Gefahr abzuwenden, ohne selbst an diese Mittel recht zu glauben; wahrend er also seine eigenen Consequenzen zu ahnen beginnt: haben grosse allgemein angelegte Naturen, mit einer unglaublichen Besonnenheit, das Rustzeug der Wissenschaft selbst zu benutzen gewusst, um die Grenzen und die Bedingtheit des Erkennens uberhaupt darzulegen und damit den Anspruch der Wissenschaft auf universale Geltung und universale Zwecke entscheidend zu leugnen: bei welchem Nachweise zum ersten Male jene Wahnvorstellung als solche erkannt wurde, welche, an der Hand der Causalitat, sich anmaasst, das innerste Wesen der Dinge ergrunden zu konnen. Der ungeheuren Tapferkeit und Weisheit Kant' s und Schopenhauer's ist der schwerste Sieg gelungen, der Sieg uber den im Wesen der Logik verborgen liegenden Optimismus, der wiederum der Untergrund unserer Cultur ist. Wenn dieser an die Erkennbarkeit und Ergrundlichkeit aller Weltrathsel, gestutzt auf die ihm unbedenklichen aeternae veritates, geglaubt und Raum, Zeit und Causalitat als ganzlich unbedingte Gesetze von allgemeinster Gultigkeit behandelt hatte, offenbarte Kant, wie diese eigentlich nur dazu dienten, die blosse Erscheinung, das Werk der Maja, zur einzigen und hochsten Realitat zu erheben und sie an die Stelle des innersten und wahren Wesens der Dinge zu setzen und die wirkliche Erkenntniss von diesem dadurch unmoglich zu machen, d. h., nach einem Schopenhauer'schen Ausspruche, den Traumer noch fester einzuschlafern (W. a. W. u. V. I, p. 498). Mit dieser Erkenntniss ist eine Cultur eingeleitet, welche ich als eine tragische zu bezeichnen wage: deren wichtigstes Merkmal ist, dass an die Stelle der Wissenschaft als hochstes Ziel die Weisheit geruckt wird, die sich, ungetauscht durch die verfuhrerischen Ablenkungen der Wissenschaften, mit unbewegtem Blicke dem Gesammtbilde der Welt zuwendet und in diesem das ewige Leiden mit sympathischer Liebesempfindung als das eigne Leiden zu ergreifen sucht. Denken wir uns eine heranwachsende Generation mit dieser Unerschrockenheit des Blicks, mit diesem heroischen Zug ins Ungeheure, denken wir uns den kuhnen Schritt dieser Drachentodter, die stolze Verwegenheit, mit der sie allen den Schwachlichkeitsdoctrinen jenes Optimismus den Rucken kehren, um im Ganzen und Vollen» resolut zu leben«: sollte es nicht nothig sein, dass der tragische Mensch dieser Cultur, bei seiner Selbsterziehung zum Ernst und zum Schrecken, eine neue Kunst, die Kunst des metaphysischen Trostes, die Tragodie als die ihm zugehorige Helena begehren und mit Faust ausrufen muss:
Nachdem aber die sokratische Cultur von zwei Seiten aus erschuttert ist und das Scepter ihrer Unfehlbarkeit nur noch mit zitternden Handen zu halten vermag, einmal aus Furcht vor ihren eigenen Consequenzen, die sie nachgerade zu ahnen beginnt, sodann weil sie selbst von der ewigen Gultigkeit ihres Fundamentes nicht mehr mit dem fruheren naiven Zutrauen uberzeugt ist: so ist es ein trauriges Schauspiel, wie sich der Tanz ihres Denkens sehnsuchtig immer auf neue Gestalten sturzt, um sie zu umarmen, und sie dann plotzlich wieder, wie Mephistopheles die verfuhrerischen Lamien, schaudernd fahren lasst. Das ist ja das Merkmal jenes» Bruches«, von dem Jedermann als von dem Urleiden der modernen Cultur zu reden pflegt, dass der theoretische Mensch vor seinen Consequenzen erschrickt und unbefriedigt es nicht mehr wagt sich dem furchtbaren Eisstrome des Daseins anzuvertrauen: angstlich lauft er am Ufer auf und ab. Er will nichts mehr ganz haben, ganz auch mit aller der naturlichen Grausamkeit der Dinge. Soweit hat ihn das optimistische Betrachten verzartelt. Dazu fuhlt er, wie eine Cultur, die auf dem Princip der Wissenschaft aufgebaut ist, zu Grunde gehen muss, wenn sie anfangt, unlogisch zu werden d. h. vor ihren Consequenzen zuruck zu fliehen. Unsere Kunst offenbart diese allgemeine Noth: umsonst dass man sich an alle grossen productiven Perioden und Naturen imitatorisch anlehnt, umsonst dass man die ganze» Weltlitteratur «zum Troste des modernen Menschen um ihn versammelt und ihn mitten unter die Kunststile und Kunstler aller Zeiten hinstellt, damit er ihnen, wie Adam den Thieren, einen Namen gebe: er bleibt doch der ewig Hungernde, der» Kritiker «ohne Lust und Kraft, der alexandrinische Mensch, der im Grunde Bibliothekar und Corrector ist und an Bucherstaub und Druckfehlern elend erblindet.
