niedergeschlagen wanderte ich mit Hastings heim, mit dem Versuch beschaftigt, die Dinge in meinem Hirn methodisch zu ordnen. Und dann geschah das Wunder!

Zuerst sprach mein Freund Hastings von Donald Ross und der Tafelrunde der Dreizehn bei Sir Montague Corner und erwahnte, wie Ross zuerst aufgestanden sei. In meine eigenen Grubeleien verstrickt, horte ich nur mit halbem Ohr hin. Es scho? mir nur fluchtig der Gedanke durch den Kopf, da? das eigentlich, strenggenommen, nicht stimmte. Am Ende des Dinners mochte Donald Ross zuerst aufgestanden sein, doch in Wirklichkeit war Lady Edgware die erste gewesen, da sie sich erhob, um zum Telefon zu gehen. Und wie ich an sie dachte, fiel mir ein gewisses Ratsel ein - ein Ratsel, das meines Erachtens gut mit ihrer etwas kindischen Mentalitat in Einklang stand. Ich gab es Hastings auf, der sich nicht dafur begeisterte. Als nachstes uberlegte ich mir, wen ich wohl uber Mr. Bryans Gefuhle fur Jane Wilkinson ausfragen konnte. Sie selbst wurde mir nicht Rede und Antwort stehen. Und als wir gerade den Fahrdamm kreuzten, au?erte ein Passant einen ganz einfachen Satz.

Er sagte zu seiner Begleiterin, da? irgendwer >Ellis hatte fragen sollenc. Und in derselben Sekunde lag das ganze bisher so Dunkle in blendender Helle vor mir.«

Er sah sich im Kreise um.

»Ja, ja, der Kneifer, der Telefonanruf, die kleine Frau, die in Paris die Dose abholte. Ellis, naturlich, Jane Wilkinsons Kammerfrau. Jetzt ging ich im Geist Schritt fur Schritt ruckwarts . die Kerzenbeleuchtung . das Dammerlicht . Mrs. van Dusen ... alles. Ich war wissend geworden!«

30

Abermals sah er uns der Reihe nach an.

»Und jetzt, meine Freunde«, sagte er freundlich, »lassen Sie mich Ihnen die wirklichen Begebnisse jener Nacht erzahlen.

Carlotta Adams verla?t um sieben Uhr ihre Wohnung. Von dort begibt sie sich mit einem Taxi zum Piccadilly Palace.«

»Was?« rief ich dazwischen.

»Jawohl, zum Piccadilly Palace, wo sie zu einer fruheren Tageszeit als Mrs. van Dusen ein Zimmer genommen hat. Sie tragt ein paar scharfe Augenglaser, die, wie wir alle wissen, das Aussehen betrachtlich verandern. Wie ich bereits erwahnte, nimmt sie ein Zimmer, mit dem Bemerken, da? sie mit dem Nachtzug nach Liverpool fahrt und ihr Gepack schon vorausgegangen ist. Um acht Uhr drei?ig kommt Lady Edgware, fragt nach ihr und wird hinauf in ihr Zimmer gefuhrt. Dort wechseln sie die Kleider. Mit einer blonden Perucke, einer wei?en Tafttoilette und einem Hermelincape verla?t Carlotta Adams - und nicht Jane Wilkinson - das Hotel und fahrt nach Chiswick. Ja, ja, es ist vollkommen moglich. Ich bin abends in Sir Montagues Haus gewesen. Die lange Tafel im Speisezimmer wird nur von Kerzen erhellt, die Lampen tragen dampfende Seidenschirme, niemand dort kennt Jane Wilkinson sehr gut. Und das goldblonde Haar, die bezaubernde Stimme, ihr wohlbekanntes Gebaren - alles ist vorhanden. Oh, es ist ganz leicht. Und wenn doch jemand die Tauschung gewahr geworden ware - nun, auch dafur hatte man Vorsorge getroffen. Lady Edgware, mit einer dunklen Perucke und dem Kneifer versehen, in Carlottas Kleidung gehullt, zahlt die Hotelrechnung, la?t ihre Handtasche in ein Taxi tragen und fahrt zum Euston Bahnhof. Im Waschraum entledigt sie sich ihrer dunklen Perucke und gibt hernach den Koffer in der Aufbewahrung ab. Bevor sie sich nach Regent Gate begibt, ruft sie in Chiswick an und verlangt Lady Edgware zu sprechen. So war es vereinbart worden. Wenn alles gutgegangen ist, soll Carlotta nur antworten: Ja, Lady Edgware personlich. Ich brauche wohl nicht hervorzuheben, da? Miss Adams von dem wahren Zweck des Anrufs nicht das mindeste ahnt. Nachdem Jane Wilkinson die vereinbarte Antwort erhalten hat, fuhrt sie ihren Plan weiter durch. Sie fahrt nach Regent Gate, fragt nach Lord Edgware, nennt offen ihren Namen und geht unangemeldet in die Bibliothek. Und dort begeht sie ihren ersten Mord. Allerdings wei? sie nicht, da? Miss Carroll von oben Zeuge ihres Erscheinens und ihres Verhandelns mit dem Butler war; Jane Wilkinson ist vielmehr in dem Wahn verfangen, da? lediglich die Aussage des Butlers, der sie nie zuvor im Leben gesehen hat und gegen dessen Blick sie uberdies der schrag sitzende Hut schutzt, der Aussage von zwolf wohlbekannten hochgeachteten Leuten gegenuberstehen wird.

