Phanomen des Lyrikers habe ich dargestellt, wie die Musik im Lyriker darnach ringt, in apollinischen Bildern uber ihr Wesen sich kund zu geben: denken wir uns jetzt, dass die Musik in ihrer hochsten Steigerung auch zu einer hochsten Verbildlichung zu kommen suchen muss, so mussen wir fur moglich halten, dass sie auch den symbolischen Ausdruck fur ihre eigentliche dionysische Weisheit zu finden wisse; und wo anders werden wir diesen Ausdruck zu suchen haben, wenn nicht in der Tragodie und uberhaupt im Begriff des Tragischen?
Aus dem Wesen der Kunst, wie sie gemeinhin nach der einzigen Kategorie des Scheines und der Schonheit begriffen wird, ist das Tragische in ehrlicher Weise gar nicht abzuleiten; erst aus dem Geiste der Musik heraus verstehen wir eine Freude an der Vernichtung des Individuums. Denn an den einzelnen Beispielen einer solchen Vernichtung wird uns nur das ewige Phanomen der dionysischen Kunst deutlich gemacht, die den Willen in seiner Allmacht gleichsam hinter dem principio individuationis, das ewige Leben jenseit aller Erscheinung und trotz aller Vernichtung zum Ausdruck bringt. Die metaphysische Freude am Tragischen ist eine Uebersetzung der instinctiv unbewussten dionysischen Weisheit in die Sprache des Bildes: der Held, die hochste Willenserscheinung, wird zu unserer Lust verneint, weil er doch nur Erscheinung ist, und das ewige Leben des Willens durch seine Vernichtung nicht beruhrt wird.»Wir glauben an das ewige Leben«, so ruft die Tragodie; wahrend die Musik die unmittelbare Idee dieses Lebens ist. Ein ganz verschiednes Ziel hat die Kunst des Plastikers: hier uberwindet Apollo das Leiden des Individuums durch die leuchtende Verherrlichung der Ewigkeit der Erscheinung, hier siegt die Schonheit uber das dem Leben inharirende Leiden, der Schmerz wird in einem gewissen Sinne aus den Zugen der Natur hinweggelogen. In der dionysischen Kunst und in deren tragischer Symbolik redet uns dieselbe Natur mit ihrer wahren, unverstellten Stimme an:»Seid wie ich bin! Unter dem unaufhorlichen Wechsel der Erscheinungen die ewig schopferische, ewig zum Dasein zwingende, an diesem Erscheinungswechsel sich ewig befriedigende Urmutter!»
Auch die dionysische Kunst will uns von der ewigen Lust des Daseins uberzeugen: nur sollen wir diese Lust nicht in den Erscheinungen, sondern hinter den Erscheinungen suchen. Wir sollen erkennen, wie alles, was entsteht, zum leidvollen Untergange bereit sein muss, wir werden gezwungen in die Schrecken der Individualexistenz hineinzublicken — und sollen doch nicht erstarren: ein metaphysischer Trost reisst uns momentan aus dem Getriebe der Wandelgestalten heraus. Wir sind wirklich in kurzen Augenblicken das Urwesen selbst und fuhlen dessen unbandige Daseinsgier und Daseinslust; der Kampf, die Qual, die Vernichtung der Erscheinungen dunkt uns jetzt wie nothwendig, bei dem Uebermaass von unzahligen, sich in's Leben drangenden und stossenden Daseinsformen, bei der uberschwanglichen Fruchtbarkeit des Weltwillens; wir werden von dem wuthenden Stachel dieser Qualen in demselben Augenblicke durchbohrt, wo wir gleichsam mit der unermesslichen Urlust am Dasein eins geworden sind und wo wir die Unzerstorbarkeit und Ewigkeit dieser Lust in dionysischer Entzuckung ahnen. Trotz Furcht und Mitleid sind wir die glucklich-Lebendigen, nicht als Individuen, sondern als das eine Lebendige, mit dessen Zeugungslust wir verschmolzen sind.
