Robert Silverberg

Flucht aus der Zukunft

1

Sie sagten, die ubervolkerte Welt sei schon. Die glasernen Hochhauser der Stadt, die sich dicht aneinanderreihten, das bunte Gewirr des Pobels, der sich um die Schnellbootrampen drangte, das Spiel der Sonnenstrahlen auf Hunderten von glitzernden Umhangen — darin, so behaupteten die Astheten, offenbare sich Schonheit.

Quellen war kein Asthet. Er war eine kleine Schreiberseele, ein bescheidener Diener des Staates von mittelma?iger Intelligenz und mit ganz normalen Neigungen. Er besah sich die Welt des Jahres 2490 und fand sie abscheulich. Quellen konnte die Bewegung nicht mitmachen, die diese schreckliche Enge als moderne Schonheit bezeichnete. Er ha?te sie. In Klasse Eins oder Zwei hatte er sie vielleicht besser wurdigen konnen, denn dann ware er nicht gezwungen gewesen, inmitten des Gewuhls zu leben. Aber Quellen war Klasse Sieben. Ein Mensch der Klasse Sieben hat einen etwas anderen Ausblick auf die Welt als einer von Klasse Zwei.

Und doch ging es Quellen eigentlich gar nicht so schlecht. Er hatte seine Bequemlichkeit. Zugegeben, eine illegale Bequemlichkeit, die er sich durch Bestechung erkampfen mu?te. Wenn man es genau nahm, war das, was er getan hatte, eine Schande. Er hatte von etwas Besitz ergriffen, das ihm nicht gehorte. Er hatte sich eine kleine, private Ecke der Welt angeeignet, als ware er ein Mitglied der Klasse Eins oder Zwei. Da Quellen aber keineswegs die Verantwortung der Regierungsklassen besa?, verdiente er auch nicht ihre Privilegien.

Und doch geno? er sie. Es war unrecht, verbrecherisch, ein Betrug an der Gemeinschaft. Aber jeder Mensch hat irgendeinen Charakterfehler. Wie jeder andere hatte Quellen anfangs alles Unehrenhafte verabscheut. Und wie fast jeder andere hatte er seine Meinung geandert.

Dong!

Das war das Warnsignal. Jemand brauchte ihn, unten in den elenden Vierteln von Appalachia. Quellen kummerte sich nicht um das Signal. Er war in einer friedlichen Stimmung, und er wollte sie sich nicht verderben lassen.

Dong, dong, dong!

Es war kein aufdringliches Signal — das dunkle, sanfte Schlagen eines Filzhammers auf einen Bronzegong. Aber es war lastig. Quellen ignorierte es und schaukelte weiterhin auf seinem aufblasbaren Stuhl hin und her. Er beobachtete die schlafrigen Bewegungen der Krokodile, die durch das lehmige Wasser paddelten. Der Flu? lief direkt unter seiner Veranda vorbei. Dong, dong. Nach einer Weile schwieg das Signal. Er sa? da, herrlich passiv, und spurte den warmen Geruch der Pflanzen und horchte auf das Summen der Insekten.

Das war das einzige Gerausch, das Quellen in seinem Paradies nicht mochte — das dauernde Summen der ha?lichen Insekten, die durch die stille, schwule Luft schwirrten. Irgendwie waren sie Eindringlinge. Sie waren fur ihn Symbole des Lebens, das er vor seinem Aufstieg in Klasse Sieben gefuhrt hatte. Damals hatten die Menschen das standige Summen verursacht — die Menschen, die in dem riesigen Bienenkorb der Stadt herumschwirrten und die er so ha?te. Es gab naturlich keine wirklichen Insekten in Appalachia. Nur dieses symbolische Summen.

Er stand auf, trat ans Gelander und sah ins Wasser. Er war ein Mann in mittleren Jahren und von durchschnittlicher Gro?e. Er hatte in letzter Zeit abgenommen. Sein Haar war widerspenstig, und wenn man in seine sanften Augen sah, wu?te man nicht recht, ob sie blau oder grun waren. Die dunnen, zusammengepre?ten Lippen gaben ihm etwas Entschlossenes, aber das wurde durch das weiche Kinn wieder ausgeglichen.

Mu?ig warf er einen Stein ins Wasser. »Fangt ihn!« rief er, als zwei Krokodile lautlos darauf zuglitten, in der Hoffnung, etwas E?bares zu erwischen. Aber der Stein sank blubbernd, und die beiden Tiere stie?en mit den Nasen zusammen. Quellen lachelte.

Es war ein schones Leben hier im tropischen Afrika. Trotz Insekten, trotz schwarzen Schlamms, trotz feuchter Einsamkeit. Selbst die Angst vor der Entdeckung war ertraglich.