Sie verla?t das Haus, kehrt nach Euston zuruck, verwandelt sich von einer blonden Frau wieder in eine dunkle und holt ihren Koffer. Jetzt mu? sie ausharren, bis Carlotta, mit der sie eine ungefahre Stunde ausgemacht hat, von Chiswick kommt. Deshalb wartet sie in Lyons Corner House; wobei sie ofter auf die Uhr schaut, denn die Zeit verrinnt langsam. Gleichzeitig aber bereitet sie den zweiten Mord vor. Sie legt die kleine, in Paris bestellte Golddose in Carlottas Handtaschchen, das naturlich bei ihr geblieben ist. Vielleicht findet sie bei dieser Gelegenheit den Brief, vielleicht hat sie ihn auch schon fruher entdeckt. Wie es auch sei - sobald sie die Adresse sieht, wittert sie Gefahr. Vorsichtig offnet sie den Umschlag und sieht schwarz auf wei? die Bestatigung ihres Argwohns.

Vermutlich war ihre erste Eingebung, den Brief ganzlich zu vernichten. Aber dann kommt ihr ein besserer Gedanke. Wenn man die eine Seite entfernt, stempelt man den Brief zu einem Ronald Marsh schwer belastenden Dokument - Ronald, der alle Ursache hat, seinen Onkel zu hassen. Doch selbst wenn Hauptmann Marsh uber ein Alibi verfugen sollte, bleibt nach wie vor die Anklage gegen einen Mann bestehen, sofern nur das verfangliche J., das oben auf der linken Seite steht, mit weggerissen wird. Und folglich trennt sie den halben Bogen ab und mit ihm das winzige Stuckchen, das der schmale Buchstabe J. beansprucht hat. Nach vollbrachter Tat schiebt sie das ubrige in den Umschlag zuruck und legt ihn wieder in Carlottas Handtaschchen.

Als die Zeit gekommen ist, schlagt sie die Richtung nach dem Savoy-Hotel ein. Sobald das Auto vorbeifahrt, in dem angeblich sie selbst sitzt, beschleunigt sie ihren Schritt, betritt fast gleichzeitig mit Carlotta Adams die Hotelhalle und geht, in unauffalliges Schwarz gekleidet, schnurstracks die Treppe hinauf.

