»Richtig. Qualen Sie sich nicht mit Vorwurfen - Sie konnten es wirklich nicht wissen. Ich aber, ich hatte es gewu?t. Der Morder, Hastings, ist so verschlagen und so unbarmherzig wie ein Tiger . Ah, mein Gott, werden wir denn niemals ankommen?«

Schlie?lich aber hielt das Auto. Ross wohnte in der ersten Etage eines gro?en Hauserblocks in Kensington. Die Haustur stand offen, und kein Portier gab auf die Ein- und Ausgehenden acht.

»Besser konnte er sich's gar nicht wunschen«, murmelte Poirot, als er die Treppe hinaufrannte.

Im ersten Stock war an einer schmalen Korridortur mit Yale-Schlo? Ross' Visitenkarte befestigt.

Wir lauschten. Uberall herrschte tiefstes Schweigen.

Als ich gegen die Tur stie?, gab sie zu meiner Uberraschung nach. Vor uns tag eine kleine Diele, auf die rechts eine offenstehende Tur mundete. Geradeaus fuhrte eine gleichfalls offene Tur in ein Wohnzimmer, hubsch, aber billig mobliert. Auf einem kleinen Tischchen lag der Telefonhorer - nicht auf der Gabel, sondern neben dem Apparat.

Poirot warf einen raschen Blick durch den leeren Raum und machte kehrt.

»Hier nicht. Kommen Sie, Hastings.«

Wir gingen durch die Diele zuruck und betraten das andere Zimmer. An der Schmalseite des E?tisches sa? Ross. Nein, er sa? nicht, sondern hing vielmehr auf der Stuhlkante, wahrend sein Oberkorper quer uber die Tischplatte gefallen war.

Mein Freund beugte sich zu ihm hinab.

»Er ist tot«, sagte er, als er sich wieder aufrichtete, und ich erschrak vor der Blasse seines Gesichts. »Tot ... Stich in den Nacken.«

Lange noch lasteten die Geschehnisse dieses Nachmittags wie ein Alp auf meiner Seele, denn ich konnte ein schreckliches Gefuhl der Verantwortung nicht loswerden.

Als ich spat abends daheim meine bitteren Selbstvorwurfe stammelte, fiel mir Poirot ins Wort. »Nein, nein. Sie haben nichts vernachlassigt, mon ami. Wie hatten Sie stutzig werden konnen? Nicht jedem hat der liebe Gott ein argwohnisches Gemut gegeben.«

»Aber bei Ihnen hatte sich der Argwohn gemeldet.«

»Freilich. Doch das ist was anderes. Ich habe zeitlebens Morder zur Strecke gebracht. Ich wei?, wie die Sucht zu toten sich jedesmal in starkerem Ma?e meldet, bis endlich wegen einer nichtigen Ursache ...« Er brach ab.

Seit unserer schaurigen Entdeckung war es sehr still geworden. Der Ankunft der Polizei, dem Verhor der ubrigen Hausbewohner, all den hunderterlei Einzelheiten der schablonenhaften Amtshandlung, die ein Mord nach sich zieht, hatte er apathisch, geistesabwesend beigewohnt - einen fernen, tiefsinnigen Blick in den Augen. Und als er jetzt seinen Satz abbrach, kehrte derselbe Blick wieder.

»Wir haben keine Zeit, uns in Bedauern und Vorwurfen zu ergehen, Hastings«, sagte er. »Keine Zeit zu sagen: >Wenn<. Der arme junge Mann wollte uns etwas eroffnen, und wie wichtig das war, beweist die traurige Tatsache, da? er getotet worden ist. Da er nun nicht mehr sprechen kann, mussen wir es erraten, obwohl wir nur uber einen winzigen Fingerzeig verfugen.«

»Paris«, meinte ich.

»Ja, Paris.« Er stand auf und begann, im Zimmer hin und her zu wandern. »Nicht zum erstenmal stolpern wir uber dieses Wort. Es ist in den Deckel der Golddose eingraviert. Im November vergangenen Jahres war Miss Adams in Paris. Ross vielleicht ebenfalls. War auch noch ein Dritter dort, den Ross kannte und den er unter etwas sonderlich anmutenden Umstanden mit Miss Adams zusammen sah?«

»Das konnen wir niemals erfahren«, sagte ich verzagt.

»Ja, ja, wir konnen es erfahren. Und wir werden es erfahren! Die Macht des menschlichen Gehirns ist beinahe unbegrenzt, Hastings. Ferner haben wir im Zusammenhang mit Paris die altere Frau mit dem Kneifer, die die Dose bei dem Juwelier abholte. War sie Ross bekannt? Auch der Herzog von Merton weilte zur Zeit des Verbrechens in Paris. Paris, Paris, Paris. Lord Edgware beabsichtigte eine Reise dorthin - ah, hat man ihn etwa getotet, um diese Reise zu verhindern?«

Er nahm wieder Platz, die Brauen grubelnd zusammengezogen.

