ich gewesen bin.«
»Du wirst noch genug Zeit haben, um das aufzuschreiben! Jahre um Jahre der Gefangenschaft. Warum wolltest du mit mir kommen? Du hattest in Ravenna bleiben oder in deine Heimat, nach Britannien, zuruckkehren konnen. Stimmt es, da? dort die Nachte niemals enden?«
»Die Antwort auf die erste Frage kennst du bereits. Du wei?t, da? ich dich sehr gern habe und deiner Familie treu ergeben bin. Was die zweite Frage anbelangt, so ist das nicht ganz richtig ...«, leitete Ambrosinus seine Antwort ein, aber Romulus fiel ihm ins Wort:
»Das ist es, was ich fur mich haben mochte: eine Nacht, die nicht endet, einen Schlaf ohne Traume.«
Der Junge sprach diese Worte mit so ausdrucksloser Miene, da? Ambrosinus nicht wu?te, was er darauf sagen sollte.
So reisten sie den ganzen Tag weiter. Der Lehrer bemuhte sich, jeden Stimmungswechsel seines Schulers vorherzuahnen, und versuchte zugleich, nicht den Uberblick uber das zu verlieren, was rundum geschah. Sie hielten erst bei Sonnenuntergang an. Die Tage waren inzwischen schon sehr kurz und die Zahl der Stunden, in denen sie vorankamen, begrenzt. Die barbarischen Soldaten entzundeten ein Feuer, und ein paar ritten uber die Felder und kehrten nach einiger Zeit mit etlichen abgestochenen Schafen zuruck, die von ihren Satteln herabhingen, oder mit Huhnern, die bundelweise an den Beinen zusammengebunden waren. Sie hatten wohl das eine oder andere vereinzelt in der Landschaft stehende Gehoft geplundert. Rasch wurde diese leichte Beute gerupft, ausgenommen und auf die Kohlenbecken gelegt, um sie zu braten. Wulfila setzte sich von den anderen getrennt auf einen Felsblock und wartete auf seine Ration. Seine Miene war finster, wahrend seine entstellten Zuge vom Widerschein der Flammen auf dramatische Art und Weise erhellt wurden. Ambrosinus, der ihn keinen Moment aus den Augen lie?, trat langsam und, um keinen Argwohn zu erregen, im vollen Schein des Feuers an ihn heran, und als er so nahe bei Wulfila war, da? dieser ihn horen konnte, sagte er: »Ich bin Arzt und kenne mich mit Arzneien aus. Ich kann etwas fur diese Wunde tun. Sie mu? dir gro?e Schmerzen bereiten.«
Wulfila machte eine Geste wie jemand, der ein lastiges Insekt vertreiben mochte, aber Ambrosinus ruhrte sich nicht von der Stelle und fuhr unbeirrt fort: »Ich wei?, was du denkst: Du bist schon viele Male verwundet worden, und die Wunde ist fruher oder spater vernarbt und der Schmerz vergangen. Aber in diesem Fall ist es anders: Das Gesicht ist derjenige Teil des Korpers, der am schwierigsten zu heilen ist, weil auf dem Gesicht die Seele mehr als auf jedem anderen Korperteil zutage tritt. Es ist viel empfindlicher und verletzlicher als der ubrige Korper. Deine Wunde ist entzundet, und wenn die Infektion sich weiter ausbreitet, wird sie dir das Gesicht zerfressen und es in eine unkenntliche Maske verwandeln.«
Er wandte sich zur Kutsche um, aber Wulfilas Stimme rief ihn zuruck: »Warte!« Da holte Ambrosinus seinen Sack, lie? sich von den Soldaten Wein geben, wusch die Wunde mehrmals damit aus, druckte den Eiter heraus, bis er sauberes Blut kommen sah; dann entfernte er die Faden der Naht, und nachdem er einen Aufgu? aus Malve und Weizenkleie auf die Wunde aufgetragen hatte, verband er sie.
»Bilde dir blo? nicht ein, da? ich dir dafur dankbar bin!« sagte Wulfila, als Ambrosinus fertig war.
