unters Dach getreten. Du wolltest dem Madel an den Kragen, und dafur habe ich dich verhauen, das ist die ganze Geschichte.« »Na, was du nicht sagen willst, la? sein. Ich schere mich nicht um deine Geheimnisse. Wer mit Rotarm zu tun haben will, stellt sich nicht auf den Markt und posaunts aus. Also reden wir nicht weiter davon!« – Darauf wandte er sich zu dem Madchen. »Na, du bist ja ein ganz gutes Madel, Schalldirne, ein Wort, ein Mann! War, wenn du mich auch mit der Schere stachst, doch nett von dir, den Kerl da nicht scharfer uber mich zu hetzen. Komm, trink mit uns, der Hitzkopf berappt.«
Die drei Leutchen waren nun ein Herz und eine Seele und traten in die Kaschemme. Ein Kohlentrager, auch ein Hune von Gestalt, hatte sich, wahrend die beiden Manner zusammen gekampft hatten, behutsam in einen andern Hausflur begeben und abgewartet, wie die Rauferei ausgehen werde. Jetzt folgte er den drei Leutchen in die Kaschemme. Vor der Tur suchte er dem Unbekannten an die Seite zu gelangen und flusterte ihm auf englisch und in behutsam warnendem Tone zu: »Sehen Sie sich vor, gnadiger Herr, sehen Sie sich vor!«
Mit den Achseln zuckend, trat der Unbekannte durch die Tur und verschwand hinter dem Banditen und dem Madchen in der Gaststube.
Zweites Kapitel.
Wirtin und Gaste
Die Kaschemme fuhrte das Schild »Zum wei?en Kaninchen« und stand mitten in der Rue des Poix. Sie nahm das Erdgescho? eines hohen Hauses ein, dessen Fassade aus zwei sogenannten Fallbeilfenstern bestand. Ueber der Tur einer dunklen gewolbten Flur stand: »Hier ist Nachtquartier zu haben.« – Die Gaststube ist ein gro?er, niedriger Saal mit verraucherter Decke und von Qualm und Rauch geschwarzten Balken, der durch das rotliche Licht eines Ueberrestes von Wandleuchter erhellt wird. An jeder Seite der gro?en Stube steht ein halbes Dutzend Tische, die wie die dazu gehorigen Banke an der Wand festgemacht sind. Im Hintergrunde fuhrt eine Tur nach der Kuche; eine andere kleinere Tur fuhrt rechts vom Schenktische auf den Flur hinaus, uber den man gehen mu?, um zu den Lochern zu gelangen, in denen es fur 3 Sous eine Schutte Stroh statt eines Bettes gibt.
»Mutter Ponisse« hei?t die Wirtin dieser Kaschemme. Ihre Geschafte sind dreifacher Art: sie beherbergt Leute zur Nacht, unterhalt einen Ausschank verbunden mit Kneipe und verleiht schmutzige Garderobe an die noch schmutzigeren Geschopfe, die sich in diesen schmutzigen Gassen wie Schmei?fliegen umhertreiben. Sie zahlt 40 Jahre, ist alt, gro?, korpulent und hat einen Anflug von Bart. Ihre Stimme hat einen fast mannlichen Klang, ist rauh und heiser. Ihre starken Arme und gro?en Hande weisen auf gro?e Korperstarke. Von reichlichem Schnapsgenu? hat ihr Gesicht eine Kupferfarbe bekommen.
Auf dem Schenktische stehen allerhand Zinnma?e und Kruge, um die eiserne Reifen gelegt sind. Auf einem Wandbrette stehen allerhand Glaser, die allerhand Likore enthalten: solche von grunlicher und solche von rotlicher, auch ein paar von goldgelber Farbe.
Neben der Wirtin hockt eine gro?e, schwarze Katze mit gelben Augen, die der Hausteufel der Kaschemme zu sein scheint. Hinter dem Gehause einer altertumlichen Wanduhr hangt ein Zweiglein geweihten Osterbuchsbaums, dessen Anwesenheit sich nur erklaren la?t, wenn man den Satz gelten la?t, da? das menschliche Gemut ein unergrundlicher Abgrund von Widerspruchen ist.
Zwei Kerle von polizeiwidrigem Aussehen, mit struppigem Barte, kaum mit Lumpen bedeckt, sitzen an einem Tische bei einem Weinkruge, trinken aber kaum einmal, sondern sind in reger, wenn auch leiser Unterhaltung begriffen. Der eine hat eine bleiche, fast bleifarbene Haut. Das Gesicht wird von einer schabigen griechischen Mutze fast bis zu den Brauen bedeckt. Sein linke Hand halt er fast immer unter dem Tische und la?t, wenn er sich ihrer einmal bedienen mu?, so wenig wie moglich davon sehen.
Ein Stuck weiter vom Tische entfernt sitzt ein junger Mensch von knapp 16 Jahren mit bartlosem, ebenfalls bleichem Gesicht und mattem Blicke. Um den Hals herum hangt ihm langes, schwarzes Haar. Dieses Musterexemplar fruhzeitigen Lasters raucht aus einer kurzen Tonpfeife und trinkt aus einem kleinen Kruge elenden Fusel.
Von den ubrigen Gasten la?t sich weiter nichts Besonderes sagen; es sind Manner und Weiber, aber die ersten sind in der Ueberzahl. Sie sehen alle roh und tierisch aus, larmen und schreien, rei?en Zoten und sitzen, wenn sie sich ausgetobt haben, in dumpfem Schweigen beisammen.
