Angelegenheit denkst, und jetzt sage ich dir, was ich denke: Wenn ihm etwas passieren sollte, was auch immer, wurdest du dafur verantwortlich gemacht, und dann ware dein Kopf weniger wert als die Essensreste, die ich den Hunden zum Fra? vorgeworfen habe. Hast du mich richtig verstanden?«

»Ich habe dich sehr gut verstanden«, erwiderte Wulfila, »und ich glaube, da? du deine Entscheidung, den Jungen zu schonen, noch bereuen wirst, aber du bist es, der die Befehlsgewalt hat.« Diese letzten Worte brachte er hervor wie jemand, der den Satz gern mit einem »... bis auf weiteres« beendet hatte. Odoaker begriff, wollte aber nichts mehr hinzufugen.

Als der Tag der Abreise kam, traten kurz vor dem Morgengrauen zwei Magde in Romulus' Zimmer, um ihn zu wecken und reisefertig zu machen.

»Wohin wird man uns bringen?« fragte der Knabe.

Die Magde verstandigten sich uber ein Zeichen und sagten dann, an Ambrosinus gewandt, der sich sofort erhoben hatte: »Wir wissen es noch nicht, aber Antemius ist sicher, da? ihr nach Suden reisen werdet, und aufgrund der Menge an Lebensmittelvorraten meint er, es wurde sich um eine mindestens einwochige Reise handeln, vielleicht dauert sie auch langer. Es konnte nach Gaeta oder nach Neapel gehen oder vielleicht auch nach Brindisi, aber dieses Ziel halt er fur weniger wahrscheinlich.«

»Und danach?« fragte Ambrosinus.

»Es wird kein Danach geben«, erwiderte die Magd. »An eurem Bestimmungsort werdet ihr, egal, wie er hei?t, fur immer bleiben.«

Ambrosinus wandte den Blick ab und versuchte, seine Erregung zu verbergen. Die Madchen ku?ten Romulus die Hande und flusterten: »Leb wohl, Casar! Gott moge dich beschutzen!«

Kurz darauf wurden Romulus und Ambrosinus, von Wulfilas Mannern eskortiert, an der Basilika vorbei nach drau?en gefuhrt. Die Tur stand offen, und am anderen Ende des Schiffes sah man eine von brennenden Lampen umgebene Bahre: Man war im Begriff, die feierliche Beisetzung Flavia Serenas vorzubereiten. Antemius trat naher, von einem von Odoakers Leuten wachsam verfolgt, begru?te Romulus mit gro?er Ehrerbietung und sagte: »Leider ist es dir nicht gestattet, an der Beisetzungsfeier fur deine Mutter teilzunehmen, die ich selbst mit der gro?ten Sorgfalt geplant habe, aber vielleicht ist es besser so. Gute Reise, mein Herr. Gott moge dir helfen!«

»Danke«, sagte Ambrosinus zu Antemius und gru?te ihn seinerseits mit einem Kopfnicken. Er stieg in die Kutsche und hielt die Tur auf, um Romulus einsteigen zu lassen, aber der Junge ging noch einige Schritte weiter, bis zur Schwelle der Basilika. Dort warf er einen langen Blick auf Flavia Serenas Leichnam und murmelte: »Leb wohl, Mama.«

V

Das Bild kristallisierte sich nur langsam heraus. Zunachst war es blo? ein vages Schimmern, ein grunlicher Widerschein, dann nahm es im schwachen Licht der Morgensonne immer deutlichere und klarere Konturen an: ein gro?es Becken voller Wasser, eine Steinmaske in Form eines Satyrgesichts mit geoffnetem Mund, aus dem gluckernd ein Bachlein in das gro?e Bassin rann. Oben krummte sich ein mit Tropfen bedecktes Gewolbe, von dem ganze Buschel von Venushaar herabhingen; dort oben drang durch breite Risse das Tageslicht ein und malte seltsame Effekte an die Wande und auf die Oberflache des Wassers. Rund um das Becken standen Sockel mit den Uberresten verstummelter Statuen. Ein altes verlassenes Nymphaum.

Aurelius machte Anstalten, sich aufzusetzen, aber diese plotzliche Bewegung entlockte ihm nur einen Schmerzensschrei. Erschrocken hupften einige Frosche in das stehende Wasser.

