einer Handbewegung einen Stuhl an.
»Und nun lassen Sie uns horen, um was es sich dreht«, forderte mein Freund den Besucher auf.
Aber Martin Bryan suchte unbeholfen nach Worten.
»Leider . leider vermag ich Ihnen nicht so viel zu erzahlen, wie ich mochte.« Er zauderte. »Es ist schwierig. Sehen Sie, die ganze Angelegenheit nahm in Amerika ihren Anfang.«
»In Amerika? Ja?« warf Hercule Poirot ermunternd ein.
»Ein reiner Zufall lenkte zuerst meine Aufmerksamkeit darauf. Ich sa? im Eisenbahnzug, als ich einen Burschen gewahrte. Einen ha?lichen Bengel, glatt rasiert, mit Brille und einem Goldzahn.«
»Ah, einem Goldzahn!«
»Ja. Und das ist der Kernpunkt der Sache.«
Poirot nickte mehrere Male.
»Ich beginne zu verstehen. Fahren Sie fort.«
»Wie gesagt, fiel mir der Bursche auf. Ubrigens befand ich mich damals auf einer Fahrt nach New York. Sechs Monate spater weilte ich in Los Angeles. Und wer lauft mir da in die Quere? Der Bursche mit dem Goldzahn. Vielleicht werden Sie sagen, da? dies nichts Au?ergewohnliches sei. Aber vier oder funf Wochen nach dieser zweiten Begegnung hatte ich Veranlassung, nach Seattle zu gehen, und kurz nach meiner Ankunft dort sehe ich abermals meinen Freund; nur trug er diesmal einen Bart.«
»Das ist allerdings merkwurdig.«
»Nicht wahr? Naturlich wahnte ich damals nicht, da? es irgend etwas mit mir zu tun habe. Doch mu?te ich nicht stutzen, da der bartlose Mensch aus dem Zug bei dem zweiten Wiedersehen einen Schnurrbart trug und das dritte Mal mit einem Backenbart als Landstreicher in einem Gebirgsdorf umherstreifte?«
»Naturlich.«
»Und schlie?lich - schnurrig genug, aber es unterlag keinem Zweifel - wurde ich, was Sie in Ihrer Detektivsprache nennen, beschattet. Wo ich auch sein mochte, tauchte irgendwo in moglichster Nahe mein Schatten in wechselnder Verkleidung auf. Glucklicherweise konnte ich ihn dank dem Goldzahn immer uber kurz oder lang ausfindig machen.«
»Verzeihung, wenn ich Sie unterbreche, Mr. Bryan - aber haben Sie niemals ein paar Worte mit dem Mann gesprochen? Ihn nie nach dem Grund seines hartnackigen Verfolgens gefragt?«
»Nein.« Der Schauspieler zogerte. »Zwar habe ich es ein- oder zweimal erwogen, indes davon Abstand genommen, weil vermutlich der Bursche nur gewarnt worden ware. Wahrscheinlich hatten sie sofort einen anderen auf meine Spur gesetzt, irgendwen mit weniger auffallendem Merkmal.«
»En effet - jemand ohne den nutzbringenden Goldzahn.«
»Sehr richtig. Vielleicht war meine Handlungsweise unzweckma?ig, mir jedoch schien sie ratsamer.«
»Sie gestatten eine weitere Frage, Mr. Bryan. Vorhin haben Sie das Mehrzahlwort sie gebraucht. Wen meinen Sie mit sie?«
»Oh, das sagte ich eigentlich aus Bequemlichkeit, obwohl ich damals nebelhafte >sie< im Hintergrund vermutete.«
»Wenn ich Sie recht verstehe, ahnen Sie nicht, wer Sie beobachten lie? und zu welchem Zweck?«
»Nicht im mindesten. Wenigstens ...«
»Weiter!« drangte Poirot.
