Erster Teil.

Erstes Kapitel.

Die Kaschemme

Was ist Kaschemme? In der Gauner- und Mordersprache ein Gasthaus. Naturlich eines der niedrigsten Gattung. Sein Wirt ist gemeinhin ein Strafling, der seine Jahre »abgemacht« hat. Zuweilen steht es auch unter dem Zepter einer ehemaligen Zuchthauslerin. Was in einer solchen Kaschemme verkehrt, ist immer nur der Auswurf der Gesellschaft: Galeerenstraflinge, Verbrecher aller moglichen Art.

In der Kaschemme sucht die Polizei, sobald ein Verbrechen verubt worden ist, den Schuldigen und findet ihn auch in der Regel zwischen hier verkehrenden Gasten.

Es war im letzten Monat des Jahres 1838, am 13. Dezember. Ein kalter, regnerischer Abend. In einer durftigen Bluse passiert ein Hune von Mann den Pont-au-Change, zur innern Stadt hinein, um sich in dem schauerlichen Gewirr von finsteren, engen Ga?chen zwischen dem Justizpalast und der Notre-Dame-Kirche zu verlieren.

Es sturmte heftig. In dem schwarzlichen Wasser, das in der Gassenmitte entlangflo?, spiegelte sich das bleiche Licht der vom Winde geschaukelten Laternen. Der Mann hatte die Rue des Poix erreicht, die mitten im alten Paris liegt, und ging, seitdem er spurte, da? er vertrauten Grund und Boden unter den Fu?en hatte, in langsamerem Tempo. Vom Justizpalaste schlug es zehn. Unter den niedrigen, gewolbten Turen, die zu Hohlen zu fuhren schienen, hockten Weiber, mit halblauter Stimme Stucke aus Volksliedern vor sich hin trallernd. Eins von den Weibern mu?te dem Hunen von Mann bekannt sein, denn er blieb vor ihm stehen und fa?te es am Arme.

»'n Abend, Schuri[Messermann]!« sagte das Weib angstlich und versuchend, ein paar Schritte zuruckzuweichen. – Der Blusenmann erwiderte: »Hab mich also nicht geirrt? Bist doch die Schalldirn[Sangerin]? Nun, la? Schnabus[Schnaps] kommen, wenn du nicht Appetit hast auf blaue Flecke und lahme Knochen.« – »Ich hab doch kein Geld,« versetzte, am ganzen Leibe zitternd, das Madchen, das wie jedermann schreckliche Furcht vor Schuri, dem Blusenmanne, hatte. – »Ei, ei! Wie du lugen kannst!« rief der Blusenmann und versetzte dem unglucklichen Madchen einen Fausthieb in den Unterleib, da? sie vor Schmerz laut aufschrie.

Doch gleich darauf rief er: »Warte, Kanaille! Du hast mich mit der Schere gestochen. Das will ich dir heimzahlen!« – Und wie von der Tarantel gestochen, raste er hinter ihr her in dem dunklen Flure.

»Bleib mir vom Leibe, Schuri!« rief das Madchen resolut, »oder ich stech dir die Okulori[Augen] aus. Hattest du mich nicht geschlagen, hatt ich dir nichts getan!« – »Warte, Luder! Jetzt hab ich dich ... Nun sollst du mit mir tanzen!« Und dabei packte er mit seiner gro?en, derben Faust ihre kleine zarte Hand.

»Die Reihe zum Tanz wird an dich kommen,« sagte da eine Mannesstimme. – »Oho! Bist du es, Rotarm? Gib Antwort, aber greif nicht so derb zu!« – »Ich bin der Rotarm nicht,« sagte die Stimme wieder. – »Mir schnuppe, wer du bist,« rief der Schuri; »aber wem gehort denn die kleine Pfote in meiner Tatze?« – »Mir nicht, aber dem andern da!« sagte die Stimme.

Die Pfote, mit einer Haut so weich und zart wie Seide, unter der sich aber Sehnen und Muskeln wie von Stahl spannten, packte den Schuri an der Gurgel. Mittlerweile war die Schalldirne an das andere Ende des Hauseingangs geflohen und rannte nun mehrere Stufen einer steilen Treppe hinauf. Dann blieb sie stehen und sagte zu ihrem unbekannten Beschutzer: »Dank schon dafur, da? Ihr mit mir gehalten! Jetzt bin ich aus dem Schlamassel[Not, Patsche]. Nun la? ihn los und sieh dich vor! Hasts zu tun mit dem Schuri!« – »Und ich bin Sundenkitscher, der nicht tampert[Bandit, der keine Bange hat],« erwiderte, ihrer Worte nicht achtend, der Unbekannte.

Dann war alles still, dann horte man ein paar Minuten lang Ringen ... Dann rief eine rauhe Stimme – die des Banditen, der sich mit aller Gewalt von seinem Widersacher loszumachen suchte, was ihm aber nicht gelingen wollte, da dieser uber eine au?ergewohnliche Kraft gebot.– »Soll ich dich kapores machen[umbringen]?« rief der Bandit, »berappen sollst du mir fur die Schalldirne und fur deinen eigenen Part!« Dabei knirschte er mit den Zahnen, als wenn sie ihm brechen sollten.

