Plotzlich irrte Poirot vollig vom Thema ab.
»Mademoiselle, Verzeihung, Sie hinken ja!«
»Nichts von Belang, Sir. Meine Fu?e schmerzen ein bi?chen.«
»Die Huhneraugen?« raunte der Kleine mit der vertraulichen Stimme eines Dulders, der zu einem Leidensgefahrten spricht.
Anscheinend waren es die Huhneraugen. Poirot sang eine Lobeshymne zu Ehren eines gewissen Mittels, das - wollte man seinen Worten trauen - Wunder wirkte.
Schlie?lich aber schlo? sich die Tur hinter Miss Ellis.
»Nun, Poirot? Nun?« Er lachelte uber meine Hitzigkeit.
»Heute abend keine Erklarungen mehr, mon ami. Morgen in aller Fruhe werden wir Japp anrufen und ihn herbitten. Desgleichen werden wir Martin Bryan anrufen, der uns fraglos Interessantes erzahlen kann. Au?erdem wunsche ich ihm gegenuber eine Schuld abzutragen.«
»Wirklich?« Ich sah Poirot, der merkwurdig vor sich hinschmunzelte, von der Seite an. »Jedenfalls konnen Sie ihm nicht den Mord aufburden, mein Lieber. Den Gatten toten, damit die Witwe sich mit einem anderen verheiratet - nein, einer solchen selbstlosen Handlung ist kein Mann fahig.«
»Ich habe von jeher Ihre weise Menschenkenntnis bewundert, mon cher!«
»Lassen Sie gefalligst Ihren beliebten Spott«, schalt ich verargert. »Und womit tandeln Sie denn da die ganze Zeit herum?«
Hercule Poirot hielt den betreffenden Gegenstand mit spitzen Fingern hoch.
»Mit dem Kneifer der guten Ellis, teurer Hastings. Sie lie? ihn zuruck.«
»Unsinn! Sie hatte ihn beim Weggehen auf der Nase.«
»Falsch, mon ami.« Er schuttelte sanft den Kopf. »Absolut falsch. Was sie auf der Nase hatte, war der Kneifer, den wir in Carlotta Adams' Handtaschchen fanden ...«
Mir fiel die Aufgabe zu, am anderen Morgen Inspektor Japp zu benachrichtigen.
»Ach, Sie sind's, Hauptmann Hastings«, antwortete mir eine ziemlich flaue Stimme. »Na, was gibt's?«
Ich bestellte ihm Poirots Botschaft.
»Um elf Uhr bei Ihnen sein? Ja, das kann ich machen. Er hat doch nicht etwa das Geheimnis um den Tod des jungen Ross geluftet .? Ich gestehe offen, da? wir vollkommen im Dunkeln tappen.«
»Eine gute Nachricht hat er, glaube ich, fur Sie bereit«, sagte ich. »Auf jeden Fall scheint er sehr mit sich zufrieden zu sein.«
»Das kann ich von mir gerade nicht behaupten. Also gut, Hauptmann Hastings. Ich werde mich punktlich einfinden.«
Mein nachster Anruf galt Martin Bryan. Ihm erzahlte ich, wie mir befohlen war, da? Poirot eine Entdeckung gemacht habe, die seines Erachtens Mr. Bryan viel Vergnugen bereiten wurde. Als er mich fragte, was es sei, antwortete ich wahrheitsgema?, da? ich keine Ahnung hatte. Dann schwieg der Teilnehmer am anderen Ende der Leitung, und erst nach einem Weilchen erklarte er: »Abgemacht. Ich werde kommen.«
Wer aber beschreibt mein Erstaunen, als Poirot hierauf sich selbst zum Apparat bemuhte, Jenny Driver anrief und sie ebenfalls zu uns bat?
Er war ruhig und ernst, und ich belastigte ihn nicht mit Fragen. Als erster stellte sich Martin Bryan ein, wie immer in den letzten Wochen frisch und munter. Jenny Driver folgte ihm fast auf dem Fu?. Es schien sie zu uberraschen, Bryan bei uns zu treffen, und er schien ihre Uberraschung zu teilen.
Poirot schleppte zwei Stuhle herbei und notigte die beiden, Platz zu nehmen.
»Inspektor Japp mu? jeden Augenblick eintreffen«, sagte er, seine Uhr ziehend.
»Inspektor Japp?« wiederholte Bryan erstaunt.
»Ja, ich habe ihn ganz ungezwungen - als Freund -hergebeten.«
Der Schauspieler versank in Schweigen. Jenny streifte ihn mit einem raschen Blick und schaute dann nach einer anderen Richtung. Ich hatte den Eindruck, als sei sie heute morgen sonderbar zerstreut.
Gleich darauf trat Inspektor Japp ins Zimmer. Er begru?te Poirot mit seiner gewohnlichen Scherzhaftigkeit.
