»Ja, ja.«
»Nun, ich habe tagelang gegrubelt. Bisweilen mu? man, um ein klares Bild zu gewinnen, sich eine Menge geringfugiger Worte und Satze, denen man fruher keine Beachtung schenkte, ins Gedachtnis zuruckrufen. So habe ich's auch gemacht und bin schlie?lich zu einem gewissen Ergebnis gekommen.«
»Ja, Mademoiselle?«
»Ich glaube, der Mann, der sie fesselte - oder besser gesagt, zu fesseln begann -, war Ronald Marsh, der jetzige Lord Edgware.«
»Woraus schlie?en Sie das, Mademoiselle?«
»Eines Tages sprach Carlotta ganz im allgemeinen, da? Pech und Ungluck ungunstig auf den Charakter eines Mannes wirkten, da? er im Grunde seines Herzens ein wirklich anstandiger Kerl sein und es dennoch mit ihm bergab gehen konne. Mehr ein Opfer der Sunde anderer, als selbst sundigend -Sie verstehen wohl, Monsieur Poirot? Ich habe die alte Weise so oft von Frauen gehort! Und als die kluge, verstandige Carlotta sie wie eine junge Nachtigall, die nichts vom Leben wei?, ebenfalls zu floten begann, sagte ich mir: Halt, da stimmt was nicht . ! Wohlverstanden, sie erwahnte keinen Namen. Jedoch fast unmittelbar darauf kam sie auf Ronald Marsh zu sprechen, meinte, da? er schlecht behandelt worden sei. Sie sagte es ohne leidenschaftliche Anteilnahme, so da? ich damals keinen Zusammenhang argwohnte. Aber jetzt? Jetzt neige ich zu dem Glauben, da? auch die erste Bemerkung auf Ronald gemunzt war. Was denken Sie, Monsieur Poirot?« Mit eindringlichem Ernst hing ihr Blick an seinem Gesicht.
»Ich denke, Mademoiselle, da? Sie mir da vielleicht eine sehr wertvolle Auskunft gegeben haben.«
»Prachtig!« Jenny schlug erfreut die Hande zusammen.
»Es ist Ihnen vermutlich noch nicht bekannt, Mademoiselle, da? der betreffende Herr gerade verhaftet worden ist?« »Oh!« Ihr kleiner roter Mund flog vor Uberraschung auf und zeigte eine tadellose wei?e Zahnreihe. »Oh! Dann komme ich mit dem Ergebnis meines Grubelns reichlich spat!«
»Zu spat ist es nie, Mademoiselle. Ich danke Ihnen.«
Sie verabschiedete sich von uns und kehrte zu Martin Bryan zuruck.
»Nun, Poirot«, sagte ich, »das versetzt Ihrem Glauben wohl den letzten Sto??«
»Im Gegenteil, Hastings - es starkt ihn.«
Ungeachtet dieser tapferen Behauptung hatte ich das Gefuhl, da? Poirot im geheimen schon zu Japp ubergeschwenkt sei.
Im Verlauf des nachsten Tages erwahnte er den Edgware-Fall mit keiner Silbe. Wenn ich die Sache anschnitt, antwortete er einsilbig und ohne Anteilnahme. Mit anderen Worten: Er wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben. Welche Ideen auch in seinem wunderlichen Hirn gekeimt haben mochten, nunmehr sah er sich gezwungen, sie als Wahngebilde zu bezeichnen und sich einzugestehen, da? seine erste Auffassung, die Ronald Edgware der Tat bezichtigte, die richtige gewesen war. Doch da er Hercule Poirot hie?, konnte er die Sachlage nicht offen zugeben, sondern tat so, als sei der Fall fur ihn reizlos geworden.
So deutete ich wenigstens seine Haltung.
Aber vierzehn Tage spater, als wir eines Morgens beim Fruhstuck sa?en, wurde ich mir meines ungeheuren Irrtums bewu?t. Neben Poirots Gedeck lag der gewohnte ansehnliche Stapel Briefe, den er mit flinken Handen durchging. Und plotzlich au?erte er einen Laut der Befriedigung und behielt einen Brief mit amerikanischer Marke in der Hand.
Ohne Hast schnitt er ihn auf und entnahm dem Umschlag ein Schreiben und eine ziemlich dicke Beilage.
Zweimal las er das erstere, ehe er mich fragte:
»Wollen Sie auch Einblick nehmen, Hastings?«
Naturlich bejahte ich, obwohl ich weder wu?te, wer der Schreiber noch welches der Herkunftsort war. Und ich las das folgende:
Sehr geehrter Monsieur Poirot!
Ihre gutigen Worte haben mir so wohl getan in all dem Ungemach. Au?er dem furchtbaren Kummer, der an meinem Herzen nagt, leide ich unter den Verdachtigungen und Mutma?ungen, die sich an Carlottas Person knupfen - Carlottas, dieser treuesten, su?esten Schwester, die je ein Madchen gehabt hat. Nein, Monsieur Poirot, sie nahm kein Rauschgift, ich bin dessen sicher. Sie hatte ein Grauen vor dergleichen Lastern, wie sie mir haufig erklarte.