»Immer mit der Ruhe«, ertonte eine Stimme hinter ihm, »du hast ein ganz schones Loch in der Schulter, das konnte wieder aufgehen.«

Aurelius wandte sich um, und schlagartig kehrten die Szenen seiner Flucht in die Lagune in sein Gedachtnis zuruck - das Bild von dem verangstigten Knaben, das Gesicht dieser stolzen Frau, das im Tod erbleichte - und der Stich, den er in seinem Herzen fuhlte, war heftiger und qualvoller als seine korperlichen Schmerzen. Vor ihm stand ein Mann von etwa sechzig Jahren mit runzeliger, vom Salz verdorrter Haut; er trug eine Tunika aus grober Wolle, die ihm bis zu den Knien reichte, und seinen kahlen Kopf hielt er mit einer Mutze, die ebenfalls aus Wolle war, bedeckt.

»Wer bist du?« fragte er ihn.

»Ich bin der, der dich wieder in Ordnung gebracht hat. Ich hei?e Justinus und war einmal ein angesehener Arzt. Ich habe dich mit einem Faden, wie er fur die Fischernetze verwendet wird, zusammengeflickt, so gut es eben ging, und dich mit Essig gewaschen. Aber du warst wirklich sehr ubel zugerichtet und uberall mit Blut beschmiert. Du mu?t in der Lagune eine ganze Menge davon verloren haben, wahrend man dich mit dem Boot hierher schaffte.«

»Ich danke dir ...«, hob Aurelius an, doch in diesem Augenblick horte er Schritte aus dem hinteren Teil des gro?en Gebaudes herannahen. Er drehte sich um und sah ein Madchen, das wie ein Mann gekleidet war, mit einer Hose und einem Kittel aus Hirschleder, und kurzgeschnittene Haare hatte. Uber der Schulter trug sie einen Bogen und am Gurtel einen Kocher.

»Bei ihr mu?t du dich bedanken«, sagte der Mann und zeigte auf sie. »Sie ist es, die dir das Leben gerettet hat.« Dann hob er seinen Quersack auf und die Zinnschussel, in der er ihm die Wunde ausgewaschen hatte, verabschiedete sich mit einem leichten Kopfnicken und ging.

Aurelius betrachtete seine gerotete Schulter, deren Schwellung sich bis zur Brust und zum Ellenbogen hinunter ausgebreitet hatte. Sein Kopf schmerzte, und in seinen Schlafen hammerte es. Er lie? sich auf die Strohmatte zurucksinken, auf die er gebettet war, wahrend das Madchen naher trat und sich neben ihn auf den Boden setzte.

»Wer bist du?« fragte Aurelius. »Wieviel Zeit ist vergangen?«

»Zwei Tage.«

»Ich habe also zwei Tage und zwei Nachte durchgeschlafen?«

»Sagen wir lieber, da? du zwei Tage und zwei Nachte bewu?tlos warst. Justinus hat mir erzahlt, da? du sehr hohes Fieber hattest und phantasiert hast. Du hast seltsames Zeug zusammengeredet ...«

»Und du hast mir das Leben gerettet. Ich danke dir.«

»Ihr wart funf gegen einen. Ich habe es fur richtig gehalten, die Krafteverhaltnisse wieder auszugleichen.«

»Eine unglaubliche Zielgenauigkeit, nachts, bei diesem Nebel ...«

»Der Bogen ist die ideale Waffe in dieser so unbestandigen und fluchtigen Umgebung.«

»Und mein Pferd?«

»Sie haben es wohl mitgenommen. Oder verspeist. Es sind schwere Zeiten.«

Aurelius suchte ihren Blick, aber sie wich ihm aus.

»Hast du Wasser? Ich vergehe vor Durst.«

Das Madchen schenkte ihm aus einem Tonkrug ein.

»Wohnst du in dieser Gegend?«

»Dies ist einer meiner Zufluchtsorte: Eine schone Anlage - findest du nicht? Gro?, weitlaufig, gut geschutzt. Aber ich habe noch andere ...«

»Ich wollte sagen: Lebst du in der Lagune?«

»Seit meiner Kindheit.«

»Wie hei?t du?«

»Livia. Livia Prisca. Und du, wer bist du?«

»Aurelianus Ambrosius Ventidius, aber meine Freunde nennen mich Aurelius, und so kannst auch du mich nennen.«

»Hast du eine Familie?«

»Ich habe niemanden. Und ich kann mich auch nicht erinnern, jemals irgend jemanden gehabt zu haben.«

»Das ist unmoglich! Du hast einen Namen, und dieser Ring, den du da tragst, ist das vielleicht nicht der Ring einer Familie?«

»Das wei? ich nicht. Jemand konnte ihn mir geschenkt haben, oder ich konnte ihn auch gestohlen haben. Wer kann das schon sagen?

Meine einzige Familie ist immer das Militar gewesen, die Kameraden meiner Abteilung. Was davor war - daran erinnere ich mich nicht.«

Das Madchen schien diesen Worten kein Gewicht beizumessen. Vielleicht hatten das Fieber und die

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