Sie nickte, als ob sie das erwartet hatte. »Dann sag es ihm nicht. Wenn er nicht helfen kann, sag ihm

um Gottes willen nichts davon.«

»Ja, ich sage ihm nichts.«

Sie schaute mich ruhig an. »Und du wirst dich in dieser Nacht nicht krank melden. Keiner von euch

wird das tun. Das konnt ihr nicht tun.«

»Richtig, das konnen wir nicht. Wenn wir dabei sind, konnen wir es wenigstens schnell fur ihn

machen. Soviel konnen wir tun. Es wird nicht wie bei Delacroix sein.« Einen Moment lang, einen

gnadig kurzen, sah ich die schwarze Seidenhaube von Dels Gesicht wegbrennen und die gekochten

Klumpchen von Gelee, die seine Augen gewesen waren.

»Es gibt keinen Ausweg fur dich, oder?« Janice fuhrte meine Hand zu ihrer samtweichen Wange und

rieb sie auf und ab. »Armer Paul. Armer guter Junge.«

Ich sagte nichts. Nie zuvor im Leben hatte ich so sehr gewunscht vor etwas davonzulaufen. Einfach

Jan mitzunehmen, wir beide mit einer einzigen gepackten Reisetasche zwischen uns, und irgendwohin

zu laufen.

»Mein armer guter Junge«, wiederholte sie. Und dann: »Rede mit ihm.«

»Mit wem? John?«

»Ja. Rede mit ihm. Finde heraus, was er will.«

Ich dachte daruber nach und nickte. Sie hatte recht. Wie meistens.

z

Zwei Tage spater, am achtzehnten, brachten Bill Dodge, Hank Bitterman und noch jemand - ich

erinnere mich nicht, wer es war, irgendein Springer - John Coffey zum Block D zum Duschen, und

wahrend er fort war, probten wir seine Hinrichtung.

Wir lie?en John nicht von TootToot doubeln; wir alle wussten, ohne daruber zu reden, dass es eine

Obszonitat gewesen ware.

Ich war das Double.

»John Coffey«, sagte Brutal mit nicht ganz fester Stimme, als ich festgeschnallt auf Old Sparky sa?.

»Du bist zum Tode auf dem elektrischen Stuhl verurteilt worden, und das Urteil ist von einer Jury von

deinesgleichen gefallt worden ...«

John Coffey - seinesgleichen? Welch ein Witz. Soweit ich wusste, gab es keinen wie ihn auf dem

Planeten. Dann dachte ich an das, was John gesagt hatte, als er am Fu? der Treppe von meinem Buro

stehen geblieben war und auf Old Sparky gestarrt hatte. Sie sind noch da, ich hore sie schreien.

»Lasst mich runter«, sagte ich mit belegter Stimme. »Schnallt mich los.«

Sie taten es, aber fur einen Moment fuhlte ich mich wie festgeklebt auf dem elektrischen Stuhl, als

wollte Old Sparky mich nicht gehen lassen.

Als wir zum Block zuruckgingen, sagte Brutal so leise zu mir, dass sogar Dean und Harry, die die

letzten Klappstuhle aufstellten, es nicht horen konnten: »Ich habe ein paar Dinge in meinem Leben

getan, auf die ich nicht stolz bin, aber dies ist das erste Mal, dass ich mich tatsachlich fuhle, als

riskierte ich es, in die Holle zu kommen.«

Ich sah ihn an, um mich zu vergewissern, dass er nicht scherzte.

Ich bezweifelte, dass er das tat »Wie meinst du das?«

»Ich meine, wir werden bald ein Geschenk Gottes toten«, sagte er. »Eines, das uns nie etwas angetan

hat und keinem sonst etwas tun wird. Ich will damit sagen, dass ich vor Gott, dem allmachtigen Vater,

enden werde und er eine Erklarung von mir verlangt, warum ich es getan habe. War das mein Job?

Mein Job?

8

Als John vom Duschen zuruckgebracht wurde und die Springer weg waren, schloss ich seine Zelle auf, ging hinein und setzte mich auf die Pritsche zu ihm. Brutal war am Wachpult.

Er blickte auf und sah mich dort allein bei Coffey, sagte jedoch nichts. Er beschaftigte sich einfach

weiter mit seiner Schreibarbeit und leckte andauernd an der Spitze seines Bleistifts.

