»Hm ...«, brummte Hercule Poirot gedankenvoll. »Sie haben in so viel Filmen mit ihr zusammengespielt, da? Sie ihr eigentliches Wesen erfa?t haben mu?ten, Mr. Bryan.«
»Ich glaube sie durch und durch zu kennen«, beteuerte dieser, »und vermag mir darum sehr gut vorzustellen, da? Jane ohne viel Federlesens jemand toten wurde.«
»Mithin hat sie ein hitziges Temperament?«
»Fehlgeschossen, Monsieur Poirot! Kalt wie ein Eiszapfen ist sie. Was ich meine, lauft darauf hinaus, da? sie, falls irgendwer ihr im Wege stande, ihn kurzerhand beiseite schaffen wurde. Und man konnte sie nicht einmal regelrecht verdammen, denn sie ist in dem Wahn befangen, da? jeder, der mit Jane Wilkinson in Konflikt gerat, zu verschwinden hat.«
Jetzt lag eine anklagende Bitterkeit in seinen Worten, die ihnen bisher gefehlt hatte. Welche Erinnerung mochte sie hervorrufen?
»Sie glauben wirklich, sie wurde vor einem Mord nicht zuruckschrecken?« fragte Poirot, wobei seine forschenden Augen dem anderen bis auf den Grund der Seele zu dringen schienen.
Bryan atmete horbar.
»Mein Ehrenwort, ich glaube es. Vielleicht werden Sie sich eines Tages meiner Worte entsinnen ... Ich kenne Jane. Mit derselben Leichtigkeit, mit der sie ihren Morgentee trinkt, wurde sie auch toten. Ich scherze nicht, Monsieur Poirot.«
Bei dem letzten Satz war er aufgestanden.
»Ja«, erwiderte mein Freund gemessen, »ich sehe, wie bitter ernst es Ihnen ist.«
Und noch einmal versicherte Martin Bryan: »Ich kenne sie durch und durch.« Mit gerunzelter Stirn starrte er auf die Spitzen seiner eleganten Schuhe. »Und was die andere Sache betrifft, die mich zu Ihnen fuhrte, so sollen Sie daruber in wenigen Tagen von mir horen.« Jetzt blickte er auf. »Nicht wahr, Sie werden sich mit ihr befassen?« Poirot trat ans Fenster und schaute ein Weilchen hinaus.
»Ja«, entschied er endlich. »Ich werde mich mit ihr befassen, weil ich sie interessant finde.« Ich begleitete Bryan die Treppe hinab.
»Was, zum Henker, meinte er mit dem Alter jenes goldzahnigen Burschen?« stie? er hervor, wahrend seine Hand schon auf der Hausturklinke lag. »Ob er drei?ig oder vierzig ist - was tut das zur Sache? Vielleicht hat mich Ihr Freund nur foppen wollen.«
»Nimmermehr!« erklarte ich aus ehrlichster Uberzeugung. »Das ist nicht Poirots Art. Verlassen Sie sich darauf, da? ihm dieser Punkt bedeutungsvoll erscheint.«
»Na, ich freue mich, da? Sie nicht schlauer sind als ich, Hauptmann Hastings. Ich hasse es, wie ein bloder Tolpel dazustehen.« Dann druckte er mir die Hand und ging davon.
»Poirot«, sagte ich, als ich wieder oben bei meinem kleinen Freund angelangt war, »warum messen Sie dem Alter jenes Schnufflers so viel Wichtigkeit bei?« »Was? Da mu? ich Sie erst mit der Nase drauf sto?en? Armer Hastings!« Er lachelte mitleidig und schuttelte den Kopf. »Was halten Sie uberhaupt von unserer Unterredung?«
»Vorlaufig durfte es schwer sein, ein Urteil zu fallen. Wenn wir mehr wissen ...«
»Auch wenn wir nicht mehr wissen, mussen sich Ihnen doch gewisse Eindrucke aufdrangen, mon ami!«
Das Telefon, das in dieser Sekunde schrill zu larmen begann, bewahrte mich vor der schmachvollen Beichte, da? sich mir gar nichts aufdrangte, und eilig griff ich zum Horer.
Eine weibliche Stimme sprach, eine scharfe, sachliche Stimme. »Hier ist Lord Edgwares Sekretarin. Lord Edgware bedauert, infolge einer unvermuteten Reise nach Paris die Verabredung mit Monsieur Poirot nicht einhalten zu konnen. Jedoch wurde er, falls es Monsieur Poirot pa?t, heute vormittag gegen ein Viertel nach zwolf einige Minuten fur ihn erubrigen.«
Ich gab die Botschaft an meinen Freund weiter.
»Selbstverstandlich werden wir heute hingehen, Hastings«, erklarte Poirot ohne Besinnen, worauf ich diesen Bescheid in gebuhrender Veranderung der Telefonmuschel anvertraute.
