ich muß Ihnen die Dinge im einzelnen erzählen, damit Sie uns beide beurteilen können.

Obgleich groß für sein Alter, war Gabriel doch schwach und kränklich; er wurde auch beständig bedroht, und zwar sogar von Kindern, die viel jünger waren als er. Ich erinnere mich, daß er nicht mehr den Mut hatte, mit den anderen zusammen die Schule zu verlassen, und daß ihn mein Vater beinahe immer auf der Treppe fand, wohin er sich aus Furcht geschlagen zu werden, geflüchtet hatte und wo man es nicht wagte, ihn zu holen.

Mein Vater fragte ihn sodann, was er hier mache, und der arme Gabriel antwortete weinend, er habe Furcht geschlagen zu werden.

Sogleich rief mich mein Vater und trug mir auf, den armen Jungen nach Hause zu begleiten; denn vor mir, der Tochter des Schulmeisters, wagte es niemand, ihn zu berühren.

Die Folge davon war, daß sich Gabriel mir sehr eng anschloß und daß es uns zur Gewohnheit wurde, beständig zusammen zu sein; nur war von seiner Seite diese Zuneigung Selbstsucht, aber sie mochte durch die Roheit der Kameraden begründet gewesen sein, denn er war bestimmt ein guter Junge, das können Sie mir glauben.

Gabriel lernte sehr schwer lesen und rechnen; doch schreiben lernte er äußerst leicht; er besaß nicht nur eine ausgezeichnete Handschrift, sondern er hatte auch die Fähigkeit, die Schrift von allen seinen Kameraden nachzuahmen, und zwar in einem Grad, daß die Nachahmung nicht vom Original unterschieden werden konnte.

Die Kinder lachten über dieses seltsame Talent und belustigten sich damit; doch mein Vater schüttelte traurig den Kopf und sagte oft: >Glaube mir, Gabriel, mach nicht solche Dinge, das wird eine schlimme Wendung nehmen.<

>Bah, wie soll das eine schlimme Wendung nehmen, Herr Granger?< erwiderte Gabriel. >Ich werde ganz einfach Schreibmeister, statt Ackerknecht zu sein.<

>Schreibmeister ist kein Beruf in einem Dorf<, versetzte mein Vater.

>Dann gehe ich nach Paris und treibe dort dieses Geschäft<, antwortete Gabriel.

Mich meinerseits, die ich nicht einsah, was aus der Nachahmung der Schrift anderer Schlimmes hervorgehen konnte, belustigte das Talent ungemein, das jeden Tag bei Gabriel Fortschritte machte. Denn Gabriel beschränkte sich nicht mehr darauf, allein die Handschrift nachzuahmen, er ahmte alles nach.

Ein Kupferstich war ihm in die Hände gefallen, und mit einer wunderbaren Geduld kopierte Gabriel Linie für Linie so genau, daß es, abgesehen von der Größe des Papiers und der Farbe der Tinte, schwer gewesen wäre, das Original von der Kopie zu unterscheiden. Der arme Vater, der in dieser Kopie das sah, was sie wirklich war, nämlich ein Meisterwerk, ließ sie vom Glaser des Dorfes einrahmen und zeigte sie jedermann.

Der Bürgermeister und sein Gehilfe kamen, um sie anzuschauen, und der Bürgermeister sagte zu seinem Begleiter, als sie wieder gingen: >Dieser Junge hat ein Vermögen in seinen Fingerspitzen.<

Gabriel hörte diese Worte. Sie müssen einen ungeheuren Eindruck auf ihn gemacht haben. Er hatte ja oft genug gehört, wie der oder jener plötzlich reich geworden war und in der eigenen Kutsche spazierenfuhr.

Mein Vater hatte ihn alles gelehrt, was er ihn lehren konnte, und Gabriel kehrte in seine Meierei zurück.

Da er das ältere von den beiden Kindern und da Thomas nicht reich war, mußte er zu arbeiten anfangen.

Doch die Arbeit mit dem Pflug war ihm unerträglich, er träumte oft von dem Vermögen, das in seinen Fingerspitzen wohnen sollte.

