Ich verabschiedete mich mit einer tiefen Verneigung von ihr und bat um die Erlaubnis, mich zuruckziehen zu durfen: Ich war mude und fuhlte mich mitgenommen und hatte bei dem siegreichen Zweikampf mit dem Tod meine ganzen Energien verbraucht. Ich wurde zu einem Zelt geleitet und machte es mir dort auf einem Feldbett bequem, aber die Stunden, die uns noch vom Morgengrauen trennten, verbrachte ich in einem Zustand dumpfer Lethargie, die nur von den herzzerrei?enden Schreien eines gefolterten Mannes unterbrochen wurde. Es mu?te der Mann gewesen sein, den Orestes als Giftmorder verdachtigte. Am nachsten Morgen fragte ich nicht nach und wollte auch nichts weiter wissen, weil ich schon genug wu?te: Der Vater dieses Kindes war gewi? ein sehr machtiger Mann, wenn er sich so erbitterte Feinde geschaffen hatte, da? sie sogar seinem kleinen Sohn nach dem Leben trachteten.
Als wir aufbrachen, lie?en wir den zerfleischten Leichnam eines an einen Baumstamm gebundenen Mannes zuruck. Noch vor dem Abend wurden die Tiere des Waldes von ihm nur das Skelett ubriglassen.
So wurde ich der Erzieher dieses Kindes und ein Mitglied der Familie und verbrachte mehrere Jahre in beneidenswerten Verhaltnissen: Ich wohnte in prachtvollen Palasten, begegnete wichtigen Personlichkeiten, widmete mich meinen bevorzugten Studien und meinen Experimenten auf dem Gebiet der Naturwissenschaften und verga? daruber fast vollstandig die Mission, deretwegen ich vor so langer Zeit nach Italien gekommen war. Orestes war oft abwesend und mit risikoreichen Feldzugen befa?t, und wenn er zuruckkam, dann in Begleitung der Barbarenfuhrer, die die Einheiten des Heeres befehligten. Die Zahl der romischen Offiziere nahm von Jahr zu Jahr ab. Die besten Vertreter der Aristokratie zogen es mittlerweile vor, Mitglieder des christlichen Klerus zu werden, und betatigten sich lieber als Seelenhirten denn als Heerfuhrer. Das hatte fur Ambrosius gegolten, der zu Kaiser Theodosius' Zeiten eine glanzende Laufbahn beim Militar aufgegeben hatte, um Bischof von Mailand zu werden, und so war es im Fall von Germanus gewesen, unserem Feldherrn in Britannien, der am Ende das Schwert gegen den Bischofsstab getauscht hatte.
Orestes aber war aus anderem Holz geschnitzt: Im Laufe der Zeit erfuhr ich, da? er in seinen jungen Jahren im Dienste von Attila, dem Hunnen, gestanden und sich durch seine Klugheit und seine Intelligenz ausgezeichnet hatte. Es gab keinen Zweifel, da? er die hochste Macht anstrebte.
Er schatzte mich sehr und bat mich nicht selten auch um meinen Rat, aber meine Hauptaufgabe blieb die Erziehung seines Sohnes Romulus. Er ubertrug mir fast die vaterlichen Vollmachten, da er so sehr mit dem Aufstieg zu den obersten Sprossen der militarischen Karriereleiter beschaftigt war. Bis er eines Tages den Titel eines Patriziers des romischen Volkes und das Oberkommando uber die kaiserliche Armee erhielt.
Da traf er eine Entscheidung, die sich tiefgreifend auf unser aller Leben auswirken und in gewisser Weise eine neue Ara einleiten sollte.
In jenem Jahr regierte Kaiser Julius Nepos, ein schwacher und unfahiger Mann, der aber gute Beziehungen zum Kaiser des Ostreiches, Zenon, unterhielt. Orestes beschlo?, Julius Nepos abzusetzen und sich selbst des kaiserlichen Purpurs zu bemachtigen. Er unterrichtete mich von seinem Entschlu? und fragte mich, was ich davon hielte. Ich antwortete, da? es ein Wahnsinn sei, und inwiefern sich, seiner Meinung nach, sein Schicksal von dem der letzten Kaiser unterscheiden werde, die sich einer nach dem anderen auf dem Casarenthron abgelost hatten? Und welch entsetzlichen Gefahren er seine Familie aussetzen werde?
»Dieses Mal wird es anders sein«, erwiderte er, und mehr wollte er mir nicht sagen.
»Und wie kannst du dir der Treue dieser Barbaren sicher sein? Alles, was die wollen, sind doch nur Geld und Landereien: Solange du imstande sein wirst, sie ihnen zu geben, werden sie dir folgen. Wenn du sie aber nicht langer bereichern kannst, werden sie einen anderen wahlen, der mehr Geld hat und ihre Forderungen und ihre unstillbare Gier besser befriedigen kann.«
»Hast du je uber die Legio Nova Invicta reden horen?« fragte er mich.
