»Aber ... aber ...« Ihre Miene wirkte gequalt. Ich wollte den Arm um Janice legen, doch sie schob ihn

heftig weg. »Aber er war dort! Er strich ihre verdammte Scheune an! ER ASS MIT IHNEN ZU ABEND!«

»Um so mehr Grund fur ihn, sich mit den beiden Morden zu brusten«, sagte Brutal. »Warum sollte er

nicht mit den Verbrechen prahlen? Was konnte ihm schon passieren? Man kann nicht zweimal gegrillt

werden.«

»Mal sehen, ob ich das alles richtig verstanden habe«, sagte Janice. »Wir hier am Tisch wissen, dass

John Coffey diese Madchen nicht getotet hat, sondern versucht hat, ihr Leben zu retten. Deputy

McGee wei? all das naturlich nicht, aber er vermutet stark, dass der Mann, der fur die Tat zum Tode

verurteilt worden ist, sie nicht begangen hat. Und trotzdem ... trotzdem ... konnt ihr nicht dafur

sorgen, dass er einen neuen Prozess bekommt, dass der Fall neu aufgerollt wird.«

»Genau«, sagte Dean. Er polierte heftig seine Brillenglaser. »Genau so ist es.«

Janice senkte den Kopf und dachte nach. Brutal wollte etwas sagen, doch ich hob eine Hand und

brachte ihn zum Schweigen. Ich glaubte zwar nicht, dass Janice eine Losung finden konnte, wie wir

John vor dem elektrischen Stuhl retten konnten, aber ich hielt es auch nicht fur unmoglich. Sie war

eine schrecklich gescheite Lady, meine Frau, und ebenso schrecklich entschlossen. Das ist eine

Kombination, die manchmal Berge versetzt.

»Also gut«, sagte sie schlie?lich. »Dann musst ihr ihn auf eigene Faust aus der Zelle herausholen.«

»Ma'am?« Harry starrte sie entgeistert an. Und verangstigt.

»Ihr konnt das. Dir habt es schon einmal gemacht, nicht wahr? Dir konnt das wiederholen.

Doch diesmal werdet ihr ihn nicht zuruckbringen.«

»Wollen Sie es sein, die meinen Kindern erklart, warum ihr Daddy im Knast sitzt, Mrs. Edgecombe?«

fragte Dean. »Angeklagt weil er einem Morder bei der Flucht aus dem Gefangnis geholfen hat?«

»Es wird keine Anklage geben, Dean; wir werden einen Plan ausarbeiten. Es wird wie ein echter

Ausbruch aussehen.«

»Achten Sie darauf, dass es ein Plan ist den sich ein Typ ausgedacht hat der sich nicht mal erinnern

kann, wie man seine Schnursenkel bindet«, sagte Harry. »Man muss ihm den Plan glauben.«

Sie schaute ihn unsicher an.

»Es wurde zu nichts Gutem fuhren«, sagte Brutal. »Selbst wenn wir einen Weg finden, wurde er zu

nichts Gutem fuhren.«

»Warum nicht?« Janice horte sich an, als wurde sie gleich weinen. »Warum nicht verdammte Holle?«

»Weil er ein zwei Meter gro?er, kahlkopfiger Schwarzer ist der kaum genug Verstand hat, sich zu

ernahren«, sagte ich. »Was glaubst du, wie schnell er wieder eingefangen wurde? In zwei Stunden? in

sechs?«

»Er ist zuvor zurechtgekommen, ohne viel Aufmerksamkeit zu erregen«, sagte Janice. Eine Trane rann

uber ihre Wange. Sie wischte die Trane mit dem Handrucken fort.

Das stimmte. Ich hatte Briefe an einige Freunde und Verwandte tiefer im Suden geschrieben und

gefragt ob sie irgend etwas uber einen Mann in den Zeitungen gelesen hatten, auf den John Coffeys

Beschreibung passte. Uberhaupt nichts. Janice hatte sich ebenfalls erkundigt Bis jetzt wussten wir nur

von einem Fall, bei dem Coffey moglicherweise gesehen worden war, in der Stadt Muscle Shoals,

Alabama. Ein Tornado hatte dort eine Kirche wahrend einer Chorprobe hinweggefegt - das war 1929

gewesen -, und ein gro?er Schwarzer hatte zwei Chormitglieder aus den Trummern gezogen. Beide

waren von Umstehenden fur tot gehalten worden, aber es stellte sich heraus, dass keiner von ihnen

auch nur ernsthaft verletzt war. Es war wie ein Wunder, hatte einer der Augenzeugen gesagt. Der

Schwarze, ein Herumtreiber, der vom Pastor angeheuert worden war, um einen Tag ein paar

Aufgaben zu erledigen, war in dem Trubel danach verschwunden.