»Was ereignete sich bei Mrs. Widburns Lunch?« murmelte er. »Bei irgendeinem gelegentlichen Wort oder Satz mu? dem jungen Ross die Bedeutung von dem, was er wu?te und das er bislang als unbedeutend erachtete, aufgegangen sein. Drehte sich die Unterhaltung um Frankreich? Um Paris . ? An Ihrem Tischende, meine ich, Hastings.«

»Das Wort Paris fiel, aber nicht in jenem Sinne«, entgegnete ich und berichtete ihm Jane Wilkinsons Schnitzer.

»Dort haben wir nach meiner Meinung die Losung zu suchen«, meinte er nachdenklich. »Wohin blickte Ross in jenem Augenblick? Oder wovon hatte er gesprochen, als man das Wort erwahnte?«

»Uber schottischen Aberglauben.«

»Und seine Augen waren - wo?«

»Das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Ich glaube, er guckte nach dem Kopfende des Tisches, wo Mrs. Widburn sa?.«

»Und neben ihr?«

»Der Herzog von Merton, dann Jane Wilkinson, dann ein mir unbekannter Herr.«

»Hm . Monsieur le Duc. Also moglicherweise ruhte sein Blick auf Monsieur le Duc, als das Wort Paris fiel. Erinnern Sie sich, da? es allgemein hie?, der Herzog sei am Mordtag in Paris gewesen? Wie aber, wenn Ross sich plotzlich an irgend etwas erinnert hatte, das anzeigte, da? Merton nicht in Paris war?«

»Mein lieber guter Poirot!«

»Ja, Sie, Hastings, finden das abgeschmackt und albern, und mit Ihnen die meisten Leute. Hatte Monsieur le Duc einen Grund fur das Verbrechen? Jawohl, sogar einen sehr triftigen.

Aber zu vermuten, da? er es verubte - ah! das ist abgeschmackt! Er ist so reich, in einer solch hohen Stellung, hat solch einen hehren Charakter, wie allgemein bekannt. Niemand wird daher sein Alibi einer allzu sorgfaltigen Prufung unterziehen. Aber in einem gro?en Hotel ein Alibi zu erschwindeln, bietet keine Schwierigkeiten. Sagen Sie mir, au?erte Ross nichts, als das Wort Paris erwahnt wurde? Zeigte er keine Gemutsbewegung?«

»Ich glaube mich zu entsinnen, da? er plotzlich den Atem anhielt.«

»Und sein Benehmen, als er hinterher mit Ihnen sprach? War er zerstreut? Besturzt? Verwirrt? In sich gekehrt?«

»Ja, Poirot. Besser hatten Sie es gar nicht beschreiben konnen.«

»Ganz genau. Eine Idee hat sich seiner bemachtigt, die ihn nicht mehr losla?t, die ihn zum Nachdenken zwingt. Er selbst halt sie fur narrisch, ungereimt. Und dennoch! Er zogert zwar, sie laut werden zu lassen. Will schlie?lich mit mir sprechen. Doch leider, leider bin ich, als er sich endlich hierzu durchgerungen hat, bereits fortgegangen.«

»Wenn er wenigstens mir etwas mehr gesagt hatte!« klagte ich.

»Ja. Wenn er wenigstens . Wer befand sich ubrigens in jenem Augenblick in Ihrer Nahe?«

»All und jeder. Es war wahrend des Aufbruchs, und man stromte auf Mrs. Widburn zu.«

Wieder sprang Poirot auf seine Fu?e. »Habe ich mich denn geirrt?« murmelte er, als er seine ruhelose Wanderung von neuem begann. »Habe ich mich die ganze Zeit geirrt?«

Mein Blick folgte ihm mit ehrlicher Anteilnahme. Was in seinem Kopf vorging, wu?te ich nicht. >Verschlossen wie eine Austen<, hatte Japp ihn genannt, und treffendere Worte konnte man kaum finden. Das einzige, was ich wu?te, war, da? er gegenwartig mit sich selbst haderte. »Jedenfalls kann man diesen letzten Mord nicht Lord Edgware in die Schuhe schieben«, warf ich hin.

»Gewi? ist es ein Punkt, der zu seinen Gunsten spricht«, gab mein Freund zerstreut zur Antwort. »Aber das kummert uns im Augenblick nicht.« Und genauso jah, wie er aufgesprungen, fiel er wieder in seinen Sessel zuruck. »Ich kann nicht ganzlich unrecht haben. Hastings, erinnern Sie sich, da? ich Ihnen einst funf Fragen vorlegte?«

»Dunkel, ja.«

»Sie hie?en: Warum wurde Lord Edgware wegen der Scheidung anderen Sinnes? Was geschah mit jenem Brief, den er seiner Gattin angeblich schrieb und den sie angeblich nicht erhielt? Was bedeutete sein wutverzerrtes Gesicht, als wir die Bibliothek verlie?en? Warum lag in Carlotta Adams' Handtaschchen ein Kneifer? Weshalb

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