Kreatur machen musse, um ihr Lust zur Arbeit zu machen. Sie zerrte mich hinter sich her und eine schmale Stiege hinauf in eine elende Bodenkammer. Dort trat sie zu einem Regale und nahm eine Zange aus einem Fache, womit sie mir – einen Zahn ausrei?en wollte, um mich zu qualen und mich ha?lich zu machen.« –
Die beiden Manner schrieen so ergrimmt auf, da? die anderen Gaste sich verwundert nach ihnen umdrehten... »Und hat sie dir den Zahn wirklich ausgerissen?« fragte Rudolf. – »Freilich,« sagte das Madchen, »und hat dabei meinen Kopf zwischen ihre Knie genommen und mich festgehalten wie in einem Schraubstocke. Halb mit der Zunge, halb mit ihren Krallen von Fingern hat sie ihn ausgerissen und mir dann, um mich recht zu erschrecken, zugeschrieen, sie wolle mir nun, wenn ich weiterhin so faul bliebe, taglich einen weiteren Zahn ausrei?en, und wenn ich keinen mehr im Munde hatte, mich in die Seine schmei?en, wo sich die Fische an mir laben sollten.«
Was Rudolf sympathisch beruhrte, war, da? aus dem Munde des Madchens kein einziges Wort des Hasses gegen das alte Weib fiel, so Schweres sie auch von ihrer Grausamkeit erduldet hatte.
»Am andern Tage,« erzahlte das Madchen weiter, »ging ich nicht auf die Wurmersuche nach Montfaucon, sondern fluchtete nach dem Pantheon, und bin den ganzen Tag gelaufen, blo? um recht weit weg von der bosen Frau zu kommen. Ich furchtete mich zu sehr vor ihr. Die Nacht habe ich unter einem Holzhaufen auf einem Statteplatze kampiert. Gehungert hats mich schrecklich, ich habe Holzrinde dagegen gekaut, und bin endlich daruber eingeschlafen. Als es Tag wurde und Leute kamen, bin ich tiefer hinein in den Holzsto? gekrochen, wo es ganz hubsch warm war, fast wie in einem Keller. Am andern Tage – ich wagte mich nicht hervor – habe ich wieder Birkenrinde gekaut und wollte wieder einschlafen, als ich Hundegebell vernahm. Ich wurde munter und lauschte. Das Gebell kam immer naher. Dann horte ich eine Mannerstimme. »Es mu? doch jemand sich auf dem Hofe versteckt haben. Sonst wurde doch mein Hund nicht bellen.« – »Sicher doch Diebe! Wer sonst?« sagte eine andere Stimme. Dann riefen beide Stimmen: »Such, such!« und da ich furchtete, von dem Hunde gebissen zu werden, fing ich laut zu schreien an. »Hore doch,« sagte die eine Stimme wieder, »das klingt doch ganz, als wenn ein Kind schriee!«
Und nun horte ich, wie der Hund zuruckgerufen wurde. Dann sah ich Laternenschein. Ich kroch aus dem Holzsto?e heraus. Ein dicker Mann mit einem Jungen stand vor mir. »Was willst du auf meinem Hofe, Spitzbubin?« fragte er mich. – Ich erzahlte ihm, wie schlecht es mir gegangen; er aber rief: »Papperlapap! Ich lasse mir nichts weismachen. Du willst mich bemausen!« Dann befahl er dem Jungen, auf die Polizei zu gehen, besann sich aber und sagte, er wolle mich gleich lieber selbst hinschaffen. Dort sagte ich, da? ich weder Heimat noch Eltern hatte. Ich wurde in ein Besserungshaus gebracht, wegen Vagabondierens, und war den Richtern aus tiefstem Herzen dafur dankbar, denn im Gefangnisse bekam ich zu essen und keine Prugel, lernte auch nahen, war aber faul und sang lieber, statt zu arbeiten.«
