Ich nickte abermals.

»Komm ins Haus«, sagte sie und half mir auf. Ich musste daran denken, wie John mir aufgeholfen

hatte, nachdem wir zusammen gebetet hatten. »Komm rein und trink einen Kaffee.«

Das tat ich. Der erste Morgen verging, der erste Nachmittag, dann die erste Arbeitsschicht. Die Zeit

siegt uber einen, ob Sie es wollen oder nicht. Die Zeit siegt und am Ende ist nur Dunkelheit.

Manchmal finden wir andere in dieser Dunkelheit, und manchmal verlieren wir sie dort wieder. Das ist

alles, was ich wei?, abgesehen davon, dass dies 1932 geschah, als die staatliche Strafvollzugsanstalt

noch in Gold Mountain war. Und als naturlich der elektrische Stuhl dort war.

12

Gegen Viertel nach zwei am Nachmittag kam meine Freundin Elaine Connelly ins Solarium, wo ich sa?

und die letzten Seiten meiner Geschichte vor mir ordentlich gestapelt hatte. Sie war sehr blass, und

unter ihren Augen glanzte es. Ich glaube, sie hatte geweint.

Ich hatte nur aus dem Fenster geschaut, hinaus uber die Hugel im Osten, und in meiner rechten Hand

pochte es. Aber es war ein irgendwie friedliches Pochen. Ich fuhlte mich wie eine leere Hulle.

Ein Gefuhl, das schrecklich und wunderbar zugleich war.

Es fiel mir schwer, Elaine in die Augen zu sehen - ich befurchtete, darin vielleicht Hass und

Verachtung zu sehen -, aber sie waren in Ordnung. Traurig und verwundert, aber in Ordnung.

Kein Hass, keine Verachtung, keine Unglaubigkeit.

»Willst du den Rest der Story lesen?« fragte ich. Ich klopfte mit der schmerzenden Hand auf den

kleinen Stapel von Manuskriptseiten. »Sie ist fertig, aber ich kann verstehen, wenn du den Rest

einfach nicht lesen willst...«

»Es ist keine Frage, was ich will«, sagte Elaine. »Ich muss wissen, wie es ausgeht obwohl ich

annehme, dass du ihn zweifellos hingerichtet hast. Das Eingreifen der Vorsehung wird im Leben von

gewohnlichen Menschen stark uberschatzt, finde ich. Aber bevor ich diese Seiten nehme ... Paul...«

Sie verstummte, als wusste sie nicht weiter. Ich wartete.

Manchmal kann man den Leuten nicht helfen. Manchmal ist es besser, es nicht mal zu versuchen. »Paul, du redest hier, als hattest du 1932 zwei erwachsene Kinder - nicht nur ein Kind, sondern zwei. Wenn du deine Janice nicht geheiratet hast ,als du zwolf und sie elf war, dann ist es unmoglich, dass ...«

Ich lachelte ein wenig. »Wir waren jung, als wir heirateten - viele Leute im Hugelland waren das, meine eigene Mutter heiratete jung -, aber nicht so jung.«

»Wie alt warst du dann? Ich habe immer angenommen, du warst Anfang Achtzig, in meinem Alter, vielleicht sogar ein bisschen junger, aber nach dem, was ich gelesen habe ...« »Ich war vierzig in dem Jahr, in dem John uber die Green Mile ging«, sagte ich. »Ich wurde 1892 geboren. Das macht mich hundertundvier Jahre alt wenn ich noch zahlen kann.« Sie starrte mich sprachlos an.

Ich hielt ihr den Rest des Manuskripts hin und erinnerte mich, wie John mich beruhrt hatte, dort in seiner Zelle. Sie werden nicht explodieren, hatte er gesagt und ein bisschen bei der Vorstellung gelachelt und ich war es auch nicht..., aber etwas war trotzdem mit mir geschehen. Etwas Dauerhaftes.

»Lies den Rest«, sagte ich. »Die Antworten, die ich habe, stehen darin.«

»Also gut«, sagte sie fast flusternd. »Ich habe ein bisschen Angst, das kann ich nicht leugnen, aber ... in Ordnung. Wo wirst du sein?«

Ich stand auf, reckte mich und lauschte dem Knacken meiner Wirbelsaule. Eines wusste ich mit Sicherheit - ich konnte das Solarium nicht mehr ausstehen. »Drau?en auf der Krocket-Spielstra?e. Ich will dir immer noch etwas zeigen, und das ist in dieser Richtung.« »Ist es ... gruselig?« In ihrem furchtsamen Blick sah ich das kleine Madchen, das sie gewesen war, als Manner im Sommer Strohhute und im Winter Mantel aus Waschbarfell getragen hatten. »Nein«, sagte ich lachelnd. »Nicht gruselig.«

»In Ordnung.« Sie schwenkte die Seiten. »Ich lese auf meinem Zimmer. Dann treffen wir uns auf der Krocket-Spielstra?e ...« Sie blatterte in dem Manuskript und schatzte die Seitenzahl. »Um vier? Einverstanden?«

»Perfekt«, sagte ich und dachte an den zu neugierigen Brad Dolan. Der wurde dann weg sein.

