Vorschriften, aber von den Zeugen wusste das nur Curtis Anderson, und er bemerkte es anscheinend nicht. Ich fand, er sah wie ein Mann aus, der nur seinen Job zu Ende bringen will. Es verzweifelt hinter sich bringen will. Er meldete sich nach Pearl Harbor bei der Army, kam jedoch nie nach Ubersee; er starb bei einem Verkehrsunfall in Fort Bragg.
John entspannte sich unterdessen. Ich bezweifle, dass er viel - wenn uberhaupt etwas - von dem verstand, was Brutal ihm sagte, aber er fand Trost, wahrend Brutals Hand auf seiner Schulter ruhte. Brutal, der ungefahr funfundzwanzig Jahre spater an einem Herzanfall starb (er a? ein Fischbrotchen und schaute sich einen Ringkampf im Fernsehen an, als es geschah, sagte seine Frau), war ein guter Mann. Mein Freund. Vielleicht der Beste von uns. Er hatte keine Muhe zu begreifen, dass ein Mann die letzte Reise antreten wollte und zugleich Angst davor hatte.
»John Coffey, Sie sind zum Tod auf dem elektrischen Stuhl verurteilt worden, das Urteil ist von einer Jury von ihresgleichen gefallt und von einem Richter dieses Staates verkundet worden. Gott schutze die Burger dieses Staats. Haben Sie noch etwas zu sagen, bevor das Urteil vollstreckt wird?«
John befeuchtete wieder seine Lippen und sprach dann deutlich. Sechs Worter.
»Ich bedaure, dass ich so bin.«
John blickte zu mir. Ich sah keine Resignation in seinen Augen, keine Hoffnung auf den Himmel,
keinen beginnenden Frieden. Wie gerne wurde ich Ihnen das Gegenteil sagen.
Wie gerne wurde ich es mir selbst sagen. Was ich sah, war Furcht, Elend, Unvollkommenheit,
Unverstandnis.' Es waren die Augen eines gefangenen und verangstigten Tieres. Ich dachte an das,
was er gesagt hatte, wie es Wharton gelungen war, Cora und Kathe Detterick von der Veranda zu
holen, ohne jemanden im Haus aufzuwecken.
Brutal nahm die neue seidene Haube zum Verhullen des Gesichts vom Messinghaken hinten am Stuhl,
aber als John sie sah und begriff, was es war, weiteten sich seine Augen vor Entsetzen. Er schaute
mich an, und jetzt sah ich gro?e Schwei?tropfen auf seinem kahlen Schadel. Sie wirkten fast so gro?
wie Wanderdro?eleier.
»Bitte, Boss, tun Sie mir nicht dieses Ding ubers Gesicht«, sagte er mit leiser, krachzender Stimme.
»Bitte, lassen Sie mich nicht im Dunkeln sterben. Ich habe Angst vor der Dunkelheit«
Brutal sah mich an. Er hatte die Augenbrauen gehoben, stand wie erstarrt da und hielt die Haube.
Sein Blick sagte mir, dass es meine Entscheidung war, er wurde sich daran halten. Ich uberlegte, so
schnell und so gut ich konnte - es fiel mir schwer mit dem Pochen in den Schlafen. Das Verhullen des
Gesichts war Tradition, nicht gesetzlich vorgeschrieben. Es diente eigentlich nur dazu, die Zeugen zu
schonen. Und plotzlich entschied ich mich, dass sie nicht geschont zu werden brauchten, diesmal
nicht. John hatte schlie?lich nichts in seinem Leben getan, was rechtfertigte, wo er war. Sie wussten
das nicht, aber wir wussten es, und ich entschloss mich, ihm seinen letzten Wunsch zu erfullen.
Marjorie Detterick wurde mir vermutlich einen Dankesbrief schicken.
»In Ordnung, John«, murmelte ich.
Brutal hangte die Haube wieder an den Stuhl. Homer Cribus rief emport mit seiner tiefen, knarrenden
Stimme: »He, Mann! Streif ihm die Haube uber! Meinst du, wir wollen seine Augen platzen sehen?«
»Seien Sie still, Sir«, sagte ich, ohne mich umzudrehen. »Dies ist eine Hinrichtung, und Sie tragen
keine Verantwortung hier.«
»Genauso wenig, wie du fur seine Festnahme verantwortlich bist du Fettwanst«, flusterte Harry. Harry
starb 1982 als fast Achtzigjahriger. Ein alter Mann. An mein Alter kam er naturlich nicht heran, aber
das kommen nur wenige. Er starb an irgendeinem Darmkrebs.
