Ambrosinus blies schnell die Kerze in der Laterne aus, damit es so aussah, als wurden im Inneren der Poststation alle schlafen. Dann ging er zur Wand und spitzte die Ohren, ohne dabei das halbgeoffnete Fenster aus den Augen zu lassen.
Wulfila schrie etwas - wahrscheinlich war es ein Fluch, und alle verstummten. Dann fuhr er fort: »Ich habe euch befohlen, keinen Larm zu machen und keine Aufmerksamkeit zu erregen. Je weniger wir uns sehen lassen, um so besser ist es.«
»Aber, aber, Wulfila!« sagte einer von seinen Leuten. »Vor wem hast du denn Angst? Selbst wenn uns einer hort, was kann da schon passieren?« Und zu seinen Kameraden: »Ich furchte mich vor niemandem, und ihr?«
»Schweig!« befahl Wulfila barsch. »Und ihr anderen auch, hort auf damit. Stellt alle hundert Schritte in einer Reihe Wachen auf! Wer aus irgendeinem Grund seinen Posten verla?t, wird auf der Stelle hingerichtet. Und die anderen gehen sofort schlafen. Morgen werden wir bis tief in die Nacht hinein marschieren und dann am Fu?e des Apennin unser Lager aufschlagen.« Die Manner gehorchten: Einige liefen zu ihren Posten, wahrend die anderen ihre Decken auf den Boden breiteten und es sich fur die Nacht bequem machten. Ambrosinus ging zur Tur, setzte sich auf einen Schemel und geriet sofort ins Blickfeld eines der Wachtposten. Er wurdigte ihn aber keines Blickes, sondern hob die Augen zum Himmel, um die Sternbilder zu betrachten. Er suchte den Polarstern, den Stern des Kleinen Baren, und er dachte an seine Kindheit, als sein Lehrer, ein weiser Mann in einem ehrwurdigen Alter, ihn lehrte, sich zu orientieren, in der Dunkelheit, auf offenem Feld wie auf den Wogen des Meeres den richtigen Weg zu erkennen, die Mondfinsternisse vorherzuberechnen und aus den ewigen Bahnen der Gestirne den Wechsel der Jahreszeiten auf der Erde abzulesen. Er dachte an den Jungen, und das Herz wurde ihm schwer vor Ruhrung. Er hatte ihn dazu bewegen konnen, etwas zu essen, hatte in seinem Wasser ein Pulver aufgelost, das ihm zu einem ruhigen Schlaf verhelfen sollte:
Wurde das genugen, um ihn wieder ins Leben zuruckzuholen? Und wenn ihm das je gelingen sollte, welche Zukunft wurde er ihm bieten konnen? Wie viele Tage, Monate und Jahre wurden sie in dem Gefangnis verbringen, das ihnen zugewiesen worden war? Eine Gefangenschaft ohne Ende? Wie viele Male wurden sie mit langsamen Schritten den engen Raum abmessen? Und wie lange wurden sie die verha?te Gegenwart ihrer Verfolger aushalten konnen? Plotzlich hallten in seinem Kopf wie ein Echo aus einer fernen Zeit die Verse eines Gedichtes wider:
Er dachte an irgendein Zeichen, das ihn in diesem Augenblick unendlicher Traurigkeit und vollkommener Verlassenheit aus der Vergangenheit erreichte. Aber was fur ein Zeichen konnte das sein? Und wer schickte es ihm?
Er rezitierte noch die Verse, langsam und leise, fast summend, und eine Weile fuhlte sich sein Herz so leicht an wie ein Vogel, der sich gerade in die Lufte schwingt. Dann kehrte er wieder in die baufallige Behausung zuruck, die einst eine Station des
Aurelius drehte sich, immer noch im Halbschlaf versunken, auf seinem Lager um: Er war sich im Grunde seines Herzens nicht sicher, ob das Gerausch, das er gehort hatte, noch Teil seines Traums war oder ob es aus der Wirklichkeit stammte. Gewi?, er traumte noch, und er hatte die Augen noch nicht richtig geoffnet, als er schon vor sich her flusterte: »Juba!« Das Wiehern wurde lauter und klarer erkennbar und war begleitet von einem Klatschen der Hufe im Wasser. Da rief er laut: »Juba!« Und das Wiehern, das ihm antwortete, war echt, und in ihm lag die ganze Freude eines Wesens, das einen verloren geglaubten Freund wiedergefunden hat.
