hasslichen Lastern gekennzeichnet sind, doch die Wurde und Sonderstellung unter den Volkern in Anspruch nehmen, die dem Genius unter der Masse zukommt? Leider war man nicht so glucklich den Schierlingsbecher zu finden, mit dem ein solches Wesen einfach abgethan werden konnte: denn alles Gift, das Neid, Verlaumdung und Ingrimm in sich erzeugten, reichte nicht hin, jene selbstgenugsame Herrlichkeit zu vernichten. Und so schamt und furchtet man sich vor den Griechen; es sei denn, dass Einer die Wahrheit uber alles achte und so sich auch diese Wahrheit einzugestehn wage, dass die Griechen unsere und jegliche Cultur als Wagenlenker in den Handen haben, dass aber fase immer Wagen und Pferde von zu geringem Stoffe und der Glorie ihrer Fuhrer unangemessen sind, die dann es fur einen Scherz erachten, ein solches Gespann in den Abgrund zu jagen: uber den sie selbst, mit dem Sprunge des Achilles, hinwegsetzen.
Um die Wurde einer solchen Fuhrerstellung auch fur Sokrates zu erweisen, genugt es in ihm den Typus einer vor ihm unerhorten Daseinsform zu erkennen, den Typus des theoretischen Menschen, uber dessen Bedeutung und Ziel zur Einsicht zu kommen, unsere nachste Aufgabe ist. Auch der theoretische Mensch hat ein unendliches Genugen am Vorhandenen, wie der Kunstler, und ist wie jener vor der praktischen Ethik des Pessimismus und vor seinen nur im Finsteren leuchtenden Lynkeusaugen, durch jenes Genugen geschutzt. Wenn namlich der Kunstler bei jeder Enthullung der Wahrheit immer nur mit verzuckten Blicken an dem hangen bleibt, was auch jetzt, nach der Enthullung, noch Hulle bleibt, geniesst und befriedigt sich der theoretische Mensch an der abgeworfenen Hulle und hat sein hochstes Lustziel in dem Prozess einer immer glucklichen, durch eigene Kraft gelingenden Enthullung. Es gabe keine Wissenschaft, wenn ihr nur um jene eine nackte Gottin und um nichts Anderes zu thun ware. Denn dann musste es ihren Jungern zu Muthe sein, wie Solchen, die ein Loch gerade durch die Erde graben wollten: von denen ein Jeder einsieht, dass er, bei grosster und lebenslanglicher Anstrengung, nur ein ganz kleines Stuck der ungeheuren Tiefe zu durchgraben im Stande sei, welches vor seinen Augen durch die Arbeit des Nachsten wieder uberschuttet wird, so dass ein Dritter wohl daran zu thun scheint, wenn er auf eigne Faust eine neue Stelle fur seine Bohrversuche wahlt. Wenn jetzt nun Einer zur Ueberzeugung beweist, dass auf diesem directen Wege das Antipodenziel nicht zu erreichen sei, wer wird noch in den alten Tiefen weiterarbeiten wollen, es sei denn, dass er sich nicht inzwischen genugen lasse, edles Gestein zu finden oder Naturgesetze zu entdecken. Darum hat Lessing, der ehrlichste theoretische Mensch, es auszusprechen gewagt, dass ihm mehr am Suchen der Wahrheit als an ihr selbst gelegen sei: womit das Grundgeheimniss der Wissenschaft, zum Erstaunen, ja Aerger der Wissenschaftlichen, aufgedeckt worden ist. Nun steht freilich neben dieser vereinzelten Erkenntniss, als einem Excess der Ehrlichkeit, wenn nicht des Uebermuthes, eine tiefsinnige Wahnvorstellung, welche zuerst in der Person des Sokrates zur Welt kam, jener unerschutterliche Glaube, dass das Denken, an dem Leitfaden der Causalitat, bis in die tiefsten Abgrunde des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigiren im Stande sei. Dieser erhabene metaphysische Wahn ist als Instinct der Wissenschaft beigegeben und fuhrt sie immer und immer wieder zu ihren Grenzen, an denen sie in Kunst umschlagen muss: auf welchees eigentlich, bei diesem Mechanismus, abgesehn ist.
