Erkenntniss aufzuzeigen, mussen wir uns jetzt freien Blicks den analogen Erscheinungen der Gegenwart gegenuber stellen; wir mussen mitten hinein in jene Kampfe treten, welche, wie ich eben sagte, zwischen der unersattlichen optimistischen Erkenntniss und der tragischen Kunstbedurftigkeit in den hochsten Spharen unserer jetzigen Welt gekampft werden. Ich will hierbei von allen den anderen gegnerischen Trieben absehn, die zu jeder Zeit der Kunst und gerade der Tragodie entgegenarbeiten und die auch in der Gegenwart in dem Maasse siegesgewiss um sich greifen, dass von den theatralischen Kunsten z. B. allein die Posse und das Ballet in einem einigermaassen uppigen Wuchern ihre vielleicht nicht fur Jedermann wohlriechenden Bluthen treiben. Ich will nur von der erlauchtesten Gegnerschaft der tragischen Weltbetrachtung reden und meine damit die in ihrem tiefsten Wesen optimistische Wissenschaft, mit ihrem Ahnherrn Sokrates an der Spitze. Alsbald sollen auch die Machte bei Namen genannt werden, welche mir eine Wiedergeburt der Tragodie — und welche andere selige Hoffnungen fur das deutsche Wesen! — zu verburgen scheinen.

Bevor wir uns mitten in jene Kampfe hineinsturzen, hullen wir uns in die Rustung unsrer bisher eroberten Erkenntnisse. Im Gegensatz zu allen denen, welche beflissen sind, die Kunste aus einem einzigen Princip, als dem nothwendigen Lebensquell jedes Kunstwerks abzuleiten, halte ich den Blick auf jene beiden kunstlerischen Gottheiten der Griechen, Apollo und Dionysus, geheftet und erkenne in ihnen die lebendigen und anschaulichen Reprasentanten zweier in ihrem tiefsten Wesen und ihren hochsten Zielen verschiedenen Kunstwelten. Apollo steht vor mir, als der verklarende Genius des principii individuationis, durch den allein die Erlosung im Scheine wahrhaft zu erlangen ist: wahrend unter dem mystischen Jubelruf des Dionysus der Bann der Individuation zersprengt wird und der Weg zu den Muttern des Sein's, zu dem innersten Kern der Dinge offen liegt. Dieser ungeheuere Gegensatz, der sich zwischen der plastischen Kunst als der apollinischen und der Musik als der dionysischen Kunst klaffend aufthut, ist einem Einzigen der grossen Denker in dem Maasse offenbar geworden, dass er, selbst ohne jene Anleitung der hellenischen Gottersymbolik, der Musik einen verschiedenen Charakter und Ursprung vor allen anderen Kunsten zuerkannte, weil sie nicht, wie jene alle, Abbild der Erscheinung, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst sei und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller Erscheinung das Ding an sich darstelle. (Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung I, p. 310). Auf diese wichtigste Erkenntniss aller Aesthetik, mit der, in einem ernstern Sinne genommen, die Aesthetik erst beginnt, hat Richard Wagner, zur Bekraftigung ihrer ewigen Wahrheit, seinen Stempel gedruckt, wenn er im» Beethoven «feststellt, dass die Musik nach ganz anderen aesthetischen Principien als alle bildenden Kunste und uberhaupt nicht nach der Kategorie der Schonheit zu bemessen sei: obgleich eine irrige Aesthetik, an der Hand einer missleiteten und entarteten Kunst, von jenem in der bildnerischen Welt geltenden Begriff der Schonheit aus sich gewohnt habe, von der Musik eine ahnliche Wirkung wie von den Werken der bildenden Kunst zu fordern, namlich die Erregung des Gefallens an schonen Formen. Nach der Erkenntniss jenes ungeheuren Gegensatzes fuhlte ich eine starke Nothigung, mich dem Wesen der griechischen Tragodie und damit der tiefsten Offenbarung des hellenischen Genius zu nahen: denn erst jetzt glaubte ich des Zaubers machtig zu sein, uber die Phraseologie unserer ublichen Aesthetik hinaus, das Urproblem der Tragodie mir leibhaft vor die Seele stellen zu konnen: wodurch mir ein so befremdlich eigenthumlicher Blick in das Hellenische vergonnt war, dass es mir scheinen musste, als ob unsre so stolz sich gebardende classisch-hellenische Wissenschaft in der Hauptsache bis jetzt nur an Schattenspielen und Aeusserlichkeiten sich zu weiden gewusst habe.

