Band 1
Erstes Capitel
»Nein, meine Herren, ich begreife wirklich nicht, wie Ihr Streit auf diese Weise ein Ende finden soll, sagte Herr Miguel, bemuht, die hitzkopfigen Gegner zu versohnen.
- O, er wird auch kein Ende finden, erwiderte Herr Felipe, wenigstens nicht dadurch, da? ich meine Ansicht fur die des Herrn Varinas opfere...
- Und ich nicht meine Anschauung zu Gunsten der des Herrn Felipe aufgebe!«. versetzte Herr Varinas.
Schon seit drei vollen Stunden und ohne einander um ein Tupfelchen nachzugeben, stritten sich die beiden starrsinnigen Gelehrten um eine Frage betreffs des Orinoco, darum namlich, ob dieser beruhmte Strom Sudamerikas, die Hauptwasserader Venezuelas, in seinem Oberlaufe die Richtung von Osten nach Westen einhielte, wie es auf den neuesten Landkarten eingezeichnet war, oder ob er nicht vielmehr von Sudwesten herkame, in welchem Falle der Guaviare oder der Atabapo mit Unrecht nur als Zuflusse desselben betrachtet wurden.
»Der Atabapo ist der eigentliche Orinoco, versicherte Herr Felipe sehr bestimmt.
- Nein, das ist der Guaviare!« erklarte Herr Varinas mit gleicher Energie.
Herr Miguel selbst pflichtete der Anschauung bei die die modernen Geographen vertraten. Ihrer Ansicht nach befinden sich die Quellen des Orinoco in dem Theile Venezuelas, der an Brasilien und Britisch-Guyana grenzt, so da? der ganze Lauf des Stromes ausschlie?lich Venezuela angehort. Vergeblich versuchte Herr Miguel aber, seine beiden Freunde davon zu uberzeugen; die Herren widersprachen einander ubrigens auch noch in einem andern Punkte von nicht geringerer Bedeutung.
-»Nein, nein, wiederholte der Eine, der Orinoco entspringt in den columbischen Anden, und der Guaviare, den Sie nur fur einen Nebenflu? gelten lassen wollen, ist schlecht und recht der Orinoco selbst, der columbisch in seinem Oberlaufe und venezuolanisch in seinem Unterlaufe ist!
- Falsch, falsch! entgegnete der Andre, der Atabapo ist der richtige Orinoco, nicht aber der Guaviare!
- O, liebe Freunde, fiel da Herr Miguel ein, ich bleibe lieber bei dem Glauben, da? einer der schonsten Strome Amerikas kein andres Land als das unsre bewassert.
- Hier handelt es sich nicht um eine Frage patriotischer Eigenliebe, entgegnete Herr Varinas, sondern um eine geographische Thatsache. Der Guaviare.
- Nein doch, der Atabapo!« rief Herr Felipe.
Die beiden Gegner, die lebhaft aufgesprungen waren, sahen einander scharf ins Auge.
»Meine Herren. meine Herren! Ich bitte Sie.!« fiel Herr Miguel, ein trefflicher Mann von sehr versohnlicher Natur, beschwichtigend ein.
An der Wand des Raumes, der jetzt von den Salven dieses Wortgefechtes widerhallte, hing eine umfangliche Landkarte. Sie umfa?te, in gro?em Ma?stabe gezeichnet, die neunhundertzweiundsiebzigtausend Quadratkilometer der Oberflache des spanisch-amerikanischen Venezuela. Welchen Wechselfallen war das schone Land durch politische Ereignisse unterworfen gewesen seit dem Jahre 1499, wo Hojeda, der Gefahrte Florentin Amerigo Vespucci's, als er, am Ufer der Bai von Maracaibo ans Land gehend, hier einen mitten in den Lagunen auf Pfahlen erbauten Flecken vorfand, dem er den Namen Venezuela, d.i. Klein-Venedig, beilegte! Die Karte stellte den Staat so dar, wie er sich nach dem »Grundgesetz« gestaltet hatte, also nach dem Unabhangigkeitskampfe, dessen Hauptheld Simon Bolivar war, nach der Begrundung des Generalkapitanats Caracas und nach der 1839 eingetretenen Trennung zwischen Columbia und Venezuela. einer Trennung, die letzteres zu einer unabhangigen Republik machte. Farbige Linien bezeichneten im Orinocobecken die Grenzen der drei Provinzen Varinas, Guyana und Apure. Das Relief seiner orographischen Anordnung und die Verzweigungen seines hydrographischen Systems hoben sich, mit dem Netze seiner gro?ern und kleinern Wasserlaufe, durch vielfache Schraffierung darauf deutlich ab. Man sah da den Verlauf der Kuste am Antillen-Meere von der Provinz Maracaibo mit der gleichnamigen Hauptstadt aus bis zum Mundungsdelta des Orinoco, das die Grenze gegen BritischGuyana bildet.