»Kapores machen? Ich berappen? Ich dich?« versetzte der Unbekannte, »ja doch, mit Knochenmehl und Faustschmalz!« – »La?t du meine Krawatte nicht los,« achzte der Bandit, »bei? ich dir deinen Zinken[Nase] ab, Hund verfluchter!« – Aber die letzten Worte klangen nur noch dumpf, denn der Kerl war schon dem Ersticken nahe. – »Na, da schaff dir nur erst langere Zahne an,« hohnneckte der andere, »denn mein Zinken ist kurz, und mit deinen Okulori wirds auch bald hapern, zumal es recht finster hier ist.« – »Dann tritt mit unter die Laterne!« – »Meinetwegen,« erwiderte der Unbekannte, »dort konnen wir einander begaffen.« – Mit diesen Worten zerrte er den Banditen an dem Halstuche bis zur Tur und von da bis auf die Stra?e hinaus, die aber auch nur matt von der Laterne erhellt wurde. Der Bandit wankte, aber bald gluckte es ihm, Halt auf den Beinen zu gewinnen. Nun packte er den Unbekannten mit neuem Ungestum, dessen schlanker Korper die unglaubliche Kraft nicht ahnen lie?, die ihm innewohnte. Wenngleich der Bandit ein wahrer Riese war, dem es an Gewandtheit im Faustkampfe nicht fehlte, so fand er hier doch seinen Meister, denn der Unbekannte bearbeitete den Kopf seines Feindes mit einem Hagel von Faustschlagen, die aber ganz abwichen von dem gewohnlichen Komment unterm Volke, sich vielmehr des beruhmten Londoner Boxers Jack Turner wurdig erwiesen und den Schuri auf zweifache Weise betaubten, da? er zuletzt wie ein vom Metzger getroffener Stier auf die Erde schlug und zwischen den Zahnen murmelte: »Ich bin kaput! Hast mich richtig kaput gemacht, wie ichs mit dir wollte!«

»La?t er ab, dann la?t auch Ihr ihm Ruh!« rief das Madchen von der Schwelle her, auf die sie sich wahrend des Ringkampfes der beiden Manner gewagt hatte; dann sagte sie mit ma?losem Staunen: »Aber wer seid Ihr denn? Au?er dem »Meister Bakel« kann den Schuri doch keiner meistern. Aber Ihr sollt bedankt sein, Herr, denn wenn Ihr mir nicht beigesprungen waret, hatt er mich kalt gemacht, der Rasende!«

Statt dem Madchen Antwort zu geben, horte der Unbekannte aufmerksam auf ihre Stimme. Einen so lieblichen, frischen Klang hatte er noch nie vernommen. Er versuchte, ihr ins Gesicht zu sehen, aber dazu war es zu finster und der Laternenschein zu matt. Ein Paar Minuten lag der Bandit da, ohne ein Glied zu ruhren; dann bewegte er erst die Beine, dann die Hande; endlich gelang es ihm, sich in die Hohe zu richten ... Die Schalldirne fluchtete wieder nach dem Hausflur und zog ihren Beschutzer am Arme hinter sich her ... »Vorgesehen!« flusterte sie; »er konnte den Stiel leicht umdrehen.« – »Keine Bange, Kindchen, keine Bange!« erwiderte der Unbekannte; »falls er mit der ersten Tracht nicht genug hatte, steht ihm gern eine derbere zur Verfugung.«

Der Bandit horte die Worte ... »Hast recht,« sagte er, »fur heute Hab ich satt; aber verreden mag ichs nicht, da? wir noch einmal aneinander geraten.« – »He? Verlangts dich wirklich nach frischen Sengen?« rief der Unbekannte in drohendem Tone, »ich sollte meinen, da? ich ehrlich genug an die Arbeit gegangen ware?« – »Na, das mu? dir der Neid lassen, Kamerad,« sagte der Bandit, aber in murrischem Tone, »hast deine Sache gut gemacht und durchaus ehrlich angefangen, aber...« – »Aber... was?« versetzte der Unbekannte, einen Schritt naher auf den Banditen zutretend. – »Aber,« sagte dieser, ich hab meinen Meister gefunden, und – ob fruher oder spater – du findest den deinigen auch einmal, wenn es dir auch furs erste, seit du den Schuri untergekriegt, in unserm Alt-Paris nicht fehlen kann. Alle Dirnen werden dir zu Fu?en liegen, und kein Kaschemmenvater wird riskieren, dir einen Pump zu weigern. Aber wer bist du? Du sprichst jenisch[Rotwelsch (Gaunersprache)], als warst du unter Jenischleuten aufgewachsen?« – »Na komm, trinken wir ein paar Stampferle mitsammen,« sagte der Unbekannte, »bekannt werden wir bald miteinander sein.« – »So la? ichs mir gefallen«, erwiderte der andere, »mit den Fausten verstehst du ja zu arbeiten. Schockschwerenot, hast du mir den Schadel traktiert! Das ging wie bei, Hammer und Ambos. Ein ganz neues Manover! Darin mu?t du mir Stunde geben.« – »Ei! im Moment, sofern es dir recht ist.« – »Aber blo? nicht wieder auf meinem Schadel als Ambo?. Mir funkelts ja noch jetzt vor den Augen. Sag mal, kennst du den Rotarm, aus dessen Hause du tratest?« – »Rotarm?« wiederholte der Unbekannte, durch die Frage verblufft, »was willst du mit Rotarm? Verstehe dich nicht. Wohnt Rotarm hier?« – »Ja, solo. Hat seine Grunde dazu, von Nachbarn und guten Freunden Abstand zu nehmen,« erwiderte der Bandit mit seltsamem Lacheln. – »Um so besser fur ihn,« sagte der Unbekannte, der keine Lust zur Weiterfuhrung der Unterhaltung zu haben schien, »kenne weder einen Rot- noch einen Schwarzarm. Bin, weils regnete, blo? auf einen Moment hier

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