Schauen wir jetzt, mit der Fackel dieses Gedankens, auf Sokrates hin: so erscheint er uns als der Erste, der an der Hand jenes Instinctes der Wissenschaft nicht nur leben, sondern — was bei weitem mehr ist — auch sterben konnte: und deshalb ist das Bild des sterbenden Sokrates als des durch Wissen und Grunde der Todesfurcht enthobenen Menschen das Wappenschild, das uber dem Eingangsthor der Wissenschaft einen Jeden an deren Bestimmung erinnert, namlich das Dasein als begreiflich und damit als gerechtfertigt erscheinen zu machen: wozu freilich wenn die Grunde nicht reichen, schliesslich auch der Mythus dienen muss, den ich sogar als nothwendige Consequenz, ja als Absicht der Wissenschaft soeben bezeichnete.
Wer sich einmal anschaulich macht, wie nach Sokrates, dem Mystagogen der Wissenschaft, eine Philosophenschule nach der anderen, wie Welle auf Welle, sich ablost, wie eine nie geahnte Universalitat der Wissensgier in dem weitesten Bereich der gebildeten Welt und als eigentliche Aufgabe fur jeden hoher Befahigten die Wissenschaft auf die hohe See fuhrte, von der sie niemals seitdem wieder vollig vertrieben werden konnte, wie durch diese Universalitat erst ein gemeinsames Netz des Gedankens uber den gesammten Erdball, ja mit Ausblicken auf die Gesetzlichkeit eines ganzen Sonnensystems, gespannt wurde; wer dies Alles, sammt der erstaunlich hohen Wissenspyramide der Gegenwart, sich vergegenwartigt, der kann sich nicht entbrechen, in Sokrates den einen Wendepunkt und Wirbel der sogenannten Weltgeschichte zu sehen. Denn dachte man sich einmal diese ganze unbezifferbare Summe von Kraft, die fur jene Welttendenz verbraucht worden ist, nicht im Dienste des Erkennens, sondern auf die praktischen d. h. egoistischen Ziele der Individuen und Volker verwendet, so ware wahrscheinlich in allgemeinen Vernichtungskampfen und fortdauernden Volkerwanderungen die instinctive Lust zum Leben so abgeschwacht, dass, bei der Gewohnheit des Selbstmordes, der Einzelne vielleicht den letzten Rest von Pflichtgefuhl empfinden musste, wenn er, wie der Bewohner der Fidschiinseln, als Sohn seine Eltern, als Freund seinen Freund erdrosselt: ein praktischer Pessimismus, der selbst eine grausenhafte Ethik des Volkermordes aus Mitleid erzeugen konnte — der ubrigens uberall in der Welt vorhanden ist und vorhanden war, wo nicht die Kunst in irgend welchen Formen, besonders als Religion und Wissenschaft, zum Heilmittel und zur Abwehr jenes Pesthauchs erschienen ist.