»Was bedeutet diese Versammlung hier? Sie wollen mir, vermute ich, irgendeine neue wundervolle Theorie anvertrauen?«
Poirot strahlte ihn an.
»Nein, nein, keine wundervolle Theorie. Nur eine ganz einfache Geschichte, so einfach, da? ich mich schame, sie nicht sofort erkannt zu haben. Wenn Sie erlauben, werde ich den Fall von Anbeginn mit Ihnen durchgehen.«
Japp seufzte und sah nach der Uhr.
»Dauert es langer als eine Stunde?«
»Beruhigen Sie sich, mon ami, so lange brauchen Sie nicht auszuharren. Nicht wahr, Sie mochten wissen, wer Lord Edgware, wer Miss Adams und wer den jungen Ross totete?«
»Das letztere vor allem«, erwiderte der vorsichtige Japp gespannt.
»Dann horen Sie mich an, und Sie werden alles erfahren. Sehen Sie, ich werde bescheiden sein« (sehr unwahrscheinlich! dachte ich unglaubig), »ich werde Ihnen enthullen, wie ich genasfuhrt wurde, wie ich das gro?te Unvermogen offenbarte, wie es der Unterhaltung mit meinem Freunde Hastings und der zufalligen Bemerkung eines ganzlich Fremden bedurfte, um mich auf die richtige Spur zu bringen.«
Er machte eine Pause, rausperte sich und begann hierauf in seiner Predigerstimme, wie ich es nannte, vorzutragen:
»Ich greife zuruck auf jenes Supper im Savoy, als Lady Edgware eine Unterredung mit mir verlangte. Sie wunschte ihren Gatten loszuwerden, und am Schlu? unseres Gesprachs sagte sie - ziemlich unklug nach meiner Meinung -, da? sie schlie?lich noch ein Taxi nehmen und ihn eigenhandig toten wurde. Diese Worte horte auch Mr. Bryan, der in diesem Augenblick hereinkam.«
Er wirbelte herum.
»Eh? Stimmt das?«
»Wir alle horten sie«, verbesserte ihn der Schauspieler. »Die Widburns, Marsh, Carlotta - alle, ohne Ausnahme.«
»Zugegeben. Eh bien, es wurde dafur gesorgt, da? ich jene Worte Lady Edgwares nicht verga?. Mr. Martin Bryan besuchte mich am folgenden Morgen eigens zu dem Zweck, sie mir in den Kopf zu hammern.«
»Keineswegs«, rief Bryan argerlich. »Ich kam ...«
Poirot hob eine Hand hoch.
»Sie kamen angeblich, um mir ein Ammenmarchen von einem Mann, der Sie auf Schritt und Tritt verfolgte, zu erzahlen. Wahrscheinlich lieferte Ihnen irgendein Film den Stoff dazu. Ein Madchen, dessen Einwilligung Sie erst einholen mu?ten ... ein Mann, den Sie an einem Goldzahn wiedererkannten. Mon ami, heutzutage wurde kein junger Mann mit einem Goldzahn in der Welt umherlaufen, besonders nicht in Amerika. Der Goldzahn ist ein hoffnungslos veraltetes Stuck der Zahnheilkunde, merken Sie sich das! Nachdem Sie nun Ihre Geschichte vom Stapel gelassen hatten, kamen Sie zu dem eigentlichen Zweck Ihres Besuches: mir Gift gegen Lady Edgware ins Herz zu traufeln. Um es klar auszudrucken, Sie bereiteten den Boden fur den Augenblick vor, wenn sie ihren Gatten ermorden wurde.«
»Ich wei? nicht, wovon Sie reden«, murmelte Martin Bryan, dessen Gesicht totenbla? geworden war.
»Sie belacheln die Vorstellung, da? er in eine Scheidung willigen konnte! Sie vermuten, da? ich ihn am folgenden Tag sehen wurde, wahrend unsere erste Verabredung bereits umgesto?en ist. Und als ich an jenem Morgen zu ihm gehe, setzt er der Scheidung keinerlei Widerstand entgegen. Mithin entfallt jeder Beweggrund fur Lady Edgware, zu einem Verbrechen zu schreiten. Und uberdies erzahlt er mir, da? er seiner Gattin bereits einen diesbezuglichen Brief geschrieben habe.
Aber Lady Edgware wei? nichts von diesem Brief. Entweder lugt sie oder der Lord, oder jemand hat den Brief unterschlagen.
Nun drangt sich mir unwillkurlich die Frage auf: Warum macht sich Mr. Martin Bryan die Muhe, herzukommen und mir all diese Lugen aufzutischen? Welche inneren Machte treiben ihn? Und es schalt sich die Idee heraus, da? Sie, Monsieur, einmal wahnsinnig in Lady Edgware verliebt gewesen sind. Hierin bestarkt mich der Umstand, da? mir Lord Edgware mitteilte, seine Frau habe ihm erzahlt, sie wolle einen Schauspieler heiraten.