Boses antun?«

Odoaker blickte ihm starr in die Augen und verspurte eine plotzliche Unruhe - so, als habe ihn ein unerklarliches Gefuhl der Unsicherheit erfullt. Er senkte den Blick, als wurde er nachdenken, dann sagte er: »Geh jetzt. Meine Entscheidung wird nicht lange auf sich warten lassen. Hofft blo? nicht, da? der Vorfall von heute nacht sich wiederholen konnte.«

»Wie sollte er das?« antwortete Ambrosinus. »Ein alter Mann und ein Junge, von Dutzenden Kriegern bewacht ... Aber wenn ich dir einen Rat geben darf ...«

Odoaker wollte sich nicht so weit demutigen, ihn darum zu bitten, aber im Grunde seines Herzens war er neugierig zu horen, was dieser Mann sagen wurde, der imstande war, ihn allein mit einem Blick aus der Fassung zu bringen. Ambrosinus verstand und fuhr fort: »Wenn du den Jungen umbringst, begehst du einen schwerwiegenden Akt der Willkur, und deine Macht wird niemals vom Kaiser des Ostens anerkannt werden, der auch in Italien viele Anhanger, viele Spitzel und auch viele Soldaten hat. Wohl kann ein Romer einem anderen Romer die Macht entziehen, aber nicht...«, und er zogerte einen Augenblick, ehe er das Wort aussprach, »... nicht ein Barbar.

Selbst der gro?e Rikimer, dein Vorganger, hat sich, um zu regieren, immer hinter blassen Kaisergestalten versteckt. Also verschone den Knaben, und du wirst als hochherzig und gro?zugig gelten. Es wird dir die Sympathien des christlichen Klerus sichern, der sehr machtig ist, und der Kaiser des Ostens wird so tun, als sei nichts geschehen. Fur ihn spielt es keine Rolle, wer im Westen das Sagen hat, weil er ohnehin nichts am Stand der Dinge andern kann, aber von grundlegender Bedeutung ist es fur ihn, da? die Form, da? der Schein gewahrt wird. Erinnere dich an das, was ich gesagt habe: Wahre den Schein, und du wirst die Macht in diesem Land behalten, solange du lebst.«

»Den Schein?« wiederholte Odoaker.

»Hor zu. Vor funfundzwanzig Jahren verlangte Attila von Kaiser Valentinianus III. einen Tribut, und diesem blieb keine andere Wahl als zu zahlen. Aber wei?t du, wie? Er ernannte Attila zum General des Reiches und zahlte ihm den Tribut in Form eines Gehalts. Im Grunde war der Kaiser der Romer einem Barbarenfuhrer tributpflichtig, aber der Schein wurde aufrechterhalten und damit die Ehre gerettet. Romulus zu toten ware eine uberflussige Grausamkeit und politisch ein ungeheurer Fehler. Du bist jetzt ein Mann der Macht. Es ist an der Zeit, da? du auch lernst, wie man damit umgeht.« Mit einer leichten Kopfbewegung wandte er sich um, und Odoaker dachte nicht daran, ihn zuruckzuhalten.

Ambrosinus ging hinaus, und fast im selben Augenblick offnete sich eine Seitentur des Arbeitszimmers, und Wulfila erschien. »Du mu?t ihn aus dem Weg raumen, und zwar sofort«, zischte er durch die Zahne, »sonst werden sich Vorfalle wie der von heute nacht standig wiederholen.«

Odoaker betrachtete ihn, und plotzlich kam ihm dieser Mann, der in der Vergangenheit auf seinen Befehl hin jede Art von Schadlichkeiten begangen hatte, fern und beinahe wie ein vollig Fremder vor - wie ein Barbar, mit dem er, wie er fuhlte, nichts mehr gemein hatte.

»Du kennst nur Blut und Gemetzel«, antwortete er ihm. »Ich aber will regieren, verstehst du? Ich will, da? meine Untertanen sich ihren Geschaften und Beschaftigungen widmen und keinen Komplotten und Verschworungen. Ich werde also die Entscheidung treffen, die mir am richtigsten erscheint.«

»Du hast dich vom Gejammer dieses Scho?kindes erweichen und dir vom Geschwatz dieses Scharlatans den Kopf verdrehen lassen. Wenn du dich au?erstande fuhlst, dann kummere ich mich um sie.«

Odoaker hob die Hand so, als wolle er ihm einen Schlag versetzen, hielt aber vor Wulfilas gepeinigtem Gesicht inne. »Wage nicht, mir zu mi?trauen«, herrschte er ihn an. »Gehorche, ohne zu diskutieren. Und jetzt geh, ich mu? nachdenken. Wenn ich entschieden habe, werde ich dich holen lassen.«

Wulfila ging und schlug die Tur hinter sich zu. Odoaker blieb allein im Arbeitszimmer zuruck; er wanderte auf und ab und grubelte dabei uber Ambrosinus' Worte nach. Dann rief er plotzlich einen Diener und befahl ihm, Antemius, den Palastlehrer, zu ihm zu fuhren. Der Alte trat raschen Schrittes ein, und Odoaker hie? ihn Platz nehmen.

»Was das Schicksal des jungen Mannes, der Romulus Augustus genannt wird, anbelangt, so habe ich meine Entscheidung getroffen«, hob er an.

