einsam wie eine Wanderdrossel in der Nacht. Nie einen Freund zu haben, der mich begleitet oder mir

sagt woher wir kommen oder gehen oder warum. Ich habe es satt, dass Leute gemein zueinander

sind. Das ist ein Gefuhl wie Glasscherben in meinem Kopf. Ich mag nicht mehr all die Zeiten erleben,

an denen ich helfen wollte und es nicht konnte. Ich bin es leid, in der Dunkelheit zu sein. Aber

hauptsachlich ist es der Schmerz. Er ist zu stark. Wenn ich ihn beenden konnte, wurde ich das tun.

Aber ich kann es nicht«

Hor auf, wollte ich sagen. Hor auf, lass meine Hande los, ich werde sonst ertrinken. Ertrinken oder

explodieren.

»Sie werden nicht explodieren«, sagte er und lachelte ein wenig bei der Vorstellung ..., aber er lie?

meine Hande los.

Ich neigte mich vor und schnappte nach Luft. Zwischen meinen Knien konnte ich jeden Riss im Boden,

jede Furche, jedes Glanzen von Glimmererde sehen. Ich schaute auf zur Wand und sah Namen, die

dort 1924, 1926, 1931 hingeschrieben worden waren.

Diese Namen waren weggewaschen worden, die Manner, die sie geschrieben hatten, waren

sozusagen ebenfalls weggewaschen worden, aber ich nehme an, man kann nie etwas vollig

abwaschen, nicht in diesem dunklen Glas einer Welt, und jetzt sah ich sie wieder, ein Gewirr von

Namen ubereinander, und wahrend ich darauf schaute, war es, als horte ich die Toten sprechen und

singen und um Gnade schreien.

Ich spurte meine Augapfel in ihren Hohlen pulsieren, nahm meinen eigenen Herzschlag laut wahr,

horte mein Blut durch all die Adern meines Korpers rauschen, als wurden uberallhin Briefe zugestellt.

Ich horte einen Zug in der Ferne pfeifen - der 3-Uhr-50-Zug nach Priceford, glaube ich, aber ich war

mir nicht sicher, weil ich ihn nie zuvor gehort hatte. Nicht von Cold Mountain aus, meine ich, denn der

Zug kam nicht naher an das Staatsgefangnis heran als zehn Meilen im Osten. Ich konnte ihn nicht

vom Knast aus gehort haben, werden Sie sagen, und das hatte ich auch bis zum November 1932

geglaubt, aber an diesem Tag horte ich ihn.

Irgendwo zerplatzte eine Gluhbirne laut wie eine Bombe.

»Was hast du mit mir gemacht?« flusterte ich. »Oh, John, was hast du mit mir gemacht?«

»Es tut mir leid, Boss«, sagte er auf seine ruhige Weise. »Ich habe an nichts gedacht. Es wird nicht

viel passieren, schatze ich. Sie werden sich bald wieder normal fuhlen.«

Ich stand auf und ging zur Zellentur. Ich fuhlte mich, als wandelte ich in einem Traum. Als ich bei der

Tur war, sagte Coffey: »Sie fragen sich, warum die Madchen nicht geschrieen haben? Das ist das

einzige, uber das Sie sich noch wundern, nicht wahr? Warum diese beiden kleinen Madchen nicht

geschrieen haben, als sie noch auf der Veranda waren.«

Ich wandte mich um und schaute ihn an. Ich konnte jedes rotliche Aderchen in seinen Augen sehen,

jede Pore seines Gesichts ..., und ich spurte seinen Schmerz, den Schmerz, den er von anderen

aufsaugte wie ein Schwamm Wasser. Ich konnte auch die Dunkelheit sehen, von der er gesprochen

hatte. Sie war in allen Raumen der Welt wie er sie sah, und in diesem Moment empfand ich sowohl

Mitleid mit ihm als auch gro?e Erleichterung.

Ja, es war schrecklich, was wir tun wurden, nichts wurde das jemals andern ..., und dennoch wurden

wir ihm einen Gefallen tun.

»Ich habe es erkannt als dieser bose Kerl mich packte«, sagte John. »Da wusste ich, dass er es getan

hat. Ich habe ihn an diesem Tag gesehen. Ich war zwischen den Baumen und sah, wie er sie fallen

lie? und davonrannte. Aber...«

»Du hattest es vergessen«, sagte ich.

»Das stimmt Boss. Es fiel mir erst wieder ein, als er mich beruhrte.«

»Warum haben die Madchen nicht geschrieen, John? Er hat sie verletzt sie bluteten, und ihre Eltern

waren gleich oben im Haus. Warum haben sie nicht geschrieen?«

John schaute mich gequalt an. »Er sagte zu einem der Madchen: >Wenn du nicht mucksmauschenstill

bist, tote ich deine Schwester, nicht dich.< Das gleiche sagte er der anderen. 'Verstehen Sie?«

»Ja«, flusterte ich, und ich konnte es verstehen. Die Veranda der Dettericks im Dunkeln. Wharton

neigt sich wie ein leichenfressender Damon uber sie. Eines der Madchen setzt zu einem Schrei an.