Elaine druckte leicht meinen Arm und verlie? das Solarium. Ich blieb einen Augenblick lang stehen, schaute auf den Tisch und konnte nicht glauben, dass er leer war au?er dem Tablett, auf dem Elaine mir an diesem Morgen das Fruhstuck gebracht hatte. Meine Seiten waren verschwunden. Ich konnte irgendwie nicht fassen, dass ich fertig war ..., und wie Sie sehen, war ich das auch noch nicht, weil ich nach dem Bericht uber John Coffeys Hinrichtung all dies noch geschrieben und die letzten Seiten Elaine gegeben hatte. Und selbst da hatte ein Teil von mir gewusst, warum ich noch nicht fertig war. Alabama.

Ich nahm die letzte Scheibe kalten Toast vom Tablett, ging nach unten und hinaus auf die Krocket­ Spielstra?e.

Dort setzte ich mich in die Sonne, beobachtete ein Dutzend Paare und eine langsame, aber frohliche Vierergruppe beim Schwingen ihrer Schlager, hing ihren Altmannergedanken nach und lie? die Sonne meine Altmannerknochen warmen. Gegen Viertel vor drei begann die Schicht von drei bis elf Uhr auf dem Parkplatz einzutrudeln, und um drei Uhr fuhren die Leute der Schicht von sieben bis drei Uhr davon. Die meisten gingen in Gruppen zum Parkplatz, aber Brad Dolan war allein. Das war ein irgendwie aufheiternder Anblick; vielleicht war die Welt doch noch nicht ganz zum Teufel gegangen. Eines seiner Witzbucher ragte aus seiner Gesa?tasche. Der Weg zum Parkplatz verlief langs der Krocket-Spielstra?e, und so sah er mich dort, aber er winkte mir nicht und blickte mich auch nicht finster an. Das passte mir ausgezeichnet. Er stieg in seinen alten Chevrolet mit dem Aufkleber ICH HABE GOTT GESEHEN, UND SEIN NAME IST NEWT. Dann fuhr er davon und hinterlie? eine dunne Spur von billigem Motorol.

Gegen vier Uhr gesellte sich Elaine zu mir, wie sie versprochen hatte. Ich sah ihr an den Augen an, dass sie noch etwas mehr geweint hatte. Ich legte den Arm um sie und druckte sie fest an mich. »Armer John Coffey«, sagte sie. »Und armer Paul Edgecombe.« Armer Paul, horte ich Jan sagen. Armer guter Junge.

Elaine begann wieder zu weinen. Ich hielt sie im Arm, dort an der Krocket-Spielstra?e im Sonnenschein des Nachmittags. Unsere Schatten sahen aus, als tanzten sie. Vielleicht in den So-als-

ob-Ballsalen, deren Musik wir in jenen Tagen im Radio horten.

Schlie?lich hatte Elaine sich wieder unter Kontrolle und loste sich von mir. Sie fand ein

Papiertaschentuch in ihrer Kleidertasche und wischte sich damit uber die feuchten Augen.

»Was geschah mit der Frau des Direktors, Paul? Was geschah mit Melly?«

»Sie wurde als das Wunder ihrer Zeit betrachtet, wenigstens von den Arzten im Krankenhaus in

Indianola«, sagte ich. Ich ergriff Elaines Arm, und wir spazierten zu dem Pfad, der vom Parkplatz fur

die Angestellten fort und in das Waldchen fuhrte.

Zu dem Schuppen bei der Mauer zwischen Georgia Pines und der Welt der jungeren Leute.

»Sie starb - an einem Herzanfall, nicht an einem Gehirntumor - zehn oder elf Jahre spater. 1943,

glaube ich. Hal starb an einem Schlaganfall, so ungefahr um den Tag von Pearl Harbor herum -es

kann sogar genau an diesem Tag gewesen sein -, sie uberlebte ihn also um zwei Jahre.

Ziemlich ironisch, was?«

»Und Janice?«

»Darauf bin ich heute noch nicht ganz vorbereitet«, sagte ich. »Ich werde es dir ein anderes Mal

erzahlen.«

»Versprochen?«

»Versprochen.« Aber das war ein Versprechen, das ich nie einhielt. Drei Wochen nach dem Tag, an

dem wir zusammen in das Waldchen spazierten (ich hatte ihre Hand gehalten, wenn ich nicht

befurchtet hatte, ihren geschwollenen, arthritischen Fingern weh zu tun), starb Elaine Connelly

friedlich in ihrem Bett. Wie bei Melinda Moores war ihr Tod das Resultat eines Herzanfalls. Der Pfleger,

der sie fand, sagte, sie hatte friedlich ausgesehen, als ware der Tod plotzlich und ohne viel

Schmerzen eingetreten. Ich hoffe, er hatte recht. Ich habe Elaine geliebt. Und sie wird mir fehlen.

Sie und Janice und Brutal und einfach alle.

Wir gelangten zu dem zweiten Schuppen am Pfad, zu dem unten an der Mauer. Er stand abseits

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