Wir gingen in mein Buro. John schaute sich kurz um, und dann kniete er sich ohne Aufforderung hin.

Hinter ihm blickte mich Harry mit gequaltem Blick an. Dean war wei? wie Papier.

Ich kniete mich neben John und dachte, dass sich eine komische Kehrtwendung um hundertachtzig

Grad anbahnte: Nachdem ich all den Todeskandidaten aufgeholfen hatte, damit sie die Reise beenden

konnten, war ich diesmal derjenige, der Hilfe brauchte. So fuhlte ich mich jedenfalls.

»Um was sollten wir beten, Boss?« fragte John.

»Kraft«, erwiderte ich, ohne auch nur zu denken. Ich schloss die Augen und sagte: »Herr der

Heerscharen, bitte, hilf uns zu beenden, was wir angefangen haben, und hei?e bitte diesen Mann,

John Coffey - wie Kaffee, nur anders geschrieben -, im Himmel willkommen, und gib ihm Frieden.

Bitte, hilf uns, dass wir ihn verabschieden, wie er es verdient, und dass nichts schief geht Amen.«

Ich offnete die Augen und schaute Dean und Harry an. Beide sahen jetzt ein bisschen besser aus,

vermutlich, weil sie einen Augenblick Zeit gehabt hatten, um zu Atem zu kommen. Ich bezweifle, dass

es an meinem Gebet lag.

Ich wollte aufstehen, und John hielt mich am Arm zuruck. Sein Blick war schuchtern und hoffnungsvoll

zugleich. »Ich erinnere mich an ein Gebet das mir jemand beibrachte, als ich klein war«, sagte er.

»Ich meine wenigstens, ich kann mich erinnern. Darf ich es aufsagen?«

»Nur zu, John«, sagte Dean. »Wir haben noch viel Zeit«

John schloss die Augen und konzentrierte sich. Ich dachte an Mude-bin-ich-geh-zur-Ruh oder vielleicht

eine verstummelte Version des Vaterunsers, aber ich horte keines von beidem. Ich hatte nie gehort,

was nun kam, und ich habe es auch seither nie wieder gehort. Nicht, dass es besonders ungewohnlich

war. John Coffey hielt die Hande vor seine geschlossenen Augen und sagte: »Baby Jesus, sanft und

gelind, bete fur mich, ein Waisenkind. Sei mein Freund, sei die Kraft meiner Hande, sei bei mir bis

zum Ende. Amen.« Er offnete die Augen, wollte sich erheben und betrachtete mich dann genau.

Ich wischte mir mit dem Arm uber die Augen. Als ich ihm zugehort hatte, waren meine Gedanken bei

Del gewesen; er hatte ebenfalls am Ende noch ein Gebet hinzufugen wollen. Heilige Maria, Mutter

Gottes, bete fur uns Sunder, jetzt und in der Stunde unseres Todes ... »Tut mir leid, John.«

»Das ist nicht notig«, sagte er. Er druckte meinen Arm und lachelte. Und dann, wie ich es geahnt

hatte, half er mir auf die Fu?e.

IQ

Es waren nicht viele Zeugen da - vielleicht insgesamt vierzehn, nur halb soviel wie bei Delacroix'

Hinrichtung. Homer Cribus war da und strapazierte den Klappstuhl mit seiner Masse wie gewohnlich,

aber ich sah nichts von Deputy McGee. Er hatte sich offenbar wie Direktor Moores entschieden, dieser

Hinrichtung nicht beizuwohnen.

In der ersten Reihe sa? ein alteres Paar, das ich zuerst nicht erkannte, obwohl ich Fotos von ihm in

vielen Zeitungen bei den Artikeln uber diesen Tag in der dritten Woche des November gesehen hatte.

Als wir uns dann der Plattform naherten, auf der Old Sparky wartete, zischte die Frau: »Stirb langsam,

du Hurensohn!« - und ich erkannte, dass es die Dettericks waren, Klaus und Marjorie. Ich hatte sie

nicht wieder erkannt, weil man nicht oft altere Leute sieht, die kaum uber drei?ig sind.

John zog bei den Worten der Frau und Sheriff Cribus' beifalligem Grunzen die Schultern ein. Hank

Bitterman, der auf Posten bei der durftigen Gruppe von Zuschauern stand, lie? Klaus Detterick nicht

aus den Augen. Das war auf meine Anweisungen zuruckzufuhren. Aber Detterick machte in dieser

Nacht keine Bewegung in Johns Richtung. Detterick war scheinbar auf einem anderen Planeten.

Brutal, der neben Old Sparky stand, gab mir einen kleinen Wink, als wir auf die Plattform traten. Er

schob seine Waffe ins Holster, ergriff Johns Handgelenk und fuhrte ihn so sanft zum elektrischen

Stuhl, wie ein Junge seine Angebetete zum ersten gemeinsamen Tanz auf die Tanzflache geleitet

»Alles in Ordnung, John?« fragte er leise.