Die Entstehungsgeschichte der griechischen Tragodie sagt uns jetzt mit lichtvoller Bestimmtheit, wie das tragische Kunstwerk der Griechen wirklich aus dem Geiste der Musik herausgeboren ist: durch welchen Gedanken wir zum ersten Male dem ursprunglichen und so erstaunlichen Sinne des Chors gerecht geworden zu sein glauben. Zugleich aber mussen wir zugeben, dass die vorhin aufgestellte Bedeutung des tragischen Mythus den griechischen Dichtern, geschweige den griechischen Philosophen, niemals in begrifflicher Deutlichkeit durchsichtig geworden ist; ihre Helden sprechen gewissermaassen oberflachlicher als sie handeln, der Mythus findet in dem gesprochnen Wort durchaus nicht seine adaquate Objectivation. Das Gefuge der Scenen und die anschaulichen Bilder offenbaren eine tiefere Weisheit, als der Dichter selbst in Worte und Begriffe fassen kann: wie das Gleiche auch bei Shakespeare beobachtet wird, dessen Hamlet z. B. in einem ahnlichen Sinne oberflachlicher redet als er handelt, so dass nicht aus den Worten heraus, sondern aus dem vertieften Anschauen und Ueberschauen des Ganzen jene fruher erwahnte Hamletlehre zu entnehmen ist. In Betreff der griechischen Tragodie, die uns freilich nur als Wortdrama entgegentritt, habe ich sogar angedeutet, dass jene Incongruenz zwischen Mythus und Wort uns leicht verfuhren konnte, sie fur flacher und bedeutungsloser zu halten, als sie ist, und demnach auch eine oberflachlichere Wirkung fur sie vorauszusetzen, als sie nach den Zeugnissen der Alten gehabt haben muss: denn wie leicht vergisst man, dass, was dem Wortdichter nicht gelungen war, die hochste Vergeistigung und Idealitat des Mythus zu erreichen, ihm als schopferischem Musiker in jedem Augenblick gelingen konnte! Wir freilich mussen uns die Uebermacht der musikalischen Wirkung fast auf gelehrtem Wege reconstruiren, um etwas von jenem unvergleichlichen Troste zu empfangen, der der wahren Tragodie zu eigen sein muss. Selbst diese musikalische Uebermacht aber wurden wir nur, wenn wir Griechen waren, als solche empfunden haben: wahrend wir in der ganzen Entfaltung der griechischen Musik — der uns bekannten und vertrauten, so unendlich reicheren gegenuber — nur das in schuchternem Kraftgefuhle angestimmte Junglingslied des musikalischen Genius zu horen glauben. Die Griechen sind, wie die agyptischen Priester sagen, die ewigen Kinder, und auch in der tragischen Kunst nur die Kinder, welche nicht wissen, welches erhabene Spielzeug unter ihren Handen entstanden ist und — zertrummert wird.
Jenes Ringen des Geistes der Musik nach bildlicher und mythischer Offenbarung, welches von den Anfangen der Lyrik bis zur attischen Tragodie sich steigert, bricht plotzlich, nach eben erst errungener uppiger Entfaltung, ab und verschwindet gleichsam von der Oberflache der hellenischen Kunst: wahrend die aus diesem Ringen geborne dionysische Weltbetrachtung in den Mysterien weiterlebt und in den wunderbarsten Metamorphosen und Entartungen nicht aufhort, ernstere Naturen an sich zu ziehen Ob sie nicht aus ihrer mystischen Tiefe einst wieder als Kunst emporsteigen wird?