»Ich habe es bestimmt nicht deswegen getan.«
»Warum sonst?«
»Du bist ein wildes Tier, und der Schmerz kann dich noch wilder machen. Ich habe es in meinem eigenen Interesse getan, Wulfila, und im Interesse des Jungen.«
Er ging wieder zum Wagen, um den Sack zuruckzubringen. Kurz darauf kam ein Soldat mit am Spie? gebratenem Fleisch, und der Alte und der Knabe a?en davon. Die Luft war kalt, nicht nur, weil es Herbst war, sondern auch wegen der Hohe. Dennoch zog Ambrosinus es vor, um eine zweite Decke zu bitten, statt, wie die anderen, sein Nachtlager in der Nahe des Feuers herzurichten. Tatsachlich machte die Warme ihren Gestank unertraglich. Nachdem sein Lehrer darauf bestanden hatte, trank Romulus auch ein wenig Wein, der seinen Korper mit etwas Kraft und Lebenslust erfullte. Unter dem sternenklaren Himmel streckten sie sich nebeneinander aus.
»Hast du verstanden, warum ich das getan habe?« fragte Ambrosinus.
»Diesem Schlachter das Gesicht zu saubern? Doch, ich kann es mir vorstellen: Wilde Hunde streichelt man mit dem Strich.«
»Ja, so ahnlich.«
Beide schwiegen lange, um dem Knistern des Feuers zu lauschen, auf das die Soldaten immer wieder trockene Zweige warfen, und um den Funken zuzusehen, die wirbelnd zum Himmel stiegen.
»Betest du, bevor du einschlafst?« fragte Ambrosinus plotzlich.
»Ja«, antwortete Romulus. »Ich bete zum Geist meiner Eltern.«
VIII
Livia gab ihrem Pferd die Sporen und bog auf einen Saumpfad ein, der sich bis zum Kamm des Berges hinaufschlangelte, dann blieb sie stehen und wartete auf Aurelius, der uber eine andere Route, die durch den Wald fuhrte, aufstieg. Von der Hohe konnte man bequem den Ausgang des Tunnels der Via Flaminia beobachten, der den Berg von der einen Seite zur anderen durchbohrte. Die beiden sprangen ab und stellten sich hinter ein Buchengestrupp. Es dauerte nicht lange, bis aus dem Tunnel eine Gruppe herulischer Reiter auftauchte, dann erschien ihr Kommandant, an der Spitze von etwa drei?ig Bewaffneten, und schlie?lich der Wagen, gefolgt von der Nachhut.
Aurelius zuckte zusammen, als er Wulfila erkannte, und sah instinktiv auf den Bogen, den Livia uber der Schulter trug.
»Schlag dir das aus dem Kopf«, sagte das Madchen, das seine Gedanken erraten hatte. »Selbst wenn ich ihn niederstrecken konnte, wurden die anderen uns keine Chance lassen, und vielleicht wurden sie dann ihre ganze Wut an dem Jungen auslassen.« Aurelius bi? sich auf die Lippen.
»Der Augenblick wird schon noch kommen«, sagte Livia mit Nachdruck. »Jetzt mussen wir Geduld haben.«
Aurelius blickte eine Zeitlang auf die schwankenden Umrisse des Wagens, bis er sie hinter einer Biegung der Stra?e verschwinden sah. Livia legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich habe den Eindruck, da? es zwischen euch beiden um Leben oder Tod geht, ja, eigentlich nur um Tod, habe ich recht?« »Ich habe einige seiner treuesten Leute umgebracht, ich habe versucht, den Gefangenen, den man in seine Obhut gegeben hatte, zu entfuhren, und als er seinerseits versucht hat, mich daran zu hindern, habe ich ihm das Gesicht aufgeschlitzt und ihn bis zum Ende seiner Tage zum Monstrum gemacht: Glaubst du nicht, da? das reicht?«
»Soweit deine Seite. Und wie sieht es auf seiner Seite aus?«