Man kann den innersten Gehalt dieser sokratischen Cultur nicht scharfer bezeichnen, als wenn man sie die Cultur der Oper nennt: denn auf diesem Gebiete hat sich diese Cultur mit eigener Naivetat uber ihr Wollen und Erkennen ausgesprochen, zu unserer Verwunderung, wenn wir die Genesis der Oper und die Thatsachen der Opernentwicklung mit den ewigen Wahrheiten des Apollinischen und des Dionysischen zusammenhalten. Ich erinnere zunachst an die Entstehung des stilo rappresentativo und des Recitativs. Ist es glaublich, dass diese ganzlich verausserlichte, der Andacht unfahige Musik der Oper von einer Zeit mit schwarmerischer Gunst, gleichsam als die Wiedergeburt aller wahren Musik, empfangen und gehegt werden konnte, aus der sich soeben die unaussprechbar erhabene und heilige Musik Palestrina's erhoben hatte? Und wer mochte andrerseits nur die zerstreuungssuchtige Uppigkeit jener Florentiner Kreise und die Eitelkeit ihrer dramatischen Sanger fur die so ungestum sich verbreitende Lust an der Oper verantwortlich machen? Dass in derselben Zeit, ja in demselben Volke neben dem Gewolbebau Palestrinischer Harmonien, an dem das gesammte christliche Mittelalter gebaut hatte, jene Leidenschaft fur eine halbmusikalisch Sprechart erwachte, vermag ich mir nur aus einer im Wesen des Recitativs mitwirkenden ausserkunstlerischen Tendenz zu erklaren.
Dem Zuhorer, der das Wort unter dem Gesange deutlich vernehmen will, entspricht der Sanger dadurch, dass er mehr spricht als singt und dass er den pathetischen Wortausdruck in diesem Halbgesange verscharft: durch diese Verscharfung des Pathos erleichtert er das Verstandniss des Wortes und uberwindet jene ubrig gebliebene Halfte der Musik. Die eigentliche Gefahr, die ihm jetzt droht, ist die, dass er der Musik einmal zur Unzeit das Obergewicht ertheilt, wodurch sofort Pathos der Rede und Deutlichkeit des Wortes zu Grunde gehen musste: wahrend er andrerseits immer den Trieb zu musikalischer Entladung und zu virtuosenhafter Prasentation seiner Stimme fuhlt. Hier kommt ihm der» Dichter «zu Hulfe, der ihm genug Gelegenheiten zu lyrischen Interjectionen, Wort- und Sentenzenwiederholungen u. s. w. zu bieten weiss: an welchen Stellen der Sanger jetzt in dem rein musikalischen Elemente, ohne Rucksicht auf das Wort, ausruhen kann. Dieser Wechsel affectvoll eindringlicher, doch nur halb gesungener Rede und ganz gesungener Interjection, der im Wesen des stilo rappresentativo liegt, dies rasch wechselnde Bemuhen, bald auf den Begriff und die Vorstellung, bald auf den musikalischen Grund des Zuhorers zu wirken, ist etwas so ganzlich Unnaturliches und den Kunsttrieben des Dionysischen und des Apollinischen in gleicher Weise so innerlich Widersprechendes, dass man auf einen Ursprung des Recitativs zu schliessen hat, der ausserhalb aller kunstlerischen Instincte liegt. Das Recitativ ist nach dieser Schilderung zu definiren als die Vermischung des epischen und des lyrischen Vortrags und zwar keinesfalls die innerlich bestandige Mischung, die bei so ganzlich disparaten Dingen nicht erreicht werden konnte, sondern die ausserlichste mosaikartige Conglutination, wie etwas Derartiges im Bereich der Natur und der Erfahrung ganzlich vorbildlos ist. Dies war aber nicht die Meinung jener Erfinder des Recitativs: vielmehr glauben sie selbst und mit ihnen ihr Zeitalter, dass durch jenen stilo rappresentativo das Geheimniss der antiken Musik gelost sei, aus dem sich allein die ungeheure Wirkung eines Orpheus, Amphion, ja auch der griechischen Tragodie erklaren lasse. Der neue Stil galt als die Wiedererweckung der wirkungsvollsten Musik, der altgriechischen: ja man durfte sich, bei der allgemeinen und ganz volksthumlichen Auffassung der homerischen Welt als der Urwelt, dem Traume uberlassen, jetzt wieder in die paradiesischen Anfange der Menschheit hinabgestiegen zu sein, in der nothwendig auch die Musik jene unubertroffne Reinheit, Macht und Unschuld gehabt haben musste, von der die Dichter in ihren Schaferspielen so ruhrend zu erzahlen wussten. Hier sehen wir in das innerlichste Werden dieser recht eigentlich modernen Kunstgattung, der Oper: ein machtiges Bedurfniss erzwingt sich hier eine Kunst, aber ein Bedurfniss unaesthetischer Art: die Sehnsucht zum Idyll, der Glaube an eine urvorzeitliche Existenz des kunstlerischen und guten Menschen. Das Recitativ galt als die wiederentdeckte Sprache jenes Urmenschen; die Oper als das wiederaufgefundene Land jenes idyllisch oder heroisch guten Wesens, das zugleich in allen seinen Handlungen einem naturlichen Kunsttriebe folgt, das bei allem, was es zu sagen hat, wenigstens etwas singt, um, bei der leisesten Gefuhlserregung, sofort mit voller Stimme zu singen. Es ist fur uns jetzt gleichgultig, dass mit diesem neugeschaffnen Bilde des paradiesischen Kunstlers die damaligen Humanisten gegen die alte kirchliche Vorstellung vom an sich verderbten und verlornen Menschen ankampften: so dass die Oper als das Oppositionsdogma vom guten Menschen zu verstehen ist, mit dem aber zugleich ein Trostmittel gegen jenen Pessimismus gefunden war, zu dem gerade die Ernstgesinnten jener Zeit, bei der grauenhaften Unsicherheit aller Zustande, am starksten gereizt waren. Genug, wenn wir erkannt haben, wie der eigentliche Zauber und damit die Genesis dieser neuen Kunstform in der Befriedigung eines ganzlich unaesthetischen Bedurfnisses liegt, in der optimistischen Verherrlichung des Menschen an sich, in der Auffassung des Urmenschen als des von Natur guten und