»Weil du eben eine geborene Nachtigall bist,« erwiderte Rudolf lachelnd. – »O, Sie sind recht artig gegen mich, Herr Rudolf,« sagte das Madchen, »und seitdem hei?e ich nun die Schalldirne, statt Balg, wie mich die alte Hexe immer nannte. Mit meinem sechzehnten Jahre wurde ich aus der Besserungsanstalt entlassen. An der Tur traf ich die Wirtin mit ein paar andern alten Frauen, die fruher schon in der Besserungsanstalt gewesen waren und mit den Madchen, die mit mir dort waren, auf recht gutem Fu?e standen. Sie sagte mir, sie hatte gute Arbeit fur mich, wenn ich zu ihr ziehen wollte. Ich dachte aber, du kannst ja nahen, bist jung und willst auch das Leben ein bi?chen genie?en. In der Besserungsanstalt hatte ich doch soviel gearbeitet, da? ich beim Austritt bare 300 Francs ausgezahlt bekam, und das kam mir vor wie ein Vermogen. Aber das Geld war bald zu Ende. Ich hatte mir ein Stubchen gemietet. Ich bin eine gro?e Blumenfreundin und hatte mir mehrere Stockchen gekauft, brauchte auch ein besseres Kleid und einen Schal und bin ein paarmal ins Boulogner Waldchen hinaus auf einem Esel geritten. Als ich noch etwa funfzig Francs ubrig hatte, versuchte ich es mit Naharbeit; aber uberall wies man mir die Tur. Drei Tage darauf begegnete ich zufallig wieder der Wirtin und einer alten Frau. Sie hatten mich wohl, seit ich aus der Besserungsanstalt gegangen war, nicht aus den Augen gelassen, ich hatte es wahrscheinlich nur nicht bemerkt. Jetzt wu?te ich nicht, wovon ich mein Leben fristen sollte, und so ging ich mit den Weibern mit. Ich bekam nun Schnaps von ihnen zu trinken, und bin so geworden, was ich jetzt bin.«
»Ich verstehe,« sagte der Bandit, »und kenne dich nun.« – »Dir scheint es gar nicht recht zu sein, da? du uns deinen Lebenslauf erzahlt hast?« fragte Rudolf. – »Ich habs zum ersten Male in meinem Leben getan,« sagte die Sangerin, »und ein Ruckblick in meine Vergangenheit mu? mich ja trub stimmen. Ach, wie schon mag es sein, als ehrlicher Mensch dazustehen.« – »Ehrlich? ehrlich?« rief Schuri, »dann spiele die Posse, versuchs, und du wirst sehen, wie weit du damit kommst.« – »Ehrlich?« sagte das Madchen, »aber wie soll ich es sein konnen? Was ich auf dem Leibe trage, gehort meiner Wirtin. Wohnung und Essen bin ich ihr schuldig. Weg von hier kann ich nicht, sie lie?e mich auf der Stelle als Diebin festnehmen. So lange ich mich nicht auslosen kann, gehore ich ihr mit Leib und Seele.« – Ein Schauder uberrieselte sie, als sie diese Worte sprach. Dann wandte sie sich zum Schuri und bat um einen Schluck zu trinken ... »Nein, keinen Wein,« sagte sie, als er ihr das Glas hinhielt, »Schnaps, Schnaps, den kann ich besser vertragen, wenigstens betaubt er schnell.«
Viertes Kapitel.
Schuris Geschichte.