Herr Miguel betrachtete diese Karte, die ihm gegenuber seinen Collegen Felipe und Varinas unzweifelhaft Recht gab. Ein innerhalb Venezuelas verlaufender Strom, der sehr sorgfaltig eingezeichnet war, bildete einen eleganten Bogen und war ebenso bei seiner ersten Biegung, wo ein Nebenflu?, der Apure, ihm seine Gewasser zufuhrt, wie bei der zweiten, wo der Guaviare und der Atabapo sich, von den Cordilleren kommend, hinein ergie?en, durchweg mit dem prachtigen Namen Orinoco bezeichnet.
Man begriff wirklich nicht recht, warum die Herren Varinas und Felipe sich darauf versteiften die Quellen dieser machtigen Wasserader in den Bergen Columbiens zu suchen und nicht in dem Gebirgsstock der Sierra Parima, in der Nahe des hohen Roraima, jenes riesigen, zweitausenddreihundert Meter hohen Meilensteins, an dem sich die Ecken dreier sudamerikanischer Staaten, die von Venezuela, Brasilien und Britisch-Guyana, beruhren.
Hierzu verdient jedoch Erwahnung, da? die beiden Geographen nicht die einzigen waren, die eine solche abweichende Ansicht vertraten. Trotz der Versicherungen kuhner Forschungsreisender, die den Lauf des Orinoco fast bis zur Quelle verfolgten, eines Diaz de la Fuente 1760, eines Bobadilla 1764 und eines Robert Schomburgk 1840, trotz der Untersuchungen des unerschrockenen Reisenden Chaffanjon, der die von den ersten Wassertropfen des Orinoco benetzte Flagge Frankreichs auf den Abhangen der Parima entfaltete -ja, trotz all dieser, scheinbar endgiltigen Zeugnisse galt die Frage fur manche starrsinnige Geister - richtiger Junger des Apostels Thomas, die ebenso unbestreitbare Beweise verlangten, wie dieser alte Vater der Unglaubigkeit - doch noch nicht fur gelost.
Wollte man freilich behaupten, da? diese Frage jener Zeit, im Jahre 1893, die Landesbevolkerung besonders beschaftigt hatte, so wurde man mit Recht einer Uebertreibung geziehen werden. Zwei Jahre vorher freilich, als das zum Schiedsrichter ernannte Spanien die endgiltigen Grenzen zwischen Columbien und Venezuela festsetzte, nahmen hieran Alle sehr lebhaften Antheil. Dasselbe ware wohl der Fall gewesen, wenn es sich um die Festlegung der Grenze gegen Brasilien gehandelt hatte. Bei den zweimillionenzweihundertfunfzigtausend Einwohnern aber, unter denen sich auch noch dreihundertfunfundzwanzig-tausend »gezahmte« oder in ihren Waldern und Savannen ganz unabhangig hausende Indianer befinden, und zu denen funfzigtausend Neger und endlich aus Blutmischung hervorgegangene Mestizen, Wei?e, Auslander, nebst englischen, italienischen, hollandischen, deutschen und franzosischen Farangos gehoren, wurde es sicher nur eine verschwindende Minderheit gewesen sein, die sich fur die erwahnte hydrographische Frage erwarmt hatte. Jedenfalls gab es inde? zwei Venezuolaner, den genannten Varinas, der fur den Guaviare, und den genannten Felipe, der fur den Atabapo das Recht, sich Orinoco zu nennen, in Anspruch nahm und neben diesen beiden Gelehrten noch einzelne Parteiganger, die jene bei sich bietender Gelegenheit unterstutzten.
Es moge jedoch niemand glauben, da? Herr Miguel und seine beiden Freunde etwa alte verrostete Gelehrte mit kahlem Schadel und wei?em Barte gewesen waren. Nein! Sie erfreuten sich als Vertreter ihrer Fachwissenschaft eines wohlverdienten, auch uber die Landesgrenzen hinausreichenden guten Rufes. Der alteste, Miguel, zahlte erst funfundvierzig, die beiden andern noch einige Jahre weniger. Von Natur sehr lebhaft und demonstrativ, verleugneten sie in keiner Weise ihre baskische Abstammung, die auch die des beruhmten Bolivar war und in den Republiken Sudamerikas die der allermeisten Wei?en ist, welche zuweilen einen Tropfen corsisches oder indianisches, doch nie eine Spur von Negerblut in den Adern haben.
Die drei Geographen trafen Tag fur Tag in der Bibliothek der Universitat von Ciudad-Bolivar zusammen, und obwohl die Herren Varinas und Felipe ubereingekommen waren, die heikle Frage bezuglich des Orinocoursprungs nicht mehr zu beruhren, lie?en sie sich doch immer wieder zu einer Discussion uber dieselbe hinrei?en. Selbst nach der so uberzeugenden Untersuchung des franzosischen Reisenden verharrten die Vertheidiger des Atabapo und des Guaviare bei ihrer bisherigen Rede.