Jenes Urproblem mochten wir vielleicht mit dieser Frage beruhren: welche aesthetische Wirkung entsteht, wenn jene an sich getrennten Kunstmachte des Apollinischen und des Dionysischen neben einander in Thatigkeit gerathen? Oder in kurzerer Form: wie verhalt sich die Musik zu Bild und Begriff? — Schopenhauer, dem Richard Wagner gerade fur diesen Punkt eine nicht zu uberbietende Deutlichkeit und Durchsichtigkeit der Darstellung nachruhmt, aussert sich hieruber am ausfuhrlichsten in der folgenden Stelle, die ich hier in ihrer ganzen Lange wiedergeben werde. Welt als Wille und Vorstellung I, p. 309:»Diesem allen zufolge konnen wir die erscheinende Welt, oder die Natur, und die Musik als zwei verschiedene Ausdrucke derselben Sache ansehen, welche selbst daher das allein Vermittelnde der Analogie beider ist, dessen Erkenntniss erfordert wird, um jene Analogie einzusehen. Die Musik ist demnach, wenn als Ausdruck der Welt angesehen eine im hochsten Grad allgemeine Sprache, die sich sogar zur Allgemeinheit der Begriffe ungefahr verhalt wie diese zu den einzelnen Dingen. Ihre Allgemeinheit ist aber keineswegs jene leere Allgemeinheit der Abstraction, sondern ganz anderer Art und ist verbunden mit durchgangiger deutlicher Bestimmtheit. Sie gleicht hierin den geometrischen Figuren und den Zahlen, welche als die allgemeinen Formen aller moglichen Objecte der Erfahrung und auf alle a priori anwendbar, doch nicht abstract, sondern anschaulich und durchgangig bestimmt sind. Alle moglichen Bestrebungen, Erregungen und Aeusserungen des Willens, alle jene Vorgange im Innern des Menschen, welche die Vernunft in den weiten negativen Begriff Gefuhl wirft, sind durch die unendlich vielen moglichen Melodien auszudrucken, aber immer in der Allgemeinheit blosser Form, ohne den Stoff, immer nur nach dem Ansich, nicht nach der Erscheinung, gleichsam die innerste Seele derselben, ohne Korper. Aus diesem innigen Verhaltniss, welches die Musik zum wahren Wesen aller Dinge hat, ist auch dies zu erklaren, dass, wenn zu irgend einer Scene, Handlung, Vorgang, Umgebung, eine passende Musik ertont, diese uns den geheimsten Sinn derselben aufzuschliessen scheint und als der richtigste und deutlichste Commentar dazu auftritt; imgleichen, dass es Dem, der sich dem Eindruck einer Symphonie ganz hingiebt, ist, als sahe er alle moglichen Vorgange des Lebens und der Welt an sich voruberziehen: dennoch kann er, wenn er sich besinnt, keine Aehnlichkeit angeben zwischen jenem Tonspiel und den Dingen, die ihm vorschwebten. Denn die Musik ist, wie gesagt, darin von allen anderen Kunsten verschieden, dass sie nicht Abbild der Erscheinung, oder richtiger, der adaquaten Objectitat des Willens, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst ist und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller Erscheinung das Ding an sich darstellt. Man konnte demnach die Welt ebensowohl verkorperte Musik, als verkorperten Willen nennen: daraus also ist es erklarlich, warum Musik jedes Gemalde, ja jede Scene des wirklichen Lebens und der Welt, sogleich in erhohter Bedeutsamkeit hervortreten lasst; freilich um so mehr, je analoger ihre Melodie dem innern Geiste der gegebenen Erscheinung ist. Hierauf beruht es, dass man ein Gedicht als Gesang, oder eine anschauliche Darstellung als Pantomime, oder beides