Ganz im Gegensatz zu den Bauern wäre Gabriel gern spät zu Bett gegangen und spät aufgestanden; sein größtes Glück war, bis um Mitternacht zu wachen, um mit seiner Feder alle Arten von verzierten Buchstaben, Zeichnungen und Nachahmungen anzufertigen; der Winter war auch seine selige Zeit, und die Nachtwachen bildeten seine Feststunden.

Andererseits brachte der Widerwille gegen die Feldarbeiten den Vater zur Verzweiflung. Thomas Lambert war nicht reich genug, einen unnützen Mund zu füttern. Er hatte geglaubt, die Anwesenheit von Gabriel würde ihm einen Ackerknecht ersparen, doch zu seinem großen Erstaunen sah er, daß er sich getäuscht hatte.«

11. Kapitel

Abreise nach Paris

»Glücklicher- oder unglücklicherweise besuchte eines Tages der Bürgermeister, dessen Weissagung zufolge Gabriels Zukunft in den Spitzen seiner Finger läge, den Vater Thomas und machte ihm den Antrag, er wolle Gabriel gegen Kost und hundertfünfzig Franc jährlich als Schreiber beschäftigen.

Gabriel betrachtete diesen Antrag als ein Glück, doch der Vater Thomas schüttelte den Kopf und sagte: >Wohin wird dich das führen, Junge?<

Beide nahmen nichtsdestoweniger den Antrag des Bürgermeisters an, und Gabriel vertauschte wirklich den Pflug gegen die Feder.

Wir waren nicht nur gute Freunde geblieben: Gabriel liebte mich, und auch ich liebte ihn von ganzem Herzen.

Jeden Abend gingen wir, wie dies in den Dörfern üblich ist, bald am Strand, bald am Ufer der Touque spazieren. Niemand kümmerte sich darum; wir waren beide arm, und wir paßten gut zusammen.

Nur schien Gabriel von der fixen Idee besessen, nach Paris zu kommen; er hatte die Überzeugung, wenn er nach Paris käme, würde er sein Glück machen.

Paris war also für uns das Ziel jedes Gesprächs. Paris war die magische Stadt, die uns beiden die Pforte des Reichtums und des Glückes öffnen sollte.

Ich gab mich dem Fieber hin, das ihn schüttelte, und wiederholte: >O ja, Paris! Paris!<

In unseren Zukunftsträumen hatten wir unsere Existenzen so miteinander verkettet, daß ich mich jetzt schon als die Frau von Gabriel betrachtete, obgleich damals nie ein Wort von Heirat unter uns ausgetauscht, obgleich, ich muß es sagen, nie ein Versprechen gegeben wurde.

Die Zeit verlief.

Imstande, sich seiner Lieblingsbeschäftigung zu widmen, schrieb Gabriel jeden Tag; er führte die Register der Bürgermeisterei mit einer außerordentlichen Pünktlichkeit und einem bewunderungswürdigen Geschmack.

Der Bürgermeister war entzückt, solch einen Schreiber zu haben.

Es kam die Zeit der Wahlen; einer von den Deputierten, die sich um die Wiederwahl bewarben, machte seine Rundreise, er kam nach Trouville; Gabriel war das Wunder von Trouville; man zeigte ihm die Register der Bürgermeisterei, und Gabriel wurde ihm am Abend vorgestellt.

Der Kandidat hatte ein Rundschreiben abgefaßt, doch es gab nur in Le Havre eine Druckerei; man mußte das Manifest in die Stadt schicken, und das verspätete die Sache um drei oder vier Tage.

Die Schreiben mußten jedoch so schnell wie möglich verteilt werden, da der Kandidat eine größere Opposition traf, als er zuvor erwartet hatte.

Gabriel machte sich anheischig, in der Nacht und am nächstfolgenden Tag fünfzig Exemplare zu schreiben. Der Abgeordnete versprach ihm dreihundert Franc, wenn er ihm diese fünfzig Exemplare in vierundzwanzig Stunden liefern würde.

Gabriel sagte alles zu, lieferte siebzig statt fünfzig.

Im höchsten Maß erfreut, gab ihm der Kandidat fünfhundert Franc statt dreihundert und leistete ihm das Versprechen, ihn einem reichen Bankier in Paris zu empfehlen, der ihn wahrscheinlich auf diese Empfehlung hin zu seinem Sekretär nehmen würde.

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