John schaute mich mit seinen sonderbaren Augen an - blutunterlaufen, entruckt den Tranen nahe -

und doch ruhig, als ob ein verweintes Leben nicht so schlimm war, wenn man sich erst daran gewohnt

hatte. Er lachelte sogar ein wenig. Er roch nach Ivory-Seife, daran erinnere ich mich, und er war so

sauber und frisch wie ein Baby nach seinem abendlichen Bad.

»Hallo, Boss«, sagte er, und dann ergriff er mit beiden Handen meine Hande. Er tat es mit einer

perfekten Naturlichkeit.

»Hallo, John.« Da war ein kleiner Klo? in meiner Kehle, und ich versuchte, ihn hinunterzuschlucken.

»Ich nehme an, du wei?t, dass es jetzt bald soweit ist. Noch zwei Tage.«

Er sagte nichts, sa? nur da und hielt meine Hande in seinen. Im nachhinein denke ich, dass bereits

etwas mit mir geschah, aber ich war zu konzentriert auf meine Pflicht - geistig und gefuhlsma?ig -, um

es zu bemerken.

»Mochtest du etwas Besonderes in dieser Nacht zum Abendessen, John? Wir konnen dir fast alles

besorgen. Wir konnen dir sogar ein Bier bringen, wenn du eins mochtest. Du musst es nur in einem

Kaffeebecher trinken, das ist alles.«

»Hat mir nie geschmeckt«, sagte er.

»Mochtest du dann etwas Besonderes essen?«

Er runzelte die Stirn unter dem gewaltigen Kahlkopf. Dann glatteten sich die Falten, und er lachelte.

»Hackbraten ware gut«

»Also Hackbraten. Mit So?e und Puree.« Ich spurte ein Kribbeln, wie man es im Arm spurt, wenn man

darauf geschlafen hat doch dieses Kribbeln war an meinem ganzen Korper. In meinem Korper. »Was

mochtest du sonst noch?«

»Wei? nicht Boss. Was immer Sie haben. Eine Gumboschote vielleicht aber ich bin nicht wahlerisch.«

»In Ordnung«, sagte ich, und ich dachte, er wurde ebenfalls ein Stuck von Mrs. Janice Edgecombes

Pfirsichtorte zum Nachtisch bekommen. »Wie steht es mit dem Priester? Mit jemand, mit dem du

ubernachste Nacht ein kleines Gebet sprichst? Das trostet einen, das habe ich oft erlebt. Ich konnte

Kontakt mit Reverend Schuster aufnehmen, das ist der Mann, der kam, als Del...«

»Ich will keinen Priester«, sagte John. »Sie waren gut zu mir, Boss. Sie konnen ein Gebet sprechen,

wenn Sie wollen. Das ware in Ordnung. Ich konnte mich eine Weile mit Ihnen hinknien, nehme ich

an.«

»Ich? John, ich kann nicht...«

Er druckte meine Hande ein wenig fester, und dieses kribbelnde Gefuhl wurde starker. »Sie konnen«.,

sagte er. »Nicht wahr, Boss?«

»Ich nehme es an«, horte ich mich sagen. Meine Stimme schien ein Echo zu entwickeln. »Ich nehme

an, ich kann es, wenn es sein muss.«

Das Gefuhl war jetzt stark in mir, und es war wie zuvor, als er mein Wasserwerk von der

Blaseninfektion geheilt hatte, doch es war auch anders. Und nicht nur, weil ich diesmal nicht krank

war. Es war anders, weil er diesmal nicht wusste, dass er es tat. Plotzlich bekam ich schreckliche

Angst, erstickte fast an dem Verlangen, aus der Zelle herauszukommen. Lichter gingen in mir an, wo

nie zuvor welche gewesen waren.

Nicht nur in meinem Gehirn; in meinem ganzen Korper.

»Sie und Mr. Howell und die anderen Bosse waren gut zu mir«, sagte John Coffey. »Ich wei?, Sie

haben sich Sorgen gemacht aber damit sollten Sie jetzt aufhoren. Denn ich will gehen, Boss.«

Ich wollte sprechen und konnte es nicht. Aber er konnte sprechen. Was er als nachstes sagte, war das

Langste, das ich je von ihm horte.

»Ich bin den Schmerz leid, den ich hore und fuhle, Boss. Ich habe es satt, auf der Stra?e zu sein,

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