Der vor kurzem eingetretene Gast hielt noch immer die beiden Manner mit dem polizeiwidrigen Aussehen im Auge, besonders den, der immer die linke Hand zu verstecken suchte. Beide hatten wahrend der Erzahlung der Sangerin mehrmals leise miteinander gesprochen und angstlich nach der Tur geguckt. Der mit der griechischen Mutze sagte zu seinem Kameraden: »Bakel kommt nicht. Wenn ihn der Kamerad blo? nicht erschlagen hat!« – »Du meinst, um sich seinen Anteil mit anzueignen? Das ware nun freilich sehr dumm fur uns, denn wir hatten die Gelegenheit dann umsonst ausbaldowert.«
Der Neueingetretene sa? zu weit von ihnen, um die Worte verstanden zu haben; er hatte aber wiederholt in ein Papier geguckt, das er aus seiner Mutze langte, aber gleich wieder darin versteckte. Dann stand er vom Tische auf und verschwand, ohne da? es jemand aufzufallen schien. Gerade als er hinausging, war Rudolfs Blick nach der Tur hin geglitten. Auf der Stra?e sah er den Kohlentrager mit seinem ru?geschwarzten Gesicht stehen und hatte Zeit genug, ihm durch eine ungeduldige Gebarde zu verstehen zu geben, da? ihm diese Aufsicht im hochsten Grade zuwider sei. Der Kohlentrager lie? sich aber hierdurch nicht beirren, sondern verhielt sich nach wie vor in der Schenke. Die Sangerin fand in dem Glase Schnaps, das sie getrunken, ihre Munterkeit nicht wieder, schien vielmehr in die finstersten Gedanken Zu versinken. Ein paarmal hatte sie, als sie Rudolfs festem Blicke begegnete, die Augen niedergeschlagen, ohne sich von dem Eindruck, den der Unbekannte auf sie machte, Rechenschaft geben zu konnen. Seine Gegenwart bedruckte sie sehr. Sie warf sich vor, dem Manne, der sie aus der Gewalt des Banditen befreit hatte, geringe Dankbarkeit entgegenzubringen. Es tat ihr fast leid, vor ihm die Beichte ihres Lebens abgelegt zu haben. Schuri dagegen war in der besten Laune, hochst mitteilsam und gesprachig. Vor Rudolfs manierlichem Benehmen war sein Groll, in ihm den Meister gefunden zu haben, schnell gewichen. Sein Glas austrinkend, hub er an:
»Sangerin, du hast wenigstens noch die alte Eule gehabt, wenn sie auch wert ist, da? der Teufel sie bei lebendigem Leibe holte. Bis zu der Zeit, da du als Landstreicherin eingesperrt wurdest, hast du wenigstens ein Dach uberm Haupt gehabt; ich aber kann mich nicht besinnen, bis zu meinem neunzehnten Jahre, in welchem ich Soldat wurde, in einem Bette geschlafen zu haben.« – »So? Du hast gedient. Schuri?« fragte Rudolf. – »Drei Jahre,« versetzte Schuri, »davon aber spater! Die Steine am Louvre, die Gipsofen in Clichy und die Steinbruche in Montrouge waren die Gasthauser meiner Jugend. Mir schwebt duster vor, als hatte ich in meiner Kindheit mit einem alten Lumpensammler das Land durchpilgert und hatte mit dessen Kratzeisen manchen Hieb uber den Buckel bekommen. Dann bin ich in Montfaucon bei Abdeckern gewesen und habe die Pferde mit abgestochen. Da mag ich wohl zehn bis zwolf Jahre alt gewesen sein. Es hat mir manchmal das Herz zerschnitten, wenn ich wieder so ein armes Tier in den letzten Zuckungen liegen gesehen habe. Nach vier Wochen hatte ich mich aber daran gewohnt, und auf der Abdeckerei hatte keiner so scharfe Messer wie ich. Aber was bekam ich fur meine Muhe? Von einem an irgend einer Krankheit krepierten Tier einen Fetzen Fleisch, denn die abgestochenen wurden an die Garkoche in der Gegend verkauft, die es ihren Gasten bald als Hirsch, bald als Rindfleisch vorsetzten, je nachdem. Aber ich war trotzdem der glucklichste Mensch, wenn ich mein Stuck Pferdefleisch in Handen hielt, und flink wie ein Fuchs war ich damit bei einem Gipsofen, um es mir mit Erlaubnis der Brenner auf den Kohlen zu braten.«
»Aber wie hei?t du? Welchen Namen fuhrtest du damals?« fragte Rudolf. – »Ich war damals fast wei?er als