Und wenn sie eine Rolle bei der Ermordung des Armsten gespielt hat, so tat sie es in voller Unschuld ... ihr Brief an mich beweist das ja schon. Ich sende Ihnen denselben, weil Sie mich darum bitten, obwohl es mir unsagbar schwerfallt, mich von den letzten Zeilen, die ihre liebe, gute Hand schrieb, zu trennen. Aber ich habe das feste Vertrauen, da? Sie den Brief wie einen Schatz huten und mir zurucksenden werden, wenn Sie ihn nicht mehr benotigen. Wie durfte ich ihn Ihnen vorenthalten, wenn er, wie Sie meinen, vielleicht hilft, das Ratsel um Carlottas Tod zu losen?
Sie fragen mich, ob Carlotta in ihren Briefen irgendeinen Freund besonders erwahnt habe. Naturlich nannte sie eine Menge Leute, aber keinen hob sie auffallig hervor. Martin Bryan, den wir vor vielen Jahren kennenlernten; ein junges Madchen, namens Jenny Driver, und ein Hauptmann Ronald Marsh sind diejenigen, mit denen sie wohl am meisten verkehrte.
Ich wunschte, ich konnte Ihnen irgendwie behilflich sein. Sie schreiben mir so lieb und mit solchem zartfuhlenden Verstandnis, Und Sie scheinen begriffen zu haben, was Carlotta und ich einander waren.
In Dankbarkeit
Ihre Lucie Adams
P. S. Gerade ist ein Polizeibeamter wegen des Briefes bei mir gewesen. Ich gebrauchte eine Notluge und sagte, ich hatte ihn schon an Sie abgeschickt, denn ich denke, da? Sie Wert darauf legen, ihn als erster zu sehen. Mir scheint, Scotland Yard will ihn als Beweismaterial gegen den Morder benutzen. Bitte, lieber verehrter Monsieur Poirot, sorgen Sie dafur, da? ich ihn wiederbekomme. Bedenken Sie, es sind Carlottas letzte Worte an mich.
»Warum haben Sie ihr geschrieben?« forschte ich, als ich den Briefbogen niederlegte. »Und warum verlangten Sie das Original, nachdem Ihnen der Inhalt schon ubermittelt wurde?«
Er beugte den Kopf uber die beigefugten Seiten.
»Einen richtigen Grund vermochte ich Ihnen nicht zu nennen, Hastings«, gestand er. »Es sei denn, da? ich mich in der vollig ungerechtfertigten Hoffnung wiegte, der Originalbrief konnte irgendwie das Unerklarliche erklaren.«
»Wie soll er das ...? Carlotta Adams gab ihn ihrem Madchen eigenhandig zur Beforderung - ein Hokuspokus ist mithin nicht mit ihm getrieben worden. Und au?erdem liest er sich sicherlich wie ein vollkommen echter, gewohnlicher Brief.«
Poirot seufzte. »Ich wei?, ich wei?. Und das macht es eben so schwierig. Denn so, Hastings, wie es da schwarz auf wei? steht, ist jener Brief unmoglich.«
»Unsinn!«
»Si, si. So, wie ich alles durchdacht habe, mussen gewisse Dinge sein - mit Regel und Methode folgen sie einander in klar verstandlicher Form. Aber dann kommt dieser Brief. Er ist nicht in Einklang zu bringen mit allem anderen. Wer hat also unrecht? Hercule Poirot oder der Brief?« »Sie glauben nicht, da? es Hercule Poirot sein konnte?« deutete ich so zart wie moglich an.
Mein Freund warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Es hat Falle gegeben, in denen ich mich irrte - aber dieser gehort nicht zu ihnen. Rund heraus, Hastings: da der Brief unmoglich erscheint, ist er unmoglich. In ihm gibt es irgendeine Tatsache, die uns vorderhand noch entgeht, und ich werde nicht ruhen und nicht rasten, bis ich sie entdeckt habe.«
Und hierauf widmete er sich unter Benutzung eines kleinen Taschenmikroskops dem Studium des fraglichen Briefes. Jede Seite, mit der er fertig war, reichte er mir. Aber ich konnte nichts Verfangliches entdecken. Der Brief, in einer gro?en, festen, deutlichen Handschrift geschrieben, wich in keinem Wort von dem gekabelten Text ab.
»Nichts von Falschungen irgendwelcher Art!« stohnte Hercule Poirot verzweifelt. »Samtliche Zeilen sind von derselben Hand geschrieben worden. Und dennoch beharre ich bei meiner Behauptung: es ist unmoglich .«
Er brach ab und verlangte barsch die Seiten von mir zuruck. Wiederum ging er sie der Reihe nach durch.
Ich war vom Fruhstuckstisch aufgestanden, ans Fenster getreten und schaute auf das morgendliche