Wharton schlagt es, und es blutet aus der Nase.

Es war hauptsachlich dieses Blut, das auf die Veranda getropft war.

»Er totete sie mit ihrer Liebe«, sagte John. »Ihrer Liebe zueinander. Verstehen Sie, wie es war?«

Ich nickte, brachte kein Wort heraus.

Er lachelte.

Die Tranen flossen wieder, doch er lachelte. »So ist es jeden Tag«, sagte er, »auf der ganzen Welt«

Dann legte er sich auf die Pritsche und drehte das Gesicht zur Wand.

Ich trat hinaus auf die Meile, schloss seine Zellentur ab und ging zum Wachpult. Ich fuhlte mich

immer noch wie in einem Traum. Ich erkannte, dass ich Brutals Gedanken horen konnte - ein sehr

schwaches Wispern, wie um die Trennung eines Worts zu uberlegen, ich glaube, das Wort hie?

empfangen. Er dachte: Wird das verdammte Wort em-pfan-gen oder emp-fan-gen getrennt? Dann

blickte er auf, begann zu lacheln und horte im Ansatz auf, als er mich genauer betrachtete. »Paul?«

fragte er. »Ist alles in Ordnung?«

»Ja.« Dann erzahlte ich ihm, was John mir gesagt hatte - nicht alles und naturlich nicht was seine

Beruhrung bei mir bewirkt hatte (ich habe diesen Teil niemals jemandem erzahlt nicht einmal Janice;

Elaine Connelly wird die erste sein, die es erfahrt das hei?t wenn sie diese letzten Seiten lesen will,

nachdem sie all die anderen gelesen hat), aber ich gab wieder, dass John sterben wollte. Das war

anscheinend eine Erleichterung fur Brutal - eine kleine jedenfalls -, aber ich spurte (horte?), dass er

sich fragte, ob ich das nicht erfunden hatte, nur um ihn zu beruhigen. Dann spurte ich, dass er sich

entschied, es zu glauben, einfach weil es ihm die Dinge ein bisschen erleichtern wurde, wenn es

soweit war.

»Paul, kommt diese Infektion zuruck?« fragte er. »Du siehst ganz rot aus.«

»Nein, ich glaube, ich bin okay«, sagte ich. Das war ich nicht aber ich war zu diesem Zeitpunkt

uberzeugt dass John recht hatte und ich bald wieder normal sein wurde.

Ich spurte, dass das Kribbeln nachlie?.

»Trotzdem konnte es nicht schaden, wenn du in dein Buro gehst und dich ein bisschen hinlegst«

Hinlegen war das letzte, nach dem mir in diesem Augenblick zumute war - die Idee kam mir so

lacherlich vor, dass ich fast lachte. Ich war mehr in der Stimmung, mir vielleicht ein kleines Haus zu

bauen, das Dach mit Schindeln zu decken, den Garten zu pflugen und zu bepflanzen. Alles vor dem

Abendessen.

So ist es, dachte ich, jeden Tag. Auf der ganzen Welt. Diese Dunkelheit auf der ganzen Welt

»Ich schaue lieber mal bei der Verwaltung vorbei. Muss dort ein paar Dinge uberprufen.«

»Wenn du meinst«

Ich ging zur Tur und offnete sie. Dann blickte ich zuruck. »Du hast es richtig getrennt«, sagte ich.

»EMP-FAN-GEN, nach dem P und dem N. So kenne ich es jedenfalls; aber ich nehme an, es gibt

Ausnahmen von allen Regeln.«

Ich ging hinaus und brauchte nicht zuruckzublicken, um zu wissen, dass er mir offenen Mundes

nachstarrte.

Ich blieb den Rest dieser Schicht in Bewegung, konnte nicht langer als funf Minuten hintereinander

stillsitzen, bevor ich wieder aufsprang. Ich ging zur Verwaltung, und dann stelzte ich auf dem leeren

Hof hin und her, dass die Wachen auf den Turmen mich fur verruckt halten mussten. Als meine

Schicht voruber war, beruhigte ich mich allmahlich wieder, und dieses Rascheln der Gedanken in

meinem Kopf - es war wie das Rascheln von Blattern -, hatte ziemlich nachgelassen.

Doch auf dem halben Heimweg an diesem Morgen kehrte es stark zuruck. Ich musste meinen Ford am

Stra?enrand stoppen, aussteigen und fast eine halbe Meile sprinten, den Kopf gesenkt, mit den Armen

Вы читаете The Green Mile
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату