Die Worte fielen, wie es bisweilen vorkommt, in eine vorubergehende Unterhaltungspause. Und hierdurch steigerte sich das Peinliche der Lage. Zu meiner Rechten horte ich Ross einen kurzen, erschreckten Atemzug tun, Mrs. Widburn begann eifrig uber das russische Ballett zu sprechen. Jedermann sagte hastig irgend etwas zu irgendwem.
Nur Jane schaute heiter die Tafel auf und ab, ohne im mindesten das Bewu?tsein zu haben, da? ihr ein boser Schnitzer unterlaufen sei.
Mein Blick fiel auf den Herzog, seine Lippen waren fest zusammengepre?t, eine Rote der Verlegenheit farbte seine Wangen, und mir wollte es scheinen, als zoge er sich ein paar Zentimeter von Jane zuruck. Ihn mu?te wohl eine Ahnung uberkommen haben, da? fur einen Mann seiner Stellung die Ehe mit einer Jane Wilkinson manche Widrigkeiten nach sich ziehen konne.
In meiner Betroffenheit richtete ich an meine Nachbarin zur Linken, eine adelige Dame, die sich auf dem Gebiet der Kinderfursorge hervortat, die erste beste Frage. Ich erinnere mich, da? sie lautete: Wer ist diese unglaublich aufgetakelte Frau in Purpurrot dort unten am Ende des Tisches? Naturlich war sie die Schwester meiner Nachbarin . ! Nachdem ich hundert Entschuldigungen gestammelt hatte, drehte ich mich zur Seite und schwatzte mit Ross, der mir einsilbig antwortete.
Von links und rechts zuruckgewiesen, blickte ich die Tafel entlang und entdeckte Martin Bryan, dessen Anwesenheit mir vorher entgangen war. Er lehnte sich vornuber, plauderte angeregt mit einer hubschen blonden Frau und sah viel junger, bluhender und gesunder aus als bei unserem letzten Beisammensein.
Es fehlte mir an Zeit, ihn weiter zu beobachten, denn meine linke Nachbarin verzieh mir und erlaubte mir gnadigst, einem langen Monolog uber die Schonheit einer Kindermatinee zu lauschen, die sie zum Besten skrofuloser Sauglinge veranstaltete. Hercule Poirot brach fruher auf als ich. Er untersuchte neuerdings das seltsame Verschwinden der Stiefel eines auslandischen Diplomaten und hatte fur halb drei Uhr eine Verabredung getroffen. Mir lag es ob, ihn wegen seines raschen Aufbruchs bei Mrs. Widburn zu entschuldigen. Wahrend ich mich dieser nicht leichten Aufgabe - denn die Dame war von Freunden umringt, die in uberschwenglichen Worten ihren Dank fur die entzuckenden Stunden ausdruckten - zu entledigen versuchte, beruhrte jemand meinen Arm.
Es war Ross.
»Ist Monsieur Poirot nicht mehr da? Ich wollte ihn sprechen.«
Ich erklarte, da? mein Freund kurz zuvor weggegangen sei, was den jungen Schauspieler sichtlich in Besturzung versetzte. Als ich ihn daraufhin naher ansah, bemerkte ich die tiefe Erregung, die er kaum zu meistern vermochte.
»Wollten Sie ihn personlich sprechen?« fragte ich.
Er entgegnete langsam, unschlussig: »Ich ... wei? nicht.«
Welch wunderliche Antwort.
»Es klingt verruckt, nicht wahr?« meinte Ross, der meine Gedanken erraten zu haben schien. »Als Entschuldigung kann ich nur angeben, da? sich etwas ganz Sonderbares ereignet hat, etwas, fur dessen Erklarung mein Verstand nicht ausreicht. Ich hatte so gern Monsieur Poirots Ansicht daruber gehort. Weil . ja, sehen Sie, Hauptmann Hastings, ich wei? nicht, was ich machen soll . ich mochte ihn nicht belastigen, aber .«
Er blickte mich so hilfesuchend, so verzweifelt an, da? ich ihn schnell beruhigte.
»Poirot mu?te eine Verabredung einhalten. Um funf jedoch gedachte er zuruck zu sein. Wollen Sie ihn dann nicht anlauten oder selber kommen?«
»Ah! Besten Dank, Hauptmann Hastings. Ich glaube, ich werde das letztere vorziehen. Also um funf?«
»Telefonieren Sie lieber erst, damit Sie den Weg nicht umsonst machen«, riet ich.
»Richtig. Verstehen Sie, Hastings, was ich mit ihm besprechen mochte, ist vielleicht von ungeheurer Wichtigkeit.«
Ich nickte und wandte mich wieder dorthin, wo Mrs. Widburn honigsu?e Worte und schlaffe Handedrucke verteilte.
Als ich meiner Pflicht genugt hatte, schlenderte ich zu Fu? durch den Park heimwarts. Gegen vier kam ich zu Haus an. Poirot war noch nicht da, sondern erschien erst zwanzig Minuten vor funf, vergnugt schmunzelnd.
»Ich sehe, Sherlock Holmes, da? Sie die diplomatischen Stiefel aufgespurt haben«, sagte ich.
»Ja. Es handelte sich um einen sehr schlau eingefadelten Kokainschmuggel. Die letzte Stunde habe ich in einem DamenSchonheitssalon zugebracht, den ein Madchen mit kastanienbraunem Haar leitet, das Ihr empfangliches Herz sofort entzundet hatte.«
Mein Freund lebt in dem unausrottbaren Wahn, da? ich kastanienbraunem Haar gegenuber rettungslos verloren bin, und ich wu?te, da? jede Verwahrung meinerseits zwecklos war. Uberdies kam das Klingeln des Telefons meiner Antwort zuvor.
»Das wird Ross sein«, bemerkte ich, wahrend ich zu dem Apparat ging.
»Ross?«
»Ja, der junge Mann, den wir in Chiswick kennenlernten. Ihm liegt sehr daran, Sie zu sprechen.«
Ich legte den Horer ans Ohr. »Hallo! Hier Hauptmann Hastings.«
»Ist Monsieur Poirot zuruckgekommen?« fragte Ross' Stimme.
»Ja. Wollen Sie die Sache telefonisch erledigen, oder durfen wir Sie hier erwarten?«
»Es sind nur ein paar Worte, Hauptmann Hastings. Die kann ich ihm ebensogut telefonisch sagen.«
»Dann bleiben Sie bitte am Apparat.«
Poirot nahm mir den Horer aus der Hand. Ich blieb so dicht neben ihm stehen, da? ich die Stimme des jungen Schauspielers schwach noch vernahm. »Monsieur Poirot?« fragte sie eifrig.
»Jawohl, ich bin's selbst.«
»Entschuldigen Sie die Storung. Aber ich mochte Ihnen etwas mitteilen in bezug auf Lord Edgwares Tod. Etwas Merkwurdiges .«
Sofort nahmen Hercule Poirots Zuge den Ausdruck gespannter Erwartung an.
»Fahren Sie fort, fahren Sie fort!«
»Ihnen wird es wahrscheinlich dumm und unsinnig erscheinen.«
»Nein, nein. Sagen Sie es mir trotzdem.«
»Als man heute bei Tisch von Paris sprach, fiel mir eine Binde von den Augen. Sehen Sie, Monsieur ...« Ganz matt horte ich den hellen Ton einer Klingel.
»Eine Sekunde«, bat Ross. Dann kam das dumpfe Gerausch des aus der Hand gelegten Horers uber die Leitung bis zu uns.
Wir warteten. Poirot am Telefon, ich neben ihm.
Wir warteten weiter .
Zwei Minuten vergingen . drei . vier . funf Minuten.
Unbehaglich bewegte Poirot die Fu?e. Jetzt sah er auf die Uhr. Hierauf lie? er die Telefongabel auf- und niederschnellen und sprach mit dem Fraulein vom Amt.
»Die Verbindung besteht nach wie vor«, wandte er sich zu mir, »und der Horer ist am anderen Ende noch nicht wieder aufgelegt worden. Jedoch man bekommt keine Antwort. Schnell, Hastings, schlagen Sie Ross' Adresse im Telefonbuch auf. Wir mussen unverzuglich zu ihm fahren.«
Wenige Minuten spater sprangen wir in ein Taxi. »Ich furchte, Hastings«, sagte Poirot, dessen Gesicht sehr ernst war, »ich furchte .«
»Sie glauben doch nicht etwa ...«, unterbrach ich.
»Wir haben es mit einem Gegner zu tun, der bereits zweimal zum Schlag ausholte und der auch vor dem dritten Schlag nicht zuruckweichen wird. Er windet und dreht sich wie eine um ihr Leben kampfende Ratte, mon ami. Ross ist eine Gefahr, und deshalb wird er ausgeloscht werden.«
»Ob das, was er Ihnen sagen wollte, wirklich so wichtig war?« fragte ich zweifelnd.
»Ungeheuer wichtig anscheinend.«
»Aber wie konnte das jemand wissen?«
»Hastings, Sie haben mir gesagt, da? sich, als er mit Ihnen sprach, ringsum Leute befanden. Solche Verrucktheit, solch himmelschreiende Verrucktheit! Ah, weshalb nahmen Sie ihn nicht mit sich, weshalb huteten Sie ihn nicht, weshalb sperrten Sie ihn nicht gegen jedermann ab, bis ich ihn angehort hatte?«
»Ich ahnte doch nicht ...«, stammelte ich.