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„Dieser Boyce!“ sagte Karellen. „Berichte mir alles uber ihn!“

Der Oberkontrolleur bediente sich naturlich nicht tatsachlich dieser Worte, und die Gedanken, die er wirklich ausdruckte, waren viel scharfsinniger. Ein menschlicher Zuhorer hatte eine kurze Folge von raschen Tonen vernommen, nicht unahnlich einem in Tatigkeit befindlichen Hochfrequenz-Morsesender. Obwohl man viele Beispiele der Sprache der Overlords aufgenommen hatte, erwies sich bei allen infolge ihrer au?erordentlichen Kompliziertheit eine Analyse als unmoglich. Die Schnelligkeit der Ubertragung sorgte dafur, da? kein Dolmetscher, selbst wenn er die Sprache vollig beherrscht hatte, jemals den Overlords bei ihrer normalen Unterhaltung folgen konnte.

Der Oberkontrolleur fur die Erde stand mit dem Rucken zu Raschaverak und blickte uber die vielfarbige Schlucht des Grand Canyon hin. In zehn Kilometern Entfernung, aber kaum durch den Abstand verschleiert, fingen die terrassenartig ansteigenden Hange die volle Kraft der Sonne auf. Ein paar hundert Meter tiefer, an der schattigen Bergwand, an deren Rand Karellen stand, bewegte sich ein Mauleselzug in langsamen Windungen in das Tal hinab. Seltsam, dachte Karellen, da? so viele menschliche Wesen noch jede Gelegenheit ergriffen, sich primitiv zu verhalten. Sie konnten den Grund der Schlucht in einem Bruchteil der Zeit und viel bequemer erreichen, wenn sie wollten. Und doch zogen sie es vor, auf Wegen, die wahrscheinlich genau so unsicher waren, wie sie aussahen, dahinzuholpern.

Karellen machte eine unmerkliche Handbewegung. Das gro?e Panorama entschwand den Blicken, und es blieb nur eine nebelige Leere von unendlicher Tiefe. Die Wirklichkeiten seines Amtes und seiner Stellung sturmten wieder einmal auf den Oberkontrolleur ein.

„Rupert Boyce ist ein etwas merkwurdiger Charakter“, erwiderte Raschaverak. „Beruflich ist ihm das Wohlergehen der Tiere in einem wichtigen Teil der afrikanischen Schutzgebiete anvertraut. Er ist sehr tuchtig und an seiner Arbeit interessiert. Da er mehrere tausend Quadratkilometer zu uberwachen hat, besitzt er einen der funfzehn Fernsehapparate, die wir bisher verliehen haben, naturlich unter den ublichen Vorsichtsma?nahmen. Es ist zufallig der einzige mit vollen Projektionsvorrichtungen. Er hat ihre Notwendigkeit fur ihn ausreichend dargelegt, so da? wir ihm den Apparat uberlassen haben.“

„Was fur Grunde hat er angegeben?“

„Er wollte sich verschiedenen wilden Tieren zeigen, damit sie sich an seinen Anblick gewohnen und ihn nicht angreifen sollten, wenn er korperlich anwesend ware. Diese Theorie hat sich bei Tieren bewahrt, die sich mehr auf das Auge als auf den Geruch verlassen, obwohl der Mann wahrscheinlich schlie?lich doch getotet wird. Und naturlich gab es noch einen anderen Grund, warum wir ihm den Apparat uberlassen haben.“

„Es machte ihn mehr zu einer Zusammenarbeit geneigt?“

„Allerdings. Ich hatte mich ursprunglich mit ihm in Verbindung gesetzt, weil er uber Parapsychologie und verwandte Themen eine der besten Sammlungen von Buchern hat, die es in der Welt gibt. Er lehnte es hoflich, aber energisch ab, irgendeines der Bucher auszuleihen, so da? nichts ubrigblieb, als ihn zu besuchen. Ich habe jetzt etwa seine halbe Bibliothek gelesen. Es war eine ziemliche Arbeit.“

„Das kann ich mir denken“, sagte Karellen trocken. „Haben Sie unter all dem Kram irgend etwas entdeckt?“

„Ja — elf klare Falle von teilweisen Durchbruchen und siebenundzwanzig wahrscheinliche. Das Material ist jedoch so ausgewahlt, da? man es nicht als Muster benutzen kann. Und die Beweise sind mit Mystizismus vermengt — vielleicht die ursprungliche Abweichung des menschlichen Geistes.“

„Und wie ist Boyces Einstellung dazu?“

„Er behauptet, aufgeschlossen und skeptisch zu sein, aber es ist klar, da? er fur dieses Gebiet nie so viel Zeit und Muhe aufgewandt hatte, wenn er nicht irgendeinen unterbewu?ten Glauben besa?e. Ich habe ihm das auf den Kopf zugesagt, und er hat zugegeben, da? ich wahrscheinlich recht habe. Er mochte irgendeinen uberzeugenden Beweis bekommen. Deshalb macht er immer diese Experimente, obwohl er behauptet, da? es nur eine Spielerei ist.“

„Sie sind uberzeugt, da? er nicht argwohnt, Ihr Interesse konne mehr als akademisch sein?“

„Fest uberzeugt. In vieler Hinsicht ist Boyce bemerkenswert toricht und einfaltig. Das macht seine Versuche, ausgerechnet auf diesem Gebiet Forschungen anzustellen, geradezu ruhrend. Es liegt keine Notwendigkeit vor, irgendwelche Schritte gegen ihn zu unternehmen.“