als Oper der Musik unterlegen kann. Solche einzelne Bilder des Menschenlebens, der allgemeinen Sprache der Musik untergelegt, sind nie mit durchgangiger Nothwendigkeit ihr verbunden oder entsprechend; sondern sie stehen zu ihr nur im Verhaltniss eines beliebigen Beispiels zu einem allgemeinen Begriff: sie stellen in der Bestimmtheit der Wirklichkeit Dasjenige dar, was die Musik in der Allgemeinheit blosser Form aussagt. Denn die Melodien sind gewissermaassen, gleich den allgemeinen Begriffen, ein Abstractum der Wirklichkeit. Diese namlich, also die Welt der einzelnen Dinge, liefert das Anschauliche, das Besondere und Individuelle, den einzelnen Fall, sowohl zur Allgemeinheit der Begriffe, als zur Allgemeinheit der Melodien, welche beide Allgemeinheiten einander aber in gewisser Hinsicht entgegengesetzt sind; indem die Begriffe nur die allererst aus der Anschauung abstrahirten Formen, gleichsam die abgezogene aussere Schale der Dinge enthalten, also ganz eigentlich Abstracta sind; die Musik hingegen den innersten aller Gestaltung vorhergangigen Kern, oder das Herz der Dinge giebt. Dies Verhaltniss liesse sich recht gut in der Sprache der Scholastiker ausdrucken, indem man sagte: die Begriffe sind die universalia post rem, die Musik aber giebt die universalia ante rem, und die Wirklichkeit die universalia in re. Dass aber uberhaupt eine Beziehung zwischen einer Composition und einer anschaulichen Darstellung moglich ist, beruht, wie gesagt, darauf, dass beide nur ganz verschiedene Ausdrucke desselben innern Wesens der Welt sind. Wann nun im einzelnen Fall eine solche Beziehung wirklich vorhanden ist, also der Componist die Willensregungen, welche den Kern einer Begebenheit ausmachen, in der allgemeinen Sprache der Musik auszusprechen gewusst hat: dann ist die Melodie des Liedes, die Musik der Oper ausdrucksvoll. Die vom Componisten aufgefundene Analogie zwischen jenen beiden muss aber aus der unmittelbaren Erkenntniss des Wesens der Welt, seiner Vernunft unbewusst, hervorgegangen und darf nicht, mit bewusster Absichtlichkeit, durch Begriffe vermittelte Nachahmung sein: sonst spricht die Musik nicht das innere Wesen, den Willen selbst aus; sondern ahmt nur seine Erscheinung ungenugend nach; wie dies alle eigentlich nachbildende Musik thut«. —

Wir verstehen also, nach der Lehre Schopenhauer's, die Musik als die Sprache des Willens unmittelbar und fuhlen unsere Phantasie angeregt, jene zu uns redende, unsichtbare und doch so lebhaft bewegte Geisterwelt zu gestalten und sie in einem analogen Beispiel uns zu verkorpern. Andrerseits kommt Bild und Begriff, unter der Einwirkung einer wahrhaft entsprechenden Musik, zu einer erhohten Bedeutsamkeit. Zweierlei Wirkungen pflegt also die dionysische Kunst auf das apollinische Kunstvermogen auszuuben: die Musik reizt zum gleichnissartigen Anschauen der dionysischen Allgemeinheit, die Musik lasst sodann das gleichnissartige Bild in hochster Bedeutsamkeit hervortreten. Aus diesen an sich verstandlichen und keiner tieferen Beobachtung unzuganglichen Thatsachen erschliesse ich die Befahigung der Musik, den Mythus d. h. das bedeutsamste Exempel zu gebaren und gerade den tragischen Mythus: den Mythus, der von der dionysischen Erkenntniss in Gleichnissen redet. An dem

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