»Ich habe eine Idee«, sagte Martin Bryan gedehnt. »Freilich eine reine Mutma?ung, bedenken Sie das wohl.«
»Eine Mutma?ung kann sich bisweilen als sehr erfolgbringend erweisen, Monsieur.«
»Sie hangt mit einem Vorfall, der sich vor zwei Jahren in London ereignete, zusammen. Ein unerklarlicher und unverge?licher Vorfall. Ich habe viel uber ihn nachgegrubelt. Und gerade weil ich ihn nicht erklaren konnte, neige ich dazu, ihn mit diesem Spionieren in Verbindung zu bringen. Aber das Weshalb oder Wie vermag ich nicht zu sehen.«
»Vielleicht vermag ich es.«
»Ja, doch ...« Martin Bryans anfangliche Verwirrung kehrte zuruck. »Verstehen Sie: ich kann Ihnen daruber nicht reinen Wein einschenken - nicht jetzt. Moglicherweise bin ich in ein oder zwei Tagen dazu imstande.«
Und unter der Macht von Poirots aufschlu?heischendem Blick stie? er verzweifelt hervor: »Ein Madchen ist darin verwickelt.«
»Ah, parfaitement! Ein englisches Madchen?«
»Ja. Oder vielmehr - warum?«
»Hochst einfach. Sie hoffen, mir die jetzt nicht mogliche Erklarung in zwei Tagen geben zu konnen. Mit anderen Worten: Sie mochten die Einwilligung der jungen Dame erlangen, die sich daher in England befindet. Ferner mu? sie wahrend der Zeit, als man hinter Ihnen herspionierte, in England gewesen sein, denn hatte sie sich in Amerika aufgehalten, wurden Sie sie damals und dort aufgesucht haben. Mithin lebte sie die letzten achtzehn Monate in England, woraus sich die Wahrscheinlichkeit, wenn auch nicht die Gewi?heit, ergibt, da? sie Englanderin ist. Gut gefolgert?«
»Ziemlich. Wenn ich nun ihre Erlaubnis bekomme, Monsieur Poirot, wollen Sie sich dann meiner Sache annehmen?«
Es entstand eine langere Pause. Poirot schien im Geist das Gehorte noch einmal durchzugehen. Aber endlich sagte er:
»Warum sind Sie zu mir gekommen, bevor Sie sich mit ihr in Verbindung setzten?«
»Ich ... ich ...«, klang es stotternd. »Meine Absicht war, sie zu uberreden, die Dinge durch Sie klaren zu lassen. Denn wenn Sie die Nachforschungen anstellen, braucht nichts davon in die Offentlichkeit zu dringen, nicht wahr?«
»Das hangt von den Umstanden ab«, gab Poirot zur Antwort.
»Wie soll ich das auffassen?«
»Wenn ein Verbrechen hineinspielt .« »Nichts von Verbrechen!«
»Vielleicht ohne da? Sie es wissen. Welches Alter hatte ubrigens der fragliche Bursche?«
»Ich schatze, ungefahr drei?ig.«
»Ah! Das ist von Wichtigkeit. Ja, das gibt der ganzen Sache bedeutend mehr Reiz.«
Betroffen starrte ich meinen kleinen Freund an, und Martin Bryan tat das gleiche. Dann befragte er mich durch ein leichtes Heben seiner Augenbrauen, worauf ich vollig ratlos den Kopf schuttelte. »Ja«, murmelte der kleine Belgier derweilen. »Das macht die Geschichte erst interessant.«
»Er kann auch alter gewesen sein«, bemerkte Bryan, von Zweifeln ergriffen.
»Nein, nein. Fraglos hat Ihre Beobachtung das Richtige getroffen. Sehr interessant, au?erst interessant!«
Diese ratselhaften Ausrufe waren nicht geeignet, Martin Bryans Verwirrung zu beheben. Ich bemerkte, wie er unbehaglich auf seinem Sessel hin und her rutschte, und schlie?lich leitete er eine oberflachliche Unterhaltung ein.
»Ein ergotzlicher Abend gestern, nicht wahr . ? Man kann kaum eine anma?endere Frau finden als Jane Wilkinson.«
»Sie ist von Einzelvisionen besessen«, lachelte Poirot. »Immer nur eine einzige Sache zur Zeit.«
»Und ist davon nicht abzubringen«, erganzte Martin Bryan. »Wie die Leute das ertragen, verstehe ich nicht.«
»Man ertragt viel von einer schonen Frau, mein Freund.« Lustig blinzelten Poirots kluge Augen. »Wenn sie eine Mopsnase hatte, einen fahlen Teint und fettiges Haar - ah, dann anderte sich das Bild.«
»Auch so bringt sie mich bisweilen in Wut. Und nichtsdestoweniger bin ich Jane zugetan, obgleich ich sie in mancher Hinsicht fur nicht ganz zurechnungsfahig halte.«
»Oh, oh! Ich hielt sie im Gegenteil fur einen klaren Kopf«, wagte ich zu au?ern.
»Vielleicht ist mein Ausdruck nicht gut gewahlt, Hauptmann Hastings. Sie versteht ihre Interessen vortrefflich wahrzunehmen; sie besitzt sogar eine reichliche Dosis geschaftlicher Gerissenheit. Aber Recht und Unrecht - diese Begriffe sind ihr fremd.«
»Etwas Ahnliches sagten Sie auch gestern abend schon, wie ich mich erinnere.«
»Meine Herren, wir sprachen eben von Verbrechen . Sehen Sie, es wurde mich nicht wundernehmen, wenn Jane ein Verbrechen beginge.«