»Sie haben recht, Janice, er ist herumgekommen«, sagte Brutal. »Aber Sie mussen bedenken, dass er

sich durchgemogelt hat, bevor er als Vergewaltiger und Morder zweier kleiner Madchen verurteilt

wurde.«

Janice gab keine Antwort. Sie sa? fast eine volle Minute stumm da, und dann tat sie etwas, was mich

so sehr schockierte, wie sie von meiner Tranenflut schockiert gewesen sein musste. Sie wischte mit

einem weiten Schwung alles vom Tisch - Teller, Glaser, Tassen, Bestecke, die Schussel mit

Kartoffelbrei, den Teller mit Schinken, die Milch, die Kanne mit dem kalten Tee. Alles vom Tisch und

auf den Boden - klirr-krach-schmetter.

»Schei?e«, stie? Dean hervor und ruckte so abrupt vom Tisch fort, dass er fast mit dem Stuhl

umgekippt ware.

Janice ignorierte ihn. Sie starrte Brutal und mich an, hauptsachlich mich. »Wollt ihr ihn toten, ihr

Feiglinge?« fragte sie. »Wollt ihr den Mann toten, der Melinda Moores' Leben gerettet hat? Der

versucht hat das Leben dieser kleinen Madchen zu retten? Nun, dann wird wenigstens ein Schwarzer

weniger auf der Welt sein, nicht wahr? Damit konnt ihr euch trosten. Ein Nigger weniger.«

Sie stand auf, schaute auf ihren Stuhl und trat ihn gegen die Wand. Er prallte ab und kippte in den

verstreuten Kartoffelbrei. Ich fasste Janice am Handgelenk an, doch sie riss sich los.

»Ruhr mich nicht an!« sagte sie. »Nachste Woche um diese Zeit wirst du ein Morder sein, nicht besser

als dieser Wharton, also ruhr mich nicht an!«

Sie ging hinaus auf die hintere Veranda, zog ihre Schurze ubers Gesicht und schluchzte hinein. Wir

vier schauten uns an. Nach einer Weile erhob ich mich und begann, die Kuche zu saubern. Brutal half

mir, dann machten auch Harry und Dean mit. Als es in der Kuche wieder mehr oder weniger tipptopp

aussah, gingen sie. Die ganze Zeit sagte keiner von uns ein Wort.

Es gab wirklich nichts mehr zu sagen.

6

In dieser Nacht hatte ich dienstfrei. Ich sa? im Wohnzimmer unseres kleinen Hauses, rauchte

Zigaretten, horte Radio und beobachtete, wie die Dunkelheit den Himmel verschluckte. Fernsehen ist

in Ordnung, ich habe nichts dagegen, aber ich mag nicht, wie es einen vom Rest der Welt weg zu

seinem eigenen glasigen Ich hin zieht. In dieser Hinsicht jedenfalls war es besser, Radio zu horen.

Janice kam herein, kniete sich neben die Lehne meines Sessels und ergriff meine Hand. Eine Zeitlang

sagte keiner von uns etwas, wir verharrten nur so und lauschten Kay Kaisers Kollege of Musical

Knowledge und beobachteten, wie sich die Sterne zeigten. Es war alles in Ordnung fur mich.

»Es tut mir so leid, dass ich dich einen Feigling genannt habe«, sagte Janice. »Ich fuhle mich

schlimmer deswegen als wegen allem, das ich in unserer ganzen Ehe zu dir gesagt habe.«

»Sogar als wir zum Campingplatz fuhren und du mich Old Stinky Sam genannt hast?« fragte ich, und

dann lachten wir und kussten uns, und es war wieder besser zwischen uns. Sie war so wunderbar,

meine Janice, und ich traume immer noch von ihr. Alt und des Lebens mude, wie ich bin, werde ich

davon traumen, dass sie in diesem einsamen, vergessenen Ort, wo die Dielen nach Pisse und altem

angebranntem Kohl stinken, in mein Zimmer tritt.

Ich traume von ihrer Jugend und Schonheit, von ihren blauen Augen und den feinen, stolzen Brusten,

und ich kann kaum meine Hande uber der Bettdecke halten. Sie sagt dann: Schatz, ich war nicht bei

diesem Busunfall. Du hast dich geirrt, das ist alles. Sogar jetzt traume ich das noch, und manchmal,

wenn ich aufwache und mir bewusst wird, dass es ein Traum war, heule ich. Ich, der als Junge kaum

jemals geheult hat.

»Wei? Hal davon?« fragte Janice schlie?lich.

»Dass John unschuldig ist? Ich wusste nicht, wie er das wissen sollte.«

»Kann er helfen? Hat er Einfluss bei Cribus?«

»Kein bisschen, Schatz.«

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