Quellen ging aufatmend die ganze Liste durch. Marok? dachte er. Kein Marok hier. Kein Koll, kein Spanner, kein Brogg, kein Leeward. Keiner von ihnen. Aber besonders kein Marok. Er hat mich am meisten gestort.

Was fur eine Erleichterung, hier drau?en zu sein und nicht ihre schwirrenden Stimmen zu horen. Nicht zusammenzuzucken, wenn sie das Buro betraten. Naturlich, es war lasterhaft und unmoralisch von ihm, hier den Ubermenschen zu spielen — ein moderner Raskolnikoff, der alle Gesetze ubertrat. Quellen gestand sich das ein. Und doch, so sagte er sich oft, war das Leben eine Reise, die man nur einmal machte. Wer wurde spater danach fragen, ob er einen Teil davon in der Ersten Klasse mitgefahren war?

Nur hier drau?en gab es Freiheit.

Und das herrliche Gefuhl, weit, weit weg von Marok, dem verha?ten Zimmergenossen zu sein. Kein Arger mehr wegen der Berge ungewaschenen Geschirrs, wegen der Bucher, die uberall in ihrem winzigen Raum herumlagen, wegen seiner harten Stimme, die endlos ins Visiphon drohnte, wenn Quellen sich zu konzentrieren versuchte.

Nein. Kein Marok hier.

Und doch, dachte Quellen traurig, hatte sich nicht der Friede eingestellt, den er sich erhofft hatte, als er sein neues Heim baute. So war es nun in der Welt: Sobald man eine Sehnsucht erfullt hatte, verlor sich das Gefuhl der Befriedigung schnell. Jahrelang hatte er mit bemerkenswerter Geduld gewartet, da? er Klasse Sieben erreichte und damit das Recht bekam, allein zu wohnen. Der Tag war gekommen. Aber es war nicht genug gewesen. So hatte er sich ein Stuck Afrika gestohlen. Und nun lebte er in Unsicherheit und Angst.

Er warf wieder einen Stein ins Wasser.

Dong.

Wahrend er die Wellenringe beobachtete, die sich auf der dunklen Wasseroberflache ausbreiteten, kam Quellen zum Bewu?tsein, da? am anderen Ende des Hauses wieder das Signalzeichen ertonte. Dong, dong, dong. Das unbehagliche Gefuhl in ihm wurde plotzlich zu einer bosen Vorahnung. Er stand auf und eilte ans Telefon. Dong.

Quellen schaltete es ein, lie? aber den Sichtschirm dunkel. Es war nicht leicht gewesen, alles so zu arrangieren, da? die Anrufe, die in sein Zimmer in Appalachia kamen, automatisch hierher ubermittelt wurden.

»Quellen«, meldete er sich und warf einen Blick auf den grauen Schirm.

»Hier ist Koll«, sagte eine kratzige Stimme. »Ich konnte Sie nicht fruher erreichen. Weshalb stellen Sie den Sichtschirm nicht an, Quellen?«

»Er funktioniert nicht«, erklarte Quellen. Er hoffte, da? der spitznasige Koll, sein unmittelbarer Vorgesetzter im Kriminalsekretariat, die Luge nicht merkte.

»Kommen Sie schnell vorbei, ja, Quellen? Spanner und ich haben etwas Dringendes mit Ihnen zu besprechen. Verstehen Sie, Quellen? Es ist dringend. Regierungssache. Man setzt Druck dahinter.«

»Jawohl, Sir. Sonst noch etwas, Sir?«

»Nein. Die Details erklaren wir Ihnen, wenn Sie da sind. Machen Sie schnell.« Koll unterbrach die Verbindung.

Quellen starrte eine Zeitlang auf den blanken Schirm und kaute an seiner Unterlippe. Sein Inneres verkrampfte sich angstlich. Wollte man mit ihm uber sein illegales Versteck sprechen? Hatte man ihn endlich entdeckt? Nein, nein. Sie konnten es nicht herausgebracht haben. Es war unmoglich. Er hatte sich zu gut abgesichert.

Aber, so warnte ihn hartnackig sein Inneres, sie mu?ten sein Geheimnis entdeckt haben. Weshalb sonst verlangte Koll so dringend nach ihm? Weshalb die eisige Stimme? Quellen begann trotz der Klimaanlage zu schwitzen.

Sie wurden ihn in Klasse Acht zuruckversetzen, wenn sie es erfuhren. Oder gar in Klasse Zwolf oder Dreizehn, mit einem lebenslanglichen Aufstiegsverbot. Er wurde den Rest seines Lebens in einem winzigen Raum verbringen mussen, zusammen mit zwei oder drei der widerlichsten, ungewaschensten Leute, die der Komputer ausfindig machen konnte.

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