»Eben. Ich bin Lehrerin, ich verstehe was von diesen Dingen«, meinte Anna Viktorowna. »Die Wölfe sind die Sanitäter des Waldes… Das ist natürlich eine Lüge, denn ein Wolf reißt nicht nur kranke Tiere, sondern durch die Bank alle Tiere… Trotzdem ist er ein Lebewesen. Der Wolf ist nicht schuld daran, dass er ein Wolf ist… Aber hier, in der Nähe des Dorfs! Er jagt Kinder! Treibt sie zu seinen Jungen. Wissen Sie, was das bedeutet?«Ich nickte.

»Er bringt seinen Jungen das Jagen bei.«In Anna Viktorownas Augen loderte Angst oder ein mütterlicher Zorn auf, vor dem sowohl Wölfe wie auch Bären im tiefsten Wald Zuflucht gesucht hätten. »Was ist das? Ein Menschen fressender Wolf?«

»Das kann nicht sein«, erwiderte ich. »Hier hat es noch nie einen Fall gegeben, wo ein Wolf einen Menschen angefallen hätte. Ohnehin gibt es hier schon lange keine Wölfe mehr… Das war wohl eher ein verwilderter Hund. Aber das möchte ich gern überprüfen.«

»Tun Sie das«, meinte Anna Viktorowna in festem Ton. »Und wenn… selbst wenn das ein Hund war. Wenn die Kinder sich das nicht ausgedacht haben…«Erneut nickte ich.

»Erschießen Sie ihn«, bat Anna Viktorowna. Dann fuhr sie im Flüsterton fort: »Ich schlafe nachts nicht mehr. Wenn ich nur daran denke… was hätte passieren können.«

»Aber das war ein Hund!«, erklang vom Bett Romkas Stimme herüber.

»Scht!«, fuhr Anna Viktorowna ihn an. »Gut, komm her. Erzähl dem Onkel, wie alles gewesen ist.«

Es bedurfte keiner weiteren Überredungskünste, damit Romka vom Bett sprang, zu uns kam und sich höchst geschäftig auf meinen Schoß setzte. Fordernd sah er mir in die Augen. Ich zerzauste ihm das störrische, ausgeblichene Haar. »Also, die Sache war so…«, begann Romka voller Genugtuung.

Anna Viktorowna blickte Romka irgendwie sehr traurig an. Ich verstand sie. Den Vater dieser Kinder konnte ich jedoch nicht verstehen. Es kann alles Mögliche passieren, die Leute trennen sich - aber die eigenen Kinder danach aus seinem Leben zu verbannen und sie mit Alimenten abzuspeisen?

»Wir sind gelaufen und immer weiter gelaufen, also wir sind spazieren gegangen«, erzählte Romka ermüdend langatmig. »Wir sind spazieren gegangen und in den Wald gekommen. Und dann hat Xjuscha mir schreckliche Geschichten erzählt…«

Aufmerksam hörte ich mir seinen Bericht an. Die»schrecklichen Geschichten«legten einmal mehr nahe, dass sie sich die ganze Geschichte ausgedacht hatten. Anderseits schilderte der Junge alles absolut klar. Abgesehen von den für sein Alter typischen Wiederholungen einzelner Wörter, verhedderte er sich nicht einmal.

Für alle Fälle scannte ich auch noch die Aura des Jungen. Ein Mensch… ein kleiner Mensch. Ein guter kleiner Mensch, von dem man glauben möchte, dass er zu einem guten Menschen heranwächst. Nicht die geringsten Hinweise darauf, dass es sich bei ihm um einen potenziellen Anderen handeln könnte. Und nicht die geringsten Spuren einer magischen Manipulation.

Wenn jedoch schon Swetlana nichts bemerkt hatte - was sollte mir mit meinem zweiten Grad dann eigentlich auffallen?

»Und plötzlich hat der Wolf gelacht!«, rief Romka, während er fröhlich mit den Händen fuchtelte.

»Hast du denn keine Angst gehabt?«, fragte ich. Zu meinem Erstaunen dachte Romka lange darüber nach.

»Doch«, sagte er dann. »Ich bin noch klein, und der Wolf war groß. Außerdem hatte ich keinen Stock - wo kriege ich im Wald einen Stock her? Aber später hatte ich dann keine Angst mehr.«

»Hast du jetzt Angst vor Wölfen?«, hakte ich nach. Nach einem solchen Abenteuer hätte jeder normale Junge angefangen zu stottern. Romka hingegen hatte damit aufgehört!

»Nicht die Spur!«, versicherte der Junge. »Aber wegen Ihnen habe ich jetzt meinen Faden verloren. Wo war ich denn? »

»An der Stelle, wo der Wolf gelacht hat«, meinte ich lächelnd.