Antemius hob die wa?rigen und scheinbar ausdruckslosen Augen. Auf den Knien hielt er ein Notizbuch und in der rechten Hand eine Feder und machte sich bereit, das aufzuschreiben, was ihm gesagt wurde. Odoaker fuhr fort: »Ich habe Mitleid mit diesem armen Jungen, der nicht schuld ist am Verrat seines Vaters, und daher beschlossen, sein Leben zu schonen.«

Antemius konnte einen Seufzer der Erleichterung nicht unterdrucken, doch Odoaker redete sofort weiter: »Dennoch, der Vorfall von heute nacht ist der klare Beweis dafur, da? sein Leben in Gefahr ist und da? jemand ihn benutzen konnte, um Krieg und Zwietracht in diesem Land zu saen, das nichts anderes braucht als Frieden und Ruhe. Aus diesem Grund werde ich ihn an einen sicheren Ort schicken, wo er von vertrauenswurdigen Leuten bewacht wird, und ich werde ihm eine seinem Rang entsprechende Pension aussetzen. Die kaiserlichen Insignien werden zu Kaiser Basiliskos nach Konstantinopel geschickt, und ich werde im Gegenzug zum magister militum des Westens ernannt. Fur diese Welt ist ein Kaiser mehr als genug.«

»Eine weise Entscheidung«, bemerkte Antemius. »Das Wichtigste ist in der Tat ...«

»... den Schein zu wahren«, erganzte Odoaker. Antemius blickte ihn erstaunt an: Dieser ungehobelte Soldat lernte aber schnell die Regeln der Politik!

»Sein Erzieher darf mit ihm gehen?« fragte der Alte.

»Ich habe nichts dagegen. Der Junge kann sich so seinen Studien widmen, und das kann ihm nur guttun.«

»Wann mussen sie abreisen?« fragte Antemius.

»Je fruher, desto besser: Ich will keine weiteren Scherereien haben.«

»Und darf ich erfahren, wohin es gehen soll?«

»Nein. Nur der Kommandant der Eskorte wird entsprechende Weisungen erhalten.«

»Aber mu? ich Vorbereitungen fur eine lange oder fur eine kurze Reise treffen?«

Odoaker zogerte einen Augenblick und sagte dann: »Fur eine ziemlich lange Reise.«

Antemius nickte, zog sich mit einer ehrfurchtsvollen Verneigung zuruck und ging in Richtung seines Gemachs davon. Bei Odoaker traf kurz danach eine Gruppe Offiziere ein, die sein besonderes Vertrauen genossen und seinen engsten Beraterstab bildeten. Unter ihnen war auch Wulfila, der noch Anzeichen der Verwirrung nach seinem letzten Gesprach unter vier Augen mit seinem Herrn zeigte. Odoaker lie? ihnen das Mittagessen servieren, und als alle sa?en und jeder sich seine Portion Fleisch genommen hatte, fragte er sie, wohin er ihrer Meinung nach den Knaben ins Exil schicken sollte. Jemand schlug Istrien vor, ein anderer Sardinien. Plotzlich sagte einer der Anwesenden: »Meiner Ansicht nach sind dies zu weit entfernte Orte, die schwer zu kontrollieren sind. Es gibt eine Insel im Tyrrhenischen Meer, die rauh und unwirtlich und in jeder Hinsicht arm ist, aber ziemlich in der Nahe und doch einigerma?en weit von der Kuste entfernt liegt. Auf einem uberhangenden, vollig unzuganglichen Felsen steht eine alte Villa, die teilweise verfallen, aber noch bewohnbar ist.« Er stand auf und ging zur Wand, auf die eine Karte des Reiches aufgemalt war, und deutete auf einen Punkt im Golf von Neapel: »Capri.«

Odoaker antwortete nicht sofort. Offensichtlich dachte er uber die verschiedenen Vorschlage nach. Dann sagte er: »Dies scheint mir der beste Ort zu sein, ziemlich isoliert, aber auf jeden Fall nicht allzu schwer zu erreichen. Der Junge wird von einer Hundertschaft unserer besten Krieger eskortiert werden. Ich will weder Uberraschungen noch unvorhergesehene Umstande: Trefft also die notigen Vorbereitungen! Ich werde euch Bescheid sagen, wenn der Moment der Abreise gekommen ist.«

Die Sache war entschieden, und man wechselte das Thema. Alle waren bester Laune: Das Bewu?tsein, sich in der Residenz der hochsten Macht zu befinden, und die Aussicht auf ein angenehmes Leben auf der Grundlage von ausgedehnten Besitzungen, von Sklaven, Frauen, Herden, Villen und Palasten stimmten sie so euphorisch, da? sie geneigt waren, uber den Durst zu trinken. Als Odoa-ker sie verabschiedete, waren die meisten so betrunken, da? die Diener ihnen helfen mu?ten, zu ihren Unterkunften zu gelangen, damit sie dort eine nachmittagliche Ruhepause einlegen konnten -eine fur diese Gegenden typische Gepflogenheit, an die auch sie sich mit Leichtigkeit gewohnt hatten.

Wulfila, der im Gegensatz zu ihnen noch einigerma?en nuchtern war, weil er viel Alkohol vertrug, wurde zuruckgehalten.

»Hor zu«, sagte Odoaker zu ihm. »Ich habe beschlossen, dir die Bewachung des Knaben anzuvertrauen, weil du der einzige bist, auf den ich mich bei dieser Mission verlassen kann. Du hast mir schon gesagt, was du in dieser

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