»Juba, mein Schoner, du Schoner, komm, komm«, fuhr er fort zu rufen, wahrend er sein Pferd, schlammbedeckt, grau und gespensterhaft im Morgennebel durch das Wasser auf sich zuwaten sah. Er ging ihm entgegen und umarmte es geruhrt. »Wie hast du es geschafft, mich zu finden? Wie hast du das blo? geschafft? La? dich ansehen. Schau nur, schau, wie du dich zugerichtet hast, wie schmutzig du bist, voller Krusten ... Du wirst Hunger haben, du Armster, du wirst ausgehungert sein ... Warte, warte.« Er ging zu der kleinen Schlucht, die Livia als Vorratskammer benutzte, und kehrte mit einem Eimerchen voller Dinkel zuruck, in das das Tier gierig sein Maul steckte. Aurelius nahm einen Fetzen, tauchte ihn in das saubere Wasser und rieb sein Fell so lange ab, bis es glanzte. »Ich habe keinen Striegel, mein Freund, ich hab ihn nicht, und du mu?t dich damit zufriedengeben. Aber das ist immerhin besser als nichts - oder?«
Als er seine Arbeit beendet hatte, trat er ein wenig zuruck, um das Pferd zu betrachten: Es war prachtvoll mit seinen langen, schlanken Beinen, den zarten Sprunggelenken, der muskulosen Brust, dem stolzen Kopf, den bebenden Nustern und seinem gebogenen Hals, den eine herrliche Mahne zierte. Er sauberte den Sattel und legte die Steigbugel zurecht, und als er das Pferd ansah, das seinen Hunger und seinen Durst gestillt hatte und nun vollstandig aufgezaumt war, dachte er, da? es ein Zeichen sei, das ihm seine unbekannten Vorfahren aus dem Jenseits sandten. Er nahm den Gurt mit dem Schwert und hangte ihn sich uber die Schulter, dann zog er sich die genagelten Schuhe an, nahm Juba am Zugel und wandte sich zu der Stelle, an der das Wasser am seichtesten war.
»Hast du auch nichts vergessen?« fragte eine Stimme hinter ihm. Und das Echo, das vom hohen Gewolbe widerhallte, antwortete: »Nichts vergessen?«
Zuerst uberrascht und dann verlegen drehte Aurelius sich um: Livia stand aufrecht vor ihm, in der Hand eine Harpune; sie trug eine Art Lendenschurz aus gegerbtem Leder und zwei gekreuzte Stoffstreifen uber der Brust und war soeben aus dem Wasser gestiegen, das noch von ihrem muskulosen Korper tropfte. Sie warf das Netz, das sie in der anderen Hand hielt, vor sich auf den Boden; es war gefullt mit gro?en, zuckenden Meeraschen, und ein langer Aal wand sich wie eine Schlange um den Griff der Harpune.
Aurelius sagte: »Mein Pferd ist zuruckgekommen.«
»Das sehe ich«, erwiderte Livia. »Und ich sehe auch, da? du hier nicht weiter storen willst. Du hattest wenigstens warten konnen, bis ich zuruckkomme, und vielleicht danke schon sagen konnen.«
»Ich hatte dir meine Rustung dagelassen«, sagte er und zeigte auf den Harnisch, den Schild und den Helm, die in einer Ecke des Nymphaums lagen. »Damit kannst du einiges anfangen ...«
Livia spuckte auf den Boden. »Von diesem Schrott finde ich so viel, wie ich will und wo ich will.«
»Ich ware fruher oder spater zuruckgekehrt, um dir zu danken, und ich hatte dir eine Nachricht hinterlassen, wenn ich etwas zu schreiben gehabt hatte. Ich kann Abschiede nicht ausstehen, die Trennungen ... Ich hatte nicht gewu?t, was ich sagen sollte, und ...«
»Es gibt nichts zu sagen. Du gehst weg und Schlu?. Du machst dich mit deinen Sachen aus dem Staub und la?t dich nie wieder blicken. Nichts ist leichter als das.«
»Es ist nicht so, wie du glaubst. In diesen Tagen habe ich ...« Er richtete den Blick langsam vom Boden nach oben, ihren Korper entlang, als furchte er, direkt ihrem Blick zu begegnen. »Ich habe niemals jemanden gehabt, der sich so um mich gekummert hat, ein Madchen wie du, so jung und mutig und ... du bist wie keine andere von denen, die ich in meinem Leben kennengelernt habe ... Ich habe befurchtet, da? es mir, hatte ich noch langer gewartet, jeden Tag noch ... schwerer gefallen ware. Ich hatte Angst, da? es mir zu schwer fallen wurde.« Livia antwortete nicht.
Jetzt wanderte Aurelius' Blick hinauf zu ihrem Gesicht, aber er verweilte noch einmal einen Augenblick lang auf dem Anhanger, den das Madchen um den Hals trug, auf dem kleinen silbernen Adler. Livia bemerkte es, und als er ihr endlich in die Augen sah, reagierte sie weniger barsch, als er erwartet hatte. Sie betrachtete ihn mit einer Mischung aus Neugierde und schlichter Zuneigung und sagte dann: »Du brauchst mir dieses dumme Zeug