Brutal neigte sich vor und nahm den runden Schwamm aus dem Eimer. Er druckte einen Finger hinein
und leckte die Fingerspitze ab, aber das war kaum notig; ich sah, dass das hassliche braune Ding
tropfte. Er steckte den Schwamm in die Kappe und setzte John die Kappe auf den Kopf. Jetzt fiel mir
auf, dass Brutal ebenfalls blass war - teigig bleich, am Rande der Ohnmacht. Ich dachte an seine
Worte, dass er zum ersten Mal in seinem Leben das Gefuhl hatte, in die Holle zu kommen, weil wir
uns darauf vorbereiteten, ein Geschenk Gottes zu toten. In mir stieg plotzlich Ubelkeit auf. Ich brachte
sie unter Kontrolle, aber nur mit Muhe. Wasser vom Schwamm tropfte an den Seiten von Johns
Gesicht hinab.
Dean Stanton rollte den Brustgurt aus - bei diesem Anlass zur maximalen Lange -, zog ihn uber Johns
Brust und gab mir das Ende. Wir hatten uns so gro?e Muhe gegeben, Dean in der Nacht unseres
Ausflugs wegen seiner Kinder zu schutzen, und wir hatten nicht geahnt, dass er nur noch weniger als
vier Monate zu leben hatte. Nach John Coffeys Hinrichtung reichte er ein Versetzungsgesuch ein und
wurde von Old Sparky fort zum Block C versetzt, und dort stie? ihm ein Haftling einen Bolzen in die
Kehle und lie? ihn auf dem schmutzigen Bretterboden verbluten.
Ich erfuhr nie, warum. Ich bezweifle, dass jemand jemals den Grund erfahrt Old Sparky war so etwas
Perverses, wenn ich an jene Tage zuruckdenke, solch eine todliche Narretei. Wir sind zerbrechlich wie
geblasenes Glas, sogar unter den besten Bedingungen. Um einander mit Gas und Elektrizitat und
kaltblutig zu toten? Die Torheit. Der
Brutal uberprufte den Gurt und trat zuruck Ich wartete darauf, dass er sprach, doch das tat er nicht.
Als er die Hande hinter dem Rucken verschrankte, wusste ich, dass er das Kommando nicht geben
wurde. Vielleicht weil er es nicht geben konnte. Ich bezweifelte, dass ich dazu in der Lage war, doch
dann sah ich Johns angsterfullte, weinende Augen und wusste, dass ich es tun musste.
Selbst wenn es mich fur immer verdammte, ich musste es tun.
»Stufe zwei«, sagt ich mit krachzender Stimme, die ich kaum als meine erkannte.
Die Kappe summte. Acht gro?e Finger und zwei gro?e Daumen erhoben sich von den Enden der
breiten Eichenarme des elektrischen Stuhls und zuckten mit gezackten Spitzen in zehn verschiedene
Richtungen. John Coffeys gro?e Knie ruckten auf und ab, aber die Klammern an seinen Knocheln
hielten. Ober uns explodierten drei der Hangelampen -
Marjorie Detterick schrie auf und wurde in den Armen ihres Mannes ohnmachtig. Sie starb achtzehn Jahre spater in Memphis. Harry schickte mir die Todesanzeige. Es war ein Unfall mit einer Stra?enbahn.
John sank nach vorne gegen den Brustgurt. Fur einen Moment trafen sich unsere Blicke. Er nahm mich wahr. Ich war das letzte, was er sah, als wir ihn vom Rand der Welt kippten. Dann fiel er gegen die Ruckenlehne zuruck, die Kappe war jetzt ein wenig schief auf seinem Kopf, und Rauch - eine Art verkohlter Nebel - drang darunter hervor. Aber insgesamt ging es schnell. Ich bezweifle, dass es schmerzlos war, wie es die Befurworter des elektrischen Stuhls immer behaupten (das ist eine Theorie, die anscheinend selbst die fanatischsten Anhanger niemals personlich in der Praxis uberprufen wollen), aber es war schnell. Die Hande waren wieder schlaff, die zuvor blaulichwei?en Monde der Fingernagel hatten jetzt einen auberginefarbenen Ton, und Rauch krauselte von Wangen empor, die noch nass vom Salzwasser aus dem Schwamm waren ... und von seinen Tranen. John Coffeys letzte Tranen.
11
Mit mir war alles in Ordnung, bis ich zu Hause eintraf. Inzwischen dammerte der Morgen, und Vogel
sangen. Ich parkte meine Blechkiste, stieg aus und ging die hintere Treppe hinauf, und dann stieg die
zweitgro?te Erleichterung, die ich je gehabt hatte, in mir auf. Ich dachte, es lag daran, dass John
Coffey sich so vor der Dunkelheit gefurchtet hatte. Ich erinnerte mich an den Tag seiner Ankunft im
Todesblock wie er uns gebeten hatte, des Nachts eine Lampe anzulassen, und meine Beine gaben
nach. Ich plumpste auf meine Treppe, neigte den Kopf uber die Knie und weinte. Ich glaube, ich
heulte nicht nur um John, sondern fur uns alle.
Janice kam aus dem Haus und setzte sich neben mich. Sie legte einen Arm um meine Schultern.
»Du hast ihm nicht mehr weh getan, als sein musste, nicht wahr?«
Ich nickte bestatigend.
»Und er wollte sterben.«