Hier beschaftigt uns die Frage, ob die Macht, an deren Entgegenwirken die Tragodie sich brach, fur alle Zeit genug Starke hat, um das kunstlerische Wiedererwachen der Tragodie und der tragischen Weltbetrachtung zu verhindern. Wenn die alte Tragodie durch den dialektischen Trieb zum Wissen und zum Optimismus der Wissenschaft aus ihrem Gleise gedrangt wurde, so ware aus dieser Thatsache auf einen ewigen Kampf zwischen der theoretischen und der tragischen Weltbetrachtung zu schliessen; und erst nachdem der Geist der Wissenschaft bis an seine Grenze gefuhrt ist, und sein Anspruch auf universale Gultigkeit durch den Nachweis jener Grenzen vernichtet ist durfte auf eine Wiedergeburt der Tragodie zu hoffen sein: fur welche Culturform wir das Symbol des musiktreibenden Sokrates, in dem fruher erorterten Sinne, hinzustellen hatten. Bei dieser Gegenuberstellung verstehe ich unter dem Geiste der Wissenschaft jenen zuerst in der Person des Sokrates an's Licht gekommenen Glauben an die Ergrundlichkeit der Natur und an die Universalheilkraft des Wissens.
Wer sich an die nachsten Folgen dieses rastlos vorwartsdringenden Geistes der Wissenschaft erinnert, wird sich sofort vergegenwartigen, wie durch ihn der Mythus vernichtet wurde und wie durch diese Vernichtung die Poesie aus ihrem naturlichen idealen Boden, als eine nunmehr heimathlose, verdrangt war. Haben wir mit Recht der Musik die Kraft zugesprochen, den Mythus wieder aus sich gebaren zu konnen, so werden wir den Geist der Wissenschaft auch auf der Bahn zu suchen haben, wo er dieser mythenschaffenden Kraft der Musik feindlich entgegentritt. Dies geschieht in der Entfaltung des neueren attischen Dithyrambus, dessen Musik nicht mehr das innere Wesen, den Willen selbst aussprach, sondern nur die Erscheinung ungenugend, in einer durch Begriffe vermittelten Nachahmung wiedergab: von welcher innerlich entarteten Musik sich die wahrhaft musikalischen Naturen mit demselben Widerwillen abwandten, den sie vor der kunstmorderischen Tendenz des Sokrates hatten. Der sicher zugreifende Instinct des Aristophanes hat gewiss das Rechte erfasst, wenn er Sokrates selbst, die Tragodie des Euripides und die Musik der neueren Dithyrambiker in dem gleichen Gefuhle des Hasses zusammenfasste und in allen drei Phanomenen die Merkmale einer degenerirten Cultur witterte. Durch jenen neueren Dithyrambus ist die Musik in frevelhafter Weise zum imitatorischen Conterfei der Erscheinung z. B. einer Schlacht, eines Seesturmes gemacht und damit allerdings ihrer mythenschaffenden Kraft ganzlich beraubt worden. Denn wenn sie unsere Ergetzung nur dadurch zu erregen sucht, dass sie uns zwingt, ausserliche Analogien zwischen einem Vorgange des Lebens und der Natur und gewissen rhythmischen Figuren und charakteristischen Klangen der Musik zu suchen, wenn sich unser Verstand an der Erkenntniss dieser Analogien befriedigen soll, so sind wir in eine Stimmung herabgezogen, in der eine Empfangniss des Mythischen unmoglich ist; denn der Mythus will als ein einziges Exempel einer in's Unendliche hinein starrenden Allgemeinheit und Wahrheit anschaulich empfunden werden. Die wahrhaft dionysische Musik tritt uns als ein solcher allgemeiner Spiegel des Weltwillens gegenuber: jenes anschauliche Ereigniss, das sich in diesem Spiegel bricht, erweitert sich sofort fur unser Gefuhl zum Abbilde einer ewigen Wahrheit. Umgekehrt wird ein solches anschauliches Ereigniss durch die Tonmalerei des neueren Dithyrambus sofort jedes mythischen Charakters entkleidet; jetzt ist die Musik zum durftigen Abbilde der Erscheinung geworden und darum unendlich armer als die Erscheinung selbst: durch welche Armuth sie fur unsere Empfindung die Erscheinung selbst noch herabzieht, so dass jetzt z. B. eine derartig musikalisch imitirte Schlacht