»Ja, Boss, aber ...« Seine Augen rollten in den Hohlen hin und her, und zum ersten Mal wirkte er

angstlich. »Aber hier sind viele Leute, die mich hassen. Viele. Ich kann es spuren. Es tut weh. Wie

Stiche von Bienen. Es schmerzt«

»Dann spur, wie wir empfinden«, sagte Brutal leise. »Wir hassen dich nicht - kannst du das spuren?«

»Ja, Boss.« Aber seine Stimme zitterte jetzt schlimmer, und seine Augen hatten sich mit Tranen gefullt.

»Totet ihn zweimal, Jungs!« schrie Marjorie Detterick plotzlich. Ihre schrille Stimme war wie ein Peitschenhieb. John duckte sich gegen mich und stohnte. »Ja, totet diesen Vergewaltiger und Kindermorder zweimal, das ware prima!« Klaus, der immer noch wie ein Mann wirkte, der mit offenen Augen traumte, zog sie an sich. Sie begann zu schluchzen.

Ich sah mit Besturzung, dass Harry Terwilliger ebenfalls weinte. Bis jetzt hatte keiner der Zuschauer seine Tranen gesehen - er stand mit dem Rucken zu ihnen -, aber er heulte. Doch was konnten wir tun? Au?er weitermachen, meine ich.

Brutal und ich drehten John um. Brutal druckte eine der Schultern des schwarzen Hunen, und John setzte sich. Er umfasste Old Sparkys breite Eichenarme, sein Blick glitt hin und her, und er befeuchtete mit der Zungenspitze zuerst einen Mundwinkel, dann den anderen. Harry und ich lie?en uns auf die Knie sinken.

Am Vortag hatten wir von einem Kalfakter aus der Werkstatt flexible Vergro?erungen an die Klam­mern fur die Knochel schwei?en lassen, denn John Coffeys Knochel waren weitaus gro?er als die von durchschnittlichen Todeskandidaten. Wir hatten also Vorsorge getroffen, doch ich hatte einen alptraumhaften Augenblick, als ich dachte, dass die Klammern immer noch zu schmal waren und wir John in die Zelle zuruckfuhren mussten, wahrend Sam Broderick, der Leiter der Werkstatt in diesen Tagen, aufgetrieben wurde und rasch noch gro?ere Klammern zurechtbastelte. Ich zerrte ein letztes Mal besonders hart an der Klammer auf meiner Seite, und sie schloss sich. Johns Bein zuckte, und er schnappte nach Luft. Ich hatte ihn gezwickt.

»Verzeihung, John«, murmelte ich und blickte zu Harry. Er hatte die Klammer leichter schlie?en konnen (entweder war sie auf seiner Seite ein wenig gro?er, oder Johns rechter Knochel war etwas kleiner), aber er blickte mit zweifelnder Miene auf das Resultat. Ich glaube, ich verstand den Grund; die abgeanderten Klammern sahen hungrig aus, ihre Rachen schienen aufzuklaffen wie die Kiefer von Alligatoren.

»Es wird alles in Ordnung sein«, sagte ich und hoffte, dass es uberzeugend klang ... und dass ich die Wahrheit sagte. »Wisch dir ubers Gesicht Harry.«

Er wischte sich mit dem Armel Tranen von den Wangen und Schwei? von der Stirn. Wir wandten uns um. Homer Cribus, der zu laut mit seinem Nebenmann, dem Staatsanwalt gesprochen hatte, verstummte. Es war fast soweit.

Brutal hatte eines von Johns Handgelenken fest geschnallt, Dean das andere. Uber Deans Schulter hinweg sah ich den Arzt. Er stand, unauffallig wie immer, an der Wand, die schwarze Tasche zwischen den Fu?en. Heutzutage rennen die Arzte zu solchen Anlassen, besonders diejenigen mit dem Tropf, aber damals musste man sie fast herbeizerren, wenn man sie brauchte. Vielleicht hatten sie damals eine klarere Vorstellung von dem, was zur Aufgabe eines Arztes gehorte und was eine Perversion des Eids ist, wenn sie schworen, vor allem keinen Schaden anzurichten.

Dean nickte Brutal zu. Brutal wandte den Kopf, blickte anscheinend zu dem Telefon, das niemals fur jemanden wie John Coffey klingelt, und rief Jack Van Hay zu: »Stufe eins!«

Da war dieses Summen, als schalte sich ein alter Kuhlschrank ein, und die Lampen wurden ein wenig heller. Unsere Schatten waren scharfer, schwarze Umrisse, die an der Wand hochkletterten und wie Geier um den Schatten des elektrischen Stuhls zu schweben schienen. John atmete scharf ein. Seine Handknochel waren wei?.

»Tut es schon weh?« schrie Mrs. Detterick mit gebrochener Stimme an der Schulter ihres Mannes. »Ich hoffe es! Ich hoffe, es tut hollisch weh!« Ihr Mann druckte sie an sich. Aus einem Nasenflugel blutete er. Ich sah ein dunnes rotes Rinnsal in seinen schmalen Schnurrbart sickern. Als ich im folgenden Marz die Zeitung aufschlug und las, dass er an einem Schlaganfall gestorben war, zahlte ich zu den am wenigsten uberraschten Leuten auf der Erde.

Brutal trat in Johns Gesichtsfeld. Er beruhrte Johns Schulter, wahrend er sprach. Das war gegen die

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