»Sehr wohl«, erwiderte die scharfe Stimme. »Heute vormittag gegen ein Viertel nach zwolf.«
In einem Zustand angenehm prickelnder Erwartung erreichte ich mit Poirot das Haus Lord Edgwares in Regent Gate, ein imposantes Gebaude, in edlen, strengen Linien gehalten, ohne uberflussige Verschnorkelungen und Zierat. Obwohl ich der Psychologie weniger verfallen war als mein kleiner beruhmter Freund, hatten die Worte, mit denen Lady Edgware ihres Gatten Erwahnung tat, meine Neugier geweckt, und voll Spannung wartete ich nun darauf, welches mein eigenes Urteil sein wurde. Auf unser Klingeln offnete nicht etwa ein wurdiger, wei?haariger Butler, wie es sich fur dies Haus geziemt hatte, sondern der schonste junge Mann, den man sich vorstellen konnte. Gro?, blond, war er wie geschaffen, um einem Bildhauer fur Hermes oder Apollo Modell zu stehen. Trotz seines guten Aussehens aber mi?fiel er mir, stie? mich ab durch die Weichheit seiner Stimme und eine vage weibische Art, die ihm anhaftete. Und irgendwie erinnerte er mich an jemanden, dem ich erst kurzlich begegnet sein mu?te und der mir dennoch nicht einfiel.
»Bitte mir zu folgen«, flotete er, als wir nach Lord Edgware fragten.
Er fuhrte uns an der Treppe voruber zu einer Tur ganz im Hintergrund der Halle und meldete unsere Ankunft mit derselben zarten, weichlichen Stimme, der ich instinktiv mi?traute.
Der Raum, den wir betraten, war die Bibliothek. Rings um die Wande liefen Bucherregale; die dunklen, schweren, aber geschmackvollen Mobel wirkten sehr feierlich, entbehrten jedoch der Behaglichkeit.
Lord Edgware, ein stattlicher Funfziger mit braunem, wei?gesprenkeltem Haar, schmalem Gesicht und verkniffenem Mund, erhob sich bei unserem Eintritt. Verbittert und reizbar sah er aus. Seine Augen hatten einen wunderlich verschlossenen Blick. Auffallend wunderliche Augen! stellte ich noch einmal fest.
»Monsieur Hercule Poirot? Hauptmann Hastings?« begru?te er uns mit frostiger Zuruckhaltung. »Nehmen Sie bitte Platz.«
Wir folgten der Aufforderung. Durch das einzige Fenster drang verhaltnisma?ig wenig Licht in das Gemach, und dieses Halbdunkel trug zu der kalten, ungastlichen Atmosphare noch bei.
Lord Edgwares lange wei?e Finger nahmen einen Briefbogen auf, dessen Schrift ich unschwer als jene meines kleinen Freundes erkannte.
»Ihr Name ist mir naturlich wohlbekannt, Monsieur Poirot. Wem ist er das nicht?« Hercule Poirot quittierte dies Kompliment mit einer Verbeugung. »Allerdings begreife ich nicht, inwiefern Sie diese Sache angeht. Sie haben mir hier geschrieben, da? Sie mich wegen ... meiner Frau zu sprechen wunschten«, schlo? er, und die Erwahnung von Jane Wilkinson schien ihn Uberwindung gekostet zu haben.
»Jawohl«, sagte mein Freund.
»Sie befassen sich doch, wenn ich recht unterrichtet bin, mit der Untersuchung von Verbrechen, Monsieur Poirot.«
»Von Problemen, Lord Edgware. Gewi?, es gibt Probleme krimineller Art. Es gibt indes auch andere.«
»So ...?« schnarrte der hohnisch verkniffene Mund. Aber Poirot beachtete den unverkennbaren Hohn nicht.
»Ich nahm mir die Freiheit, mich mit Ihnen um Lady Edgwares willen in Verbindung zu setzen«, sagte er mit beflissener Liebenswurdigkeit. »Lady Edgware wunscht die Scheidung.«
»Das ist mir nichts Neues.«
»Lady Edgwares Vorschlag ging dahin, da? Sie und ich die Angelegenheit erortern.«
»Es gibt nichts zu erortern.«
»Sie weigern sich also?«
»Weigern? Aber ganz und gar nicht!«
Was immer Poirot auch erwartet haben mochte - dies ganz bestimmt nicht. Selten oder nie habe ich meinen Freund so fassungslos gesehen wie bei dieser Gelegenheit, und ich betrachtete ihn mit diebischem Vergnugen. Sein Unterkiefer fiel herab, seine Hande spreizten sich, seine Brauen schnellten in die Hohe: Er sah aus wie eine drollige Karikatur in einem Witzblatt.
»Comment?« schrie er. »Sie weigern sich nicht?«
»Ihr Erstaunen ist mir ratselhaft, Monsieur Poirot.«
»Ecoutez, Sie sind willens, sich von Ihrer Frau Gemahlin scheiden zu lassen?«
»Gewi?. Und sie wei? das sehr gut. Ich habe es ihr brieflich mitgeteilt.«