Oben ist auch Carlotta Adams gerade erst im Zimmer angelangt, die Kammerfrau hat die keineswegs au?ergewohnliche Anweisung erhalten, sich fruhzeitig zur Ruhe zu begeben. Dann tauschen sie wiederum ihre Kleider, und hierauf, vermute ich, schlagt Lady Edgware einen kleinen Trunk vor -als Feier fur das glanzende Gelingen. In jenem Trunk befindet sich das todliche Gift. Sie gratuliert ihrem Opfer und verspricht fur den morgigen Tag die Uberweisung des Schecks. Carlotta Adams, bereits mit beginnender Mudigkeit kampfend, fahrt heim. Dort versucht sie noch einen Freund anzurufen, wahrscheinlich Hauptmann Marsh oder Martin Bryan, die beide zum Amt Victoria gehoren, aber die Schlafrigkeit ist starker als ihr Wille. Sie geht zu Bett ... und wacht nie wieder auf.

Somit ist das zweite Verbrechen erfolgreich ausgefuhrt worden. Nun folgt das dritte. Mrs. Widburn hat zu einem Lunch geladen, und wahrend man bei Tisch sitzt, macht irgendwer eine Bemerkung uber das >Urteil des Parisc. Jane Wilkinson, die schone, aber wissensarme Jane Wilkinson, wendet dieses Wort Paris auf das einzige Paris an, das sie kennt - das Paris der Kleider und Hute. Ihr schrag gegenuber aber sitzt ein junger Mann, der auch an jenem Dinner in Chiswick teilgenommen und gehort hat, wie die Lady Edgware jener Nacht uber Homer und griechische Kultur im allgemeinen sprach, denn Carlotta Adams war ein hochgebildetes, belesenes Madchen. Er kann das nicht begreifen . er starrt sie an . und plotzlich gehen ihm die Augen auf: Das ist ja gar nicht dieselbe Frau! Eine schreckliche Erregung bemachtigt sich seiner, er will an die Wahrheit seiner eigenen Entdeckung nicht glauben. Einen Rat braucht er, einen Rat! Da denkt er an mich, spricht mit Hastings .

Doch die Dame belauscht die beiden. Sie ist verschmitzt und schlau genug, um sich zu vergegenwartigen, da? sie sich irgendwie eine Blo?e gegeben hat. Hastings gibt die Auskunft, da? ich erst gegen funf wieder daheim sein werde. Was tut Jane Wilkinson .? Und zwanzig Minuten vor funf sucht sie Donald Ross auf, der ihr zwar erstaunt, aber ohne Furcht Eintritt gewahrt. Ein starker, behender junger Mann wird sich doch nicht vor einer Frau furchten! Er geht mit ihr ins E?zimmer, wo sie ihn mit irgendeiner Geschichte uberfallt. Vielleicht sinkt sie vor dem Sitzenden auf die Knie und schlingt ihre Arme um seinen Nacken. Und dann, schnell und sicher, sticht sie zu - wie vordem. Vielleicht reicht seine Kraft noch aus, einen erstickten Schrei herauszuwurgen, mehr aber bestimmt nicht. Auch er ist zum ewigen Schweigen gebracht .«

Stumm sa?en wir im Kreis.

Der erste, der Worte fand, war Inspektor Japp.

»Aber warum morden, nachdem Lord Edgware ihr seine Zustimmung zur Scheidung gegeben hatte?«

»Weil der Herzog von Merton eine Saule der Anglo-katholischen Kirche ist«, erlauterte Poirot. »Nie wurde er eine geschiedene Frau geheiratet haben, deren Gatte noch lebt; er ist trotz, seiner Jugend ein Mann von starren Grundsatzen. Als Witwe jedoch - oh, da wurde es der schonen Jane gewi? gelingen, ihn zur Heirat zu bewegen. Fraglos hat sie es an-fanglich mit der Scheidung probiert, bis sie einsah, da? all ihre bezaubernde Schonheit diese Grundsatze nicht ins Wanken zu bringen vermochte.«

»Zugegeben, das hat Hand und Fu?. Warum aber wurden Sie dann noch zu Lord Edgware geschickt?«

»Ah, parbleu!« Von dem korrekten, sachlichen Englisch fiel Poirot plotzlich in seine Heimatsprache zuruck. »Um mir Sand in die Augen zu streuen, mon ami. Um in mir einen Zeugen fur die Tatsache zu haben, da? kein

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