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Am 27. Januar um 22.35 Uhr war Malcolm Ainslie schon auf halbem Weg zur au?eren Tur des Morddezernats, als hinter ihm ein Telefon klingelte. Er blieb automatisch stehen und sah sich um. Spater wunschte er sich, er hatte es nicht getan.
Detective Jorge Rodriguez trat rasch an einen unbesetzten Schreibtisch, nahm den Horer ab, meldete sich, horte kurz zu und rief: »Fur Sie, Sergeant!«
Ainslie ging an seinen Schreibtisch zuruck, um diesen Anruf entgegenzunehmen. Seine Bewegungen waren ruhig und flussig. Mit einundvierzig war Detective-Sergeant Ainslie muskulos, etwas uber einsachtzig gro? und sah nicht viel anders aus als in der High-School, wo er Fullback in der Footballmannschaft gewesen war. Nur ein leichter Bauchansatz zeugte von haufigen Mahlzeiten in Schnellrestaurants: die Standardverpflegung fur viele Kriminalbeamte, die praktisch im Gehen essen mu?ten.
Heute abend war es in den Buros der Mordkommission im vierten Stock des Hauptgebaudes des Miami Police Departments ruhig. Insgesamt arbeiteten hier sieben Ermittlerteams mit jeweils einem Sergeant als Leiter und drei Detectives. Aber alle Mitglieder des Teams, das diese Nacht Dienst hatte, waren unterwegs, um wegen der drei Morde zu ermitteln, die in den letzten Stunden gemeldet worden waren.
Offiziell dauerte eine Schicht in der Mordkommission zehn Stunden; in der Praxis war sie wegen laufender Ermittlungen oft langer. Auch Malcolm Ainslie und Jorge Rodriguez, die eigentlich seit Stunden dienstfrei hatten, waren bis vor wenigen Augenblicken noch beschaftigt gewesen.
Ainslie vermutete, da? seine Frau Karen am Telefon war. Sie wurde wissen wollen, wann er heimkam, damit ihr lange geplanter Urlaub endlich beginnen konnte. Nun, ausnahmsweise wurde er antworten konnen, er sei mit der Arbeit fertig, habe alles erledigt und sei nach Hause unterwegs. Morgen fruh wurden Karen, Jason und er mit der ersten Maschine der Air Canada von Miami nach Toronto fliegen.
Ainslie fuhlte sich urlaubsreif. Obwohl er korperlich fit war, fehlte ihm die unerschopfliche Energie, die er besessen hatte, als er vor einem Jahrzehnt zur Polizei gegangen war. Gestern war ihm beim Rasieren aufgefallen, da? sein schutteres braunes Haar rasch grauer wurde. Auch ein paar neue Falten hatte er entdeckt; daran war bestimmt sein dienstlicher Stre? schuld. Und sein Blick - wachsam und forschend - verriet Skepsis und Desillusionierung, nachdem er uber Jahre hinweg die Abgrunde der
In diesem Augenblick war Karen hinter ihm aufgetaucht, hatte wie so oft seine Gedanken erraten, war ihm mit funf Fingern durchs Haar gefahren und hatte ihm versichert: »Mir gefallt noch immer, was ich sehe.«
Er hatte Karen an sich gezogen und umarmt. Sie reichte ihm nur bis zu den Schultern, und er geno? den Duft ihres seidigweichen kastanienbraunen Haars, wahrend dieser Korperkontakt sie beide noch immer erregte. Er legte einen Finger unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht hoch, um sie zu kussen.
»Ich bin eine Kleinpackung«, hatte Karen ihm bald nach ihrer Verlobung erklart. »Aber sie enthalt viel Liebe - und alles andere, was du brauchen wirst.« Und so war es gewesen.
Ainslie lachelte, weil er Karens Stimme zu horen erwartete, und nickte Jorge zu, er konne das Gesprach durchstellen.
Eine tiefe, volltonende Stimme verkundete: »Hier ist Pater Ray Uxbridge. Ich bin der Anstaltsgeistliche im Florida State Prison.«
»Ja, ich wei?.« Ainslie war Uxbridge mehrmals begegnet und mochte ihn nicht. Trotzdem fragte er hoflich: »Was kann ich fur Sie tun, Pater?«
»Einer unserer Haftlinge soll morgen fruh um sieben hingerichtet werden. Sein Name ist Elroy Doil. Er behauptet, Sie zu kennen.«
»Naturlich kennt er mich«, bestatigte Ainslie knapp. »Ich habe mitgeholfen, Animal nach Raiford zu bringen.«
Die Telefonstimme klang steifer. »Der Haftling, von dem wir sprechen, ist ein menschliches Wesen, Sergeant. Ich ziehe es vor, diesen Namen nicht zu verwenden.«
Diese Reaktion erinnerte Ainslie daran, warum er Uxbridge nicht mochte. Der Mann war ein wichtigtuerischer Esel.
»Jeder nennt ihn Animal«, antwortete Ainslie. »Er verwendet diesen Namen sogar selbst. Au?erdem haben seine scheu?lichen Morde bewiesen, da? er schlimmer als ein Tier ist.«
Tatsachlich hatte Dr. Sandra Sanchez, eine Gerichtsmedizinerin aus Dade County, beim Anblick der beiden ersten verstummelten Mordopfer Elroy Doils ausgerufen: »Barmherziger Gott! Ich habe schon schreckliche Dinge gesehen, aber hier ist eine Bestie, ein menschliches Tier am Werk gewesen!«
Ihr Ausruf war oft wiederholt worden.
Am Telefon sprach Uxbridge weiter. »Mr. Doil hat mich gebeten, Ihnen mitzuteilen, da? er Sie sprechen mochte, bevor er stirbt.« Eine Pause, in der Ainslie sich vorstellte, wie der Geistliche auf die Uhr sah. »Das ist in etwas uber acht Stunden.«
»Hat Doil gesagt, warum er mich sprechen will?«
»Er ist sich bewu?t, da? Sie mehr als jeder andere zu seiner Verhaftung und Verurteilung beigetragen