Zu diesen Gasten gesellten sich unser Unbekannter, der Bandit und die Dirne. Jetzt konnen wir uns den Schuri genau ansehen: er ist, wie gesagt, ein Hune von kolossalen Korperverhaltnissen, mit aschblondem, fast wei?lichem Haar, dichtverwachsenen Brauen und feuerrotem Backenbart von erstaunlicher Lange. Sonnenbrand, Elend und harte Arbeit im Bagno haben ihm die fast allen Galeerenstraflingen eigentumliche Bronzefarbe gegeben. Sein Gesichtsausdruck verrat mehr brutale Verwegenheit als wilde Notzeit; wer aber seinen Hinterschadel aufmerksam betrachtet, findet dort die Kennzeichen fur Mordsucht stark ausgepragt.
In seltsamer Anomalie zeigen die Gesichtszuge der Schalldirne einen madonnenhaften Ausdruck, wie er zuweilen auch bei tiefster Verworfenheit erhalten bleibt. Die Dirne steht im 17. Jahre. Ihr Gesicht ist oval geschnitten, die gro?en blauen Augen werden von langen Wimpern beschattet; auf den runden roten Wangen liegt noch der erste Jugendglanz; ihr kleiner purpurroter Mund und herrliches Blondhaar, ihre feine gerade Nase und ein allerliebstes Grubchenkinn machen es erklarlich, da? die Dirne fast alle Manner dieser verbrecherischen Welt bezaubert, hat doch schon ihre Stimme allein durch ihren reinen harmonischen Klang den unbekannten Mann in Fesseln geschlagen. Sie sang vortrefflich, und dieses Talent hatte ihr in der Kaschemme den Rufnamen der Schalldirne eingetragen, der im Rotwelsch soviel wie Primadonna bedeutet. Neben ihm fuhrte sie auch noch den Namen »Marienblumchen«, der im Rotwelsch beliebten Umschreibung fur Jungfrau.
Ihr Beschutzer, ein Mann von hochstens 30 Jahren, den wir mit dem Namen Rudolf benennen wollen, war von Mittelgro?e. Sein schlanker, wohlproportionierter Korper verriet nicht im geringsten jene erstaunliche Kraft, die er im Kampf mit dem Banditen an den Tag gelegt hatte. Sein Gesicht war regelma?ig und schon, fur einen Mann vielleicht zu schon. Sein Teint von zartem Wei?, seine halbgeschlossenen Augen, seine ungezwungene Haltung, sein sarkastisches Lacheln lie? einen blasierten Menschen vermuten, dessen Konstitution durch uberma?igen Lebensgenu? wenn auch nicht zerruttet, so doch geschwacht ist. Und doch hatte Rudolf mit seiner schmachtigen, zierlichen Hand einen der verwegensten und starksten Banditen von Paris bezwungen. Sein Blick verriet hin und wieder einen Hang zur Melancholie, und sein Gesicht ruhrendes Mitleid. Wenn aber sein Blick, was fast haufiger der Fall war, einen harten, boshaften Ausdruck annahm, dann machte auch der mitleidige Zug einem grausamen Platz, der jede gefuhlvolle Regung auszuschalten schien.
In dem Kampfe mit dem Banditen hatte Rudolf keine Spur von, Zorn oder Ha? gegen den ihm nicht gewachsenen Gegner gezeigt, sondern war ihm im Vertrauen auf seine Kraft, Gewandtheit und Gelenkigkeit nur mit Verachtung entgegengetreten. Im ubrigen bekam Rudolf durch sein Benehmen und seine Gewandtheit, mit der er die Gaunersprache redete, eine vollstandige Aehnlichkeit mit den Gasten der Wirtin. Um den schlanken Hals hatte er ein schwarzes Tuch geschlungen, dessen Enden auf den Kragen seiner verblichenen Bluse fielen. Die plumpen Schuhe, in denen seine Fu?e steckten, waren mit einer doppelten Reihe von Nageln beschlagen, und au?er seinen schonen Handen unterschied ihn kaum ein einziger Zug von den in der Kaschemme sitzenden Gasten.
Beim Eintritt legte der Bandit Rudolf eine seiner gro?en Hande auf die Achsel und sagte: »Es lebe der Mann, der den Schuri bezwungen! Jawohl, Kameraden, bezwungen! Und selbst Meister Bakel wird seinen Meister in ihm finden. Dafur stehe ich ein.«
Bei diesen Worten richteten sich aller Blicke, von der Wirtin bis zu dem geringsten Gaste hinunter, auf Rudolf, und zwar mit einem deutlich sichtbaren Zeichen von Angst und Sorge. Ein paar zogen Glaser und Kruge an den Tischrand zuruck, um Rudolf Platz zu machen; andere traten zu dem Banditen, um sich mit leiser Stimme uber den Unbekannten zu unterrichten, der sich auf so gloriose Weise in ihren Kreisen eingefuhrt hatte. Die Wirtin hatte den neuen Gast inzwischen mit ihrem holdseligsten Lacheln bewillkommt. Was noch nie im »Wei?en Kaninchen« passiert war, sie war aufgestanden und hatte sich bei Rudolf erkundigt, womit sie ihm dienen konne. Einer der beiden Manner polizeiwidrigen Aussehens, von dem wir bereits sagten, da? er die linke Hand versteckt hielt, fragte die Wirtin, die fur Rudolf den Tisch abwischte: »Ist Bakel noch nicht dagewesen?« – »Nein,« versetzte die Wirtin, »aber gestern ist er mit seiner neuen Gesponsin dagewesen.« – »Wer ist das?« – »Haltst du mich etwa fur einen Spitzel? Soll ich gar meine Kunden verpetzen?« erwiderte die Wirtin rauh und ablehnend. – »Ich werde heute abend,« sagte der Rauber, »mit ihm zusammenkommen. Wir haben Geschafte miteinander.« – – »Wird was