Angesichts dieses praktischen Pessimismus ist Sokrates das Urbild des theoretischen Optimisten, der in dem bezeichneten Glauben an die Ergrundlichkeit der Natur der Dinge dem Wissen und der Erkenntniss die Kraft einer Universalmedizin beilegt und im Irrthum das Uebel an sich begreift. In jene Grunde einzudringen und die wahre Erkenntniss vom Schein und vom Irrthum zu sondern, dunkte dem sokratischen Menschen der edelste, selbst der einzige wahrhaft menschliche Beruf zu sein: so wie jener Mechanismus der Begriffe, Urtheile und Schlusse von Sokrates ab als hochste Bethatigung und bewunderungswurdigste Gabe der Natur uber alle anderen Fahigkeiten geschatzt wurde. Selbst die erhabensten sittlichen Thaten, die Regungen des Mitleids, der Aufopferung, des Heroismus und jene schwer zu erringende Meeresstille der Seele, die der apollinische Grieche Sophrosyne nannte, wurden von Sokrates und seinen gleichgesinnten Nachfolgern bis auf die Gegenwart hin aus der Dialektik des Wissens abgeleitet und demgemass als lehrbar bezeichnet. Wer die Lust einer sokratischen Erkenntniss an sich erfahren hat und spurt, wie diese, in immer weiteren Ringen, die ganze Welt der Erscheinungen zu umfassen sucht, der wird von da an keinen Stachel, der zum Dasein drangen konnte, heftiger empfinden als die Begierde, jene Eroberung zu vollenden und das Netz undurchdringbar fest zu spinnen. Einem so Gestimmten erscheint dann der platonische Sokrates als der Lehrer einer ganz neuen Form der» griechischen Heiterkeit «und Daseinsseligkeit, welche sich in Handlungen zu entladen sucht und diese Entladung zumeist in maeeutischen und erziehenden Einwirkungen auf edle Junglinge, zum Zweck der endlichen Erzeugung des Genius, finden wird.
Nun aber eilt die Wissenschaft, von ihrem kraftigen Wahne angespornt, unaufhaltsam bis zu ihren Grenzen, an denen ihr im Wesen der Logik verborgener Optimismus scheitert. Denn die Peripherie des Kreises der Wissenschaft hat unendlich viele Punkte, und wahrend noch gar nicht abzusehen ist, wie jemals der Kreis vollig ausgemessen werden konnte, so trifft doch der edle und begabte Mensch, noch vor der Mitte seines Daseins und unvermeidlich, auf solche Grenzpunkte der Peripherie, wo er in das Unaufhellbare starrt. Wenn er hier zu seinem Schrecken sieht, wie die Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beisst — da bricht die neue Form der Erkenntniss durch, die tragische Erkenntniss, die, um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht.
Schauen wir, mit gestarkten und an den Griechen erlabten Augen, auf die hochsten Spharen derjenigen Welt, die uns umfluthet, so gewahren wir die in Sokrates vorbildlich erscheinende Gier der unersattlichen optimistischen Erkenntniss in tragische Resignation und Kunstbedurftigkeit umgeschlagen: wahrend allerdings dieselbe Gier, auf ihren niederen Stufen, sich kunstfeindlich aussern und vornehmlich die dionysisch-tragische Kunst innerlich verabscheuen muss, wie dies an der Bekampfung der aeschyleischen Tragodie durch den Sokratismus beispielsweise dargestellt wurde.
Hier nun klopfen wir, bewegten Gemuthes, an die Pforten der Gegenwart und Zukunft: wird jenes» Umschlagen «zu immer neuen Configurationen des Genius und gerade des musiktreibenden Sokrates fuhren? Wird das uber das Dasein gebreitete Netz der Kunst, sei es auch unter dem Namen der Religion oder der Wissenschaft, immer fester und zarter geflochten werden oder ist ihm bestimmt, unter dem ruhelos barbarischen Treiben und Wirbeln, das sich jetzt» die Gegenwart «nennt, in Fetzen zu reissen? — Besorgt, doch nicht trostlos stehen wir eine kleine Weile bei Seite, als die Beschaulichen, denen es erlaubt ist, Zeugen jener ungeheuren Kampfe und Uebergange zu sein. Ach! Es ist der Zauber dieser Kampfe, dass, wer sie schaut, sie auch kampfen muss!
An diesem ausgefuhrten historischen Beispiel haben wir klar zu machen gesucht, wie die Tragodie an dem Entschwinden des Geistes der Musik eben so gewiss zu Grunde geht, wie sie aus diesem Geiste allein geboren werden kann. Das Ungewohnliche dieser Behauptung zu mildern und andererseits den Ursprung dieser unserer