Du ... und er. Er machte dich resistent... und ihn. Mr. Jingles. Als er Mr. Jingles zwischen die
gewolbten Handflachen nahm.«
»Stimmt. Welche Kraft auch immer durch John ubertragen wurde, sie bewirkte das - nehme ich
jedenfalls an -, und jetzt ist sie fast verbraucht. Die Termiten haben sich durch unsere Rinde
gefressen. Es dauert ein bisschen langer als normalerweise, aber sie kommen durch. Ich habe
vielleicht noch ein paar weitere Jahre, denn Menschen leben immer noch langer als Mause, nehme ich
an, aber Mr. Jingles' Zeit ist fast abgelaufen.«
Er erreichte die Spule, humpelte um sie herum, fiel auf die Seite und atmete schwer (wir konnten
sehen, wie sich sein graues Fell unter den keuchenden Atemzugen krauselte), und dann stemmte er
sich auf und begann die Spule spielerisch mit seiner Nase zuruckzuschieben. Sein Fell war grau, sein
Gang war unsicher, doch seine Augen glanzten wie immer.
»Du meinst er wollte, dass du schreibst was du geschrieben hast«, sagte Elaine. »Ist es so, Paul?«
»Nicht Mr. Jingles«, antwortete ich. »Nicht er, aber die Kraft, die ...«
»Hallo, Paulie. Und auch Elaine Connelly!« ertonte eine Stimme an der offenen Tur. Sie war von einer
Art sarkastisch gespieltem Erschrecken erfullt »Habe ich euch erwischt! Was, um Himmels willen,
treibt ihr beide hier?«
Ich wandte mich um, irgendwie uberhaupt nicht uberrascht und sah Brad Dolan auf der Turschwelle.
Er grinste wie jemand, der das Gefuhl hat, dass er andere prima hereingelegt hat. Wie weit war er
nach der Schicht die Stra?e hinuntergefahren? Vielleicht nur bis zum Wrangler, der Kneipe an der
nachsten Kreuzung, wo er ein Bier oder zwei getrunken hatte, bevor er zuruckgekehrt war.
»Raus«, sagte Elaine kalt, »Verschwinden Sie auf der Stelle!«
»Du hast mir gar nichts zu sagen, du runzlige alte Hexe«, entgegnete er, immer noch feixend.
»Vielleicht hattest du das in jungeren Jahren tun konnen, aber die sind jetzt voruber. Hier hast du
dich nicht herumzutreiben. Das ist verboten. Kleines Liebesnest, Paulie? Ist es das, was du hier hast?
Eine Art
Schuppens sah. »Was ist denn
Ich schaute nicht hin. Erstens wusste ich, was dort war; zweitens hatte sich die Vergangenheit
plotzlich uber die Gegenwart geschoben und ein schreckliches Bild geschaffen, dreidimensional in
seiner Realitat. Es war nicht Brad Dolan, der dort auf der Turschwelle stand, sondern Percy Wetmore.
Im nachsten Moment wurde er in den Schuppen sturmen und Mr. Jingles zerstampfen (der keine
Hoffnung mehr haben konnte, schnell genug zu sein, um ihm zu entkommen). Und diesmal gab es
keinen John Coffey, der ihn vom Rand des Todes ins Leben zuruckholen konnte. Wie es auch keinen
John Coffey gegeben hatte, als ich ihn an diesem regnerischen Tag in Alabama gebraucht hatte.
Ich richtete mich auf und spurte nicht den Schmerz in meinen Gliedern und Muskeln. Ich sturmte auf
Dolan zu. »Lass ihn in Frieden!« schrie ich. »Du ruhrst ihn nicht an, Percy, oder ich werde bei Gott...«
»Wen nennst du Percy?« fragte Brad und stie? mich so hart zuruck, dass ich fast gefallen ware. Elaine
fing mich auf, obwohl es ihr weh tun musste. Sie stutzte mich. »Es ist auch nicht das erste Mal, dass
du mich so genannt hast. Und hor auf, dir in die Hosen zu pissen. Ich habe nicht vor, ihn anzuruhren.
Das ist nicht notig. Das ist eine tote Maus.«
Ich fuhr herum, dachte, dass Mr. Jingles nur auf der Seite lag, um zu Atem zu kommen, wie er es
manchmal tat. Er lag auf der Seite, ja, doch sein Fell bewegte sich nicht. Ich versuchte mir
einzureden, dass ich das Krauseln des Fells noch immer sehen konnte, und dann brach Elaine in lautes
Schluchzen aus. Sie buckte sich schwerfallig und hob die Maus auf, die ich zum ersten Mal auf der
Green Mile gesehen hatte, als sie zum Wachpult gekommen war und sich tapfer wie ein Mann
seinesgleichen genahert hatte ... oder seinen Freunden. Jetzt lag Mr. Jingles reglos auf Elaines Hand.
Seine Augen waren geschlossen. Er war tot.