»Nein. Die Legionen sind vor geraumer Zeit abgeschafft worden. Du wei?t sehr wohl, mein Herr, da? sich die Militartechnik in den letzten hundert Jahren in bedeutendem Ma?e fortentwickelt hat.« Aber ich dachte an die Aufstellung der Legion, die Germanus vor seinem Tod am Hadrianswall geplant hatte, um die Festung des Mons Badonicus zu verteidigen und die inzwischen vielleicht uberhaupt nicht mehr existierte.
»Du irrst dich«, entgegnete mir Orestes. »Die Nova Invicta ist eine Elitetruppe, die nur aus Italern und Leuten aus den Provinzen des Romischen Reiches besteht. Ich habe sie in aller Heimlichkeit neu formiert und halte sie seit Jahren bereit, und zwar unter dem Kommando eines untadeligen Mannes mit gro?en burgerlichen und militarischen Tugenden. In diesem Augenblick ruckt sie in Gewaltmarschen heran, und schon bald werden die Soldaten unweit von unserer Residenz in der Emilia ihr Lager aufschlagen. Doch das ist nicht die einzige Neuigkeit, denn nicht ich werde der neue Kaiser sein.«
Ich sah ihn verblufft an, wahrend mir etwas Furchtbares dammerte. »Nein?« fragte ich. »Wer dann?«
»Mein Sohn«, erwiderte er, »mein Sohn Romulus, der auch den Titel Augustus annehmen wird. Er wird die Namen des ersten Konigs und des ersten Kaisers von Rom tragen. Und ich werde ihm den Rucken freihalten, indem ich Oberkommandant der kaiserlichen Armee bleibe. Nichts und niemand wird ihm Schaden zufugen konnen.«
Ich sagte nichts, weil alles sinnlos gewesen ware, was ich auch eingewandt hatte. Er hatte sich bereits entschieden, und durch nichts hatte er sich von seinem Vorhaben abbringen lassen. Er schien sich nicht einmal klarzumachen, da? er seinen Sohn, meinen Schutzling, meinen Jungen, einer todlichen Gefahr aussetzte.
In jener Nacht ging ich spat zu Bett und lag lange mit offenen Augen da, ohne Schlaf zu finden. Zu viele Gedanken sturmten auf mich ein, und ich sah auch diese Manner, die in Gewaltmarschen anruckten, um einen kindlichen Kaiser zu beschutzen. Legionare der letzten Legion, die aufgerufen waren, fur das Schicksal des letzten Kaisers ein letztes Opfer zu bringen ...
Die Geschichte endete hier, und Romulus hob den Kopf und klappte das Buch wieder zu. Vor ihm stand Ambrosinus. »Eine interessante Lekture, nehme ich an. Ich rufe dich schon seit einer ganzen Weile, und du geruhst nicht einmal, mir zu antworten. Das Abendessen ist fertig.«
»Verzeih mir, Ambrosinus, ich habe dich nicht gehort. Ich habe gesehen, da? du dein Buch hier liegengelassen hast, und gedacht ...«
»Darin steht nichts, was du nicht lesen durftest. Komm, wir gehen.«
Romulus klemmte sich das Buch unter den Arm und folgte seinem Lehrer in den Speisesaal. »Ambrosinus ...«, sagte er plotzlich.
»Ja?«
»Was bedeutet diese Prophezeiung?«
»Na, dieser Text ist bestimmt nicht schwer zu verstehen.«
»Nein, wirklich nicht, aber ...«
»Sie bedeutet:
>Ein junger Mann wird uber das sudliche Meer kommen, mit einem Schwert und Frieden und Wohlstand bringen. Dann werden der Adler und der Drache wieder Uber dem gro?en Land Britannien wehen.<
Das ist eine Weissagung, Casar, und wie alle Weissagungen schwer zu interpretieren, aber sie kann die Herzen jener Menschen anruhren, die Gott auserwahlt hat, damit sie seine unergrundlichen Ratschlusse in die Tat umsetzen.«
»Ambrosinus ...«, setzte Romulus noch einmal an.
»Ja?«
»Du ... hast du meine Mutter geliebt?«
Der betagte Lehrer senkte den kahlen Kopf und nickte ernst. »Ja, ich habe sie geliebt. Mit einer demutigen und ergebenen Liebe, die ich nicht einmal mir selbst eingestanden hatte, aber fur die ich in jedem Augenblick bereit gewesen ware, mein Leben hinzugeben.«
Er sah den Jungen wieder an, und seine Augen gluhten wie Kohlen, als er sagte: »Wer sie umgebracht hat, wird dafur mit einem grauenhaften Tod bezahlen. Das schwore ich.«
XV