»Genau wie ein Mensch«, sagte Romka.

Alles klar. Ich hatte es schon ziemlich lange nicht mehr mit Werwölfen zu tun gehabt. Noch dazu mit solchen hinterhältigen… Kinder zu jagen, nur hundert Kilometer von Moskau entfernt. Worauf hofften sie? Dass es hier im Dorf keine Wache gab? Dabei ging das regionale Büro jedem Fall von vermissten Menschen nach. Für diese Aufgabe gibt es einen guten und hochspezialisierten Magier. Er macht das mit Methoden, die alle Welt für pure Scharlatanerie hält, sieht sich Fotos an und legt sie dann weg oder ruft die Fahnder an, um besorgt zu klagen: »Irgendwas ist hier… irgendwas, aber ich weiß nicht, was…«

Dann würden wir losfahren, im Moskauer Umland ausschweifen, den Wald durchkämmen, Spuren sichern… schreckliche Spuren, an die wir uns jedoch gewöhnt haben. Die Tiermenschen würden vermutlich bei ihrer Verhaftung Widerstand leisten. Und irgendjemand - möglicherweise wäre ich das - würde mit der Hand wedeln. Daraufhin würde der leuchtende graue Höhenrauch durch das Zwielicht kriechen…

Solche wie sie fangen wir nur selten lebend. Wollen es auch gar nicht.

»Außerdem glaube ich«, fuhr Romka verständig fort, »dass der Wolf etwas gesagt hat. Ich glaube, ich glaube… Aber er hat doch gar nicht geredet, das weiß ich. Wölfe reden schließlich nicht, oder? Aber ich träume davon, dass er etwas gesagt hat. »

»Und was?«, fragte ich vorsichtig nach.

»Geh… weg, He-xe!«, meinte Romka, der angestrengt versuchte, den heiseren Bass nachzuahmen.

Also doch. Damit konnte ich eine Razzia anordnen. Oder sogar Hilfe aus Moskau anfordern.

Das war ein Werwolf gewesen, ohne Frage. Und die Kinder konnten von Glück sagen, dass sich auch noch eine Hexe in der Gegend rumtrieb. Eine starke. Eine sehr starke.

Die nicht einfach nur den Werwolf vertrieb, sondern auch noch das Gedächtnis der Kinder reinigte, ohne dabei die geringste Spur zu hinterlassen. Indem sie einfach nicht allzu tief eindrang. Sie hatte nicht erwartet, dass in dem Dorf ein aufmerksamer Wächter auftauchen würde… Bei Bewusstsein erinnerte sich der Junge an nichts - aber im Schlaf, da schon. »Geh weg, Hexe!«Interessant!

»Danke, Romka.«Ich drückte ihm die kleine Hand. »Ich werde mal in den Wald gehen und nachgucken.«

»Haben Sie denn keine Angst? Haben Sie ein Gewehr?«, fragte Romka munter.

»Ja. «

»Zeigen Sie's mir!«

»Es ist zu Hause«, meinte Anna Viktorowna streng. »Gewehre sind außerdem kein Spielzeug für Kinder.«

Romka seufzte. »Aber die kleinen Wölfe erschießen Sie nicht, ja?«, bat er in herzzerreißendem Ton. »Bringen Sie mir lieber einen von ihnen mit, dann erziehe ich ihn wie einen Hund! Oder zwei, einen für mich, einen für Xjucha!«

»Roman!«, rief Anna Viktorowna ihn mit strenger Stimme zurecht.

Xjuscha fand ich am Teich, genau wie ihre Mutter es gesagt hatte. Eine Gruppe Mädchen brutzelte neben einer Horde Jungen in der Sonne, auf beiden Seiten flogen spitze Bemerkungen hin und her. Die männlichen Wasserratten waren in dem Alter, in dem sie die Mädchen bereits nicht mehr an den Zöpfen zogen - aber noch nicht begriffen, was sie mit ihnen anstellen sollten.

Bei meinem Auftauchen verstummten alle, Neugier und Furcht packte sie. Ich war im Dorf noch nicht allzu bekannt.

»Oxana?«, fragte ich ein Mädchen, das ich meiner Ansicht nach schon einmal zusammen mit Romka gesehen hatte und das Xjuscha sein konnte.

Ein sehr ernstes Mädchen mit blauem Badeanzug sah mich an und nickte. »Hallo… Guten Tag«, sagte sie höflich.

»Guten Tag. Ich bin Anton, der Mann von Swetlana Nasarowa. Kennst du sie?«, fragte ich.

»Wie heißt Ihre Tochter?«, fragte Oxana misstrauisch.

»Nadja.«

»Ich kenne sie«, meinte Oxana nickend und erhob sich aus dem Sand. »Sie wollen mit mir über die

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