Dolan grinste widerlich und bleckte dabei die Zahne, die sehr wenig Bekanntschaft mit einem
Dentisten gemacht hatten. »Ah, wie traurig!« sagte er. »Haben wir soeben den Liebling der Familie
verloren? Sollen wir eine kleine Beerdigung arrangieren, mit Papierblumen und ...«
»Halt die Schnauze!« schrie Elaine ihn an, so laut und kraftig, dass er einen Schritt zuruckwich und
sein Grinsen verschwand. »VERSCHWINDE VON HIER! VERSCHWINDE, ODER DU WIRST KEINEN TAG
MEHR HIER ARBEITEN! KEINE STUNDE MEHR! DAS SCHWORE ICH!«
»Du wirst keine Scheibe Brot mehr bekommen, wenn du dich an der Schlange der Bedurftigen
anstellst«, sagte ich, aber so leise, dass keiner von beiden es horte. Ich konnte nicht den Blick von Mr.
Jingles nehmen, der wie der kleinste Barenfellteppich der Welt auf Elaines Handflache lag.
Brad war nahe daran, es darauf ankommen zu lassen, sie zu zwingen, Farbe zu bekennen - und er
hatte recht der Schuppen war verbotenes Gelande fur die Bewohner von Georgia Pines, soviel wusste
selbst ich -, doch dann gab er nach. Er war im Grunde seines Herzens ein Feigling wie Percy. Und er
hatte vielleicht Elaines Behauptung uberpruft, dass ihr Enkel ein hohes Tier war, und festgestellt, dass
es stimmte. Und vor allem war seine Neugier befriedigt sein Wissensdurst gestillt. Nach all seinen
wilden Vermutungen hatte sich das Geheimnis als nicht so sehr gro? erwiesen. Die Lieblingsmaus
eines alten Mannes hatte offenbar in dem Schuppen gehaust. Jetzt war sie krepiert, hatte einen
Herzanfall oder sonst was bekommen, wahrend sie die farbige Spule geschoben hatte.
»Ich wei? nicht weshalb ihr so aus dem Hauschen seid«, sagt er. »Ihr tut, als ware es ein Hund oder
so was gewesen.«
»Raus!« zischte Elaine. »Verschwinde, du unwissender Flegel. Das bisschen Grips, das du hast, ist
widerlich und verkommen.«
Er wurde rot. Die Stellen, an denen seine High-School-Pickel gewesen waren, nahmen ein dunkleres
Rot an als der Rest
»Ich gehe«, sagte er, »aber wenn du morgen wieder hierhin kommst ...
Schloss an dieser Tur sehen. Dieser Schuppen ist verbotenes Terrain fur die Bewohner des Heims,
ganz gleich, was die norgelige alte Mrs. Meine-Schei?e-stinkt-nicht sagt. Sieh dir den Boden an! Die
Bretter sind verzogen und verfault! Wenn du durchbrichst, wird dein mageres altes Bein brechen wie
ein Stuck Brennholz. Also nimm diese tote Maus, wenn du willst, und troll dich.
Der Liebesschuppen ist hiermit geschlossen.«
Er machte kehrt und schritt davon wie jemand, der uberzeugt ist, dass er sich einen guten Abgang
verschafft hat Ich wartete, bis er fort war, und nahm dann behutsam Mr. Jingles von Elaine entgegen.
Mein Blick fiel auf die Tute mit den Pfefferminzbonbons, und das bewirkte es - die Tranen kamen. Ich
wei? nicht warum, aber ich heule heutzutage irgendwie leichter.
»Hilfst du mir, einen alten Freund zu begraben?« fragte ich Elaine, als Brad Dolans schwere Schritte
verklungen waren.
»Ja, Paul.« Sie legte einen Arm um meine Hufte und schmiegte den Kopf gegen meine Schulter. Mit
einem alten und knorrigen Finger strich sie uber das Fell des toten Mr. Jingles.
»Das werde ich gern tun.«
Und so borgten wir uns eine Schaufel aus dem Gartnereischuppen und begruben Dels Lieblingsmaus,
wahrend die Schatten des Nachmittags lang durch die Baume fielen, und dann spazierten wir zuruck
zu unserem Abendessen und nahmen wieder auf, was von unserem Leben geblieben war. Und ich
dachte an Del, der auf dem grunen Teppich in meinem Buro kniete, Del, der die Hande
gefaltet hatte und dessen kahler Kopf im Lampenschein glanzte, wahrend er uns bat uns um Mr.
Jingles zu kummern und dafur zu sorgen, dass der Bose ihm niemals mehr etwas antat.
Doch der Bose tut uns allen am Ende etwas an, nicht wahr?
»Paul?« fragte Elaine. Ihre Stimme klang freundlich und erschopft. Selbst das Ausheben eines kleinen
Grabs, um eine Maus darin zu bestatten, ist fur alte Schatzchen wie uns eine Menge Stress.
»Alles in Ordnung?«
Mein Arm lag um ihre Hufte. Ich druckte sie an mich. »Mir geht's prima«, sagte ich.
»Sieh nur«, sagte sie. »Es wird ein wunderschoner Sonnenuntergang. Sollen wir drau?en bleiben und
ihn uns anschauen?«