„Ich verstehe. Und was ist mit der Frau, die ohnmachtig wurde?“

„Das ist das Aufregendste an der ganzen Angelegenheit. Jean Morrel war fast mit Sicherheit das Medium, durch das die Auskunft gegeben wurde. Aber sie ist sechsundzwanzig, viel zu alt, um selbst den ursprunglichen Kontakt zu bilden, nach all unsern fruheren Erfahrungen zu urteilen. Es mu? daher jemand sein, der eng mit ihr verbunden ist. Die Schlu?folgerung liegt auf der Hand. Wir konnen nicht mehr viele Jahre zu warten haben. Wir mussen sie in die Purpurne Kategorie versetzen. Sie kann das wichtigste lebende menschliche Wesen sein.“

„Dafur werde ich sorgen. Und was ist mit dem jungen Mann, der die Frage gestellt hat? War es einfach Neugier? Oder hatte er irgendeinen andern Grund?“

„Er ist zufallig dorthin gekommen. Seine Schwester hat sich kurzlich mit Rupert Boyce verheiratet. Er hatte vorher keinen der andern Gaste gekannt. Ich bin uberzeugt, da? die Frage vollig unuberlegt war, veranla?t durch die ungewohnliche Situation und wahrscheinlich durch meine Anwesenheit. Wenn man diese Umstande berucksichtigt, ist es kaum uberraschend, da? er so handelte. Sein gro?es Interesse ist die Astronautik. Er ist Sekretar der Arbeitsgruppe fur Weltraumfahrten an der Universitat Kapstadt und beabsichtigt offenbar, dieses Fach zu seiner Lebensarbeit zu machen.“

„Seine Laufbahn durfte interessant sein. Aber was wird er nach Ihrer Meinung unternehmen, und was sollen wir in Hinblick auf ihn tun?“

„Er wird zweifellos, sobald er kann, gewisse Feststellungen machen. Aber er kann auf keine Art die Richtigkeit seiner Information beweisen, und auf Grund ihres sonderbaren Ursprungs kann er sie auch schwerlich veroffentlichen. Und wurde es, selbst wenn er es tut, die Sache im geringsten beruhren?“

„Ich werde beide Situationen untersuchen lassen“, erwiderte Karellen. „Obwohl unsere Anweisung dahin geht, unsern Stutzpunkt nicht bekanntzugeben, konnte die Auskunft doch in keiner Weise gegen uns benutzt werden.“

„Ich bin der gleichen Meinung. Rodricks besitzt eine Information, deren Wahrheit ungewi? ist und die keinen praktischen Wert hat.“

„So scheint es“, sagte Karellen. „Aber wir wollen nicht allzu unbesorgt sein. Menschliche Wesen sind bemerkenswert erfinderisch und oft sehr hartnackig. Man sollte sie nie unterschatzen, und es ist interessant, Rodricks Laufbahn zu verfolgen. Ich mu? uber diese Dinge nachdenken.“

Rupert Boyce kam der Sache nie wirklich auf den Grund. Als seine Gaste sich, weniger larmend als gewohnlich, entfernt hatten, schob er den Tisch nachdenklich in seine Ecke zuruck. Der leichte alkoholische Nebel hinderte ihn, das Geschehene grundlich zu durchdenken, und selbst die Tatsachen hatten sich schon etwas verwischt. Er hatte die unklare Vorstellung, da? irgend etwas von gro?er, aber nicht recht greifbarer Bedeutung geschehen sei, und fragte sich, ob er mit Raschaverak daruber sprechen solle. Bei genauerem Uberlegen erschien ihm das jedoch taktlos. Schlie?lich hatte sein Schwager die Verwirrung verursacht, und Rupert war etwas argerlich auf den jungen Jan. Aber war es Jans Schuld? Hatte irgend jemand die Schuld? Mit einigen Gewissensbissen erinnerte sich Rupert, da? es sein Experiment gewesen war. Er beschlo?, sehr erfolgreich, die ganze Sache zu vergessen.

Vielleicht hatte er etwas tun konnen, wenn man die letzte Seite von Ruths Notizen hatte finden konnen, aber sie war in der Aufregung verschwunden. Jan stellte sich unschuldig, und Raschaverak konnte man ja nicht gut bezichtigen. Und niemand wurde sich jemals genau erinnern, was da buchstabiert worden war, abgesehen davon, da? es keinen Sinn zu geben schien.

Der am unmittelbarsten Betroffene war George Greggson gewesen. Er konnte nie das Gefuhl des Entsetzens vergessen, als Jean in seine Arme sank. Ihre plotzliche Hilflosigkeit verwandelte sie in jenem Augenblick aus einer amusanten Gefahrtin in einen Gegenstand der Zartlichkeit und Liebe. Frauen waren seit undenklichen Zeiten ohnmachtig geworden, nicht immer ohne Vorbedacht, und Manner hatten unveranderlich in der gewunschten Art und Weise darauf reagiert. Jeans Zusammenbruch war ganz plotzlich gekommen, hatte aber nicht besser geplant sein konnen. In jenem Augenblick war George, wie er spater begriff, zu einem der wichtigsten Entschlusse seines Lebens gekommen. Jean war endgultig die Frau, auf die